Kapitel 144 - Schwarze Wolken und ein Lichtschein (*2*)

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Als Phillip angetrunken in sein Zimmer taumelte, warf er sich angezogen aufs Bett. Unter seinem Kopf spürte er etwas Hartes. Unwillig brummelnd fasste er nach hinten, zog den Umschlag hervor.

Erst wollte er ihn in die Ecke feuern, dann siegte doch die Neugierde.
Er nahm das erste Blatt zur Hand.
„Das geliebte Kind" las er.

Von Sina für Phillip

Sein trunkenes Gehirn ließ ihn kichern.
Ja! Genau! Das geliebte Kind! Das geliebte Kind einer Hure! Einer billigen Hure wahrscheinlich! Eine, die Studenten sich leisten konnten! Die es wahrscheinlich ohne Kondom machte, was die Trottel von Stechern noch zusätzlich anmachte, die Trottel, die nicht damit rechneten, dass dabei vielleicht einmal ein Kind entstehen konnte, ein geliebtes Kind, so eines wie er es war!

Er lachte über seine wortspielerischen Gedanken, lachte sich in einen betrunkenen Lachkrampf, der unvermittelt in einen Tränenstrom überging.
Wütend wischte er sich die Augen trocken.
„Na, dann schaun wir mal, was die Schriftstellerin sich wieder ausgedacht hat!" sagte er laut zu sich selbst.

Er begann zu lesen. Seite um Seite führte ihn in seine Kindheit zurück, Seite um Seite ließ er es zu.
Manches, was seine Mutter aufgeschrieben hatte, hatte er schon vergessen gehabt, aber an vieles erinnerte er sich noch sehr genau.

Sein Kopf wurde immer klarer, draußen dämmerte es schon. Sein Zorn verwandelte sich in lächelnde Freude über das, was zehn Jahre lang sein Leben gewesen war.
Bei ihren letzten Worten begannen die Tränen zu laufen, und es waren keine Tränen der Wut mehr, sondern Tränen der Scham.

Er hatte die besten Menschen der Welt verletzen wollen, die, die mit Sicherheit am allerwenigsten für sein Schicksal konnten, die ihn geliebt hatten, ihn zu dem gemacht hatten, was er bis vor einer Woche noch gewesen war: Ein mehr als glücklicher Teenager!
Er hatte seiner Mutter und seinem Vater Kummer gemacht!
So hatte er ihnen gedankt für ihre Liebe!

„Nein!" rief er laut. „Du hast nicht gewonnen, du drogensüchtige Hure! Genau so wenig, wie Susanne, die Teufelin! Ihr bekommt diese Familie nicht klein!"

Er sprang aus dem Bett, duschte zum ersten Mal seit einer Woche wieder, putzte sich die Zähne und gurgelte mit Mundwasser, um den Geschmack von Alkohol loszuwerden. Er zog frische Sachen an und machte sich auf den Weg zum Elternschlafzimmer.

Er klopfte nicht, er öffnete ganz einfach die Türe.
Tom schreckte aus einem schlimmen Albtraum hoch, sah seinen Sohn, der wieder dem Sohn der letzten Woche glich.
„Guten Morgen!" sagte er leise. „Schön, dass du zurück bist!"

Seine Worte weckten Sina, die im Schlaf geweint hatte und sich erst einmal die Augen trocken wischen musste. Sie sah Phillip, streckte die Arme nach ihm aus.
Phillip warf sich hinein, klammerte sich wie ein Ertrinkender fest an seine Mutter.

„Leg dich zu uns und rede, bitte!" sagte sie leise.
Der Sohn legte sich zwischen die beiden. Eine Weile musste er wieder gegen die Tränen kämpfen, dann begann er zu sprechen, stockend erst, dann wie ein Wasserfall.
Tom hatte zum Glück frei, Sophia kümmerte sich zusammen mit Lea um die Kleinen, als sie hörte, dass Phillip bei Tom und Sina war.

„Jetzt wird alles wieder gut!" versprach die Haushälterin der großen Tochter.
„Weißt du, was los war?" fragte Lea.
„Nein, das war etwas aus Phillips altem Leben, glaube ich! Etwas, das ihn wohl sehr erschüttert hat!"

Um zehn standen die drei auf, alle hatten rotgeweinte Augen, die aber nun wieder strahlten.
„Ich wechsle die Schule!" hatte Phillip zuletzt beschlossen. „Ich kann dahin nicht zurück! Nicht als Sohn des Chorleiters!"

Tom verstand ihn. Es war eine unerträgliche Situation für einen 16jährigen. Das hätte er in dem Alter auch nicht gepackt.
„Und der Chor?" fragte Sina. „Wirst du den nicht vermissen?"
„Alles hat seine Zeit!" antwortete der Sohn mit einer neuen Weisheit in der wieder festen Stimme.

„Musik kann ich an jedem anderen Gymnasium auch machen, und alle haben einen Schulchor! Das genügt doch! Ich muss nicht reisen und die Nummer eins sein! Aber ich muss eine Familie haben!"

Sina sah Tom an, der sie wieder stolz anlächelte. Sie hatte das geschafft, sie hatte den Jungen zu ihnen zurückgeholt.
„Wir melden dich gleich heute um!" versprach er Phillip. „Wo möchtest du denn hin?"
„Zu Lea! Dann kann ich sie ein wenig nerven, so als großer Bruder!" scherzte der.

Sie ließen sich das reichhaltige Frühstück schmecken, das Sophia auftischte. Dann fuhren sie zuerst ins alte Gymnasium, erklärten ihre Pläne. Der Schulleiter hatte Verständnis, war sogar etwas erleichtert, wenn er Phillip auch ungern verlor als Schüler und Musiker.

Im Goethegymnasium wurden sie freudig empfangen, der Sohn ihres ehemaligen Starschülers sollte nun neben der Tochter auch das altehrwürdige Gymnasium besuchen.
Es war gerade kleine Pause, Phillips Augen flogen von einem hübschen Mädchen zu anderen.

Sina grinste Tom an. „So wirst du damals auch geschaut haben!" zog sie ihn auf.
Er drückte sie an sich. „Das kannst du annehmen!"
Lea entdeckte die Familie. „Was macht ihr denn hier?" fragte sie überrascht.
„Phillip wird ab morgen hier zur Schule gehen!" erklärte Tom.

„Wow! Alter! Super! Krass!" jubelte sie und schlug ihren Bruder ab.
Sina bluteten ganz leicht die Ohren bei dieser Sprache.
Na, wenigsten hat sie nicht geil gesagt! dachte sie.

„Hey! Das ist voll geil!" hängte Lea noch an.
Tom lachte, als er den schmerzverzerrten Gesichtsausdruck seiner kleinen Krabbe sah.

Lea bemerkte ihn auch. „Sorry, Mama! Ich meine, ich freue mich außerordentlich darüber, dass mein wahnsinnig gutaussehender Bruder meine Schule besuchen wird!" sagte sie lachend.
„Na also! Geht doch!" Sina war zufrieden.

Leas Freundinnen hatten den hübschen Jungen schon bemerkt. Wie zufällig schlenderten sie an der Gruppe vorbei. Phillip lächelte sie an. So eine gemischte Schule hatte schon auch etwas!
Doch dann dachte er an Zoe.
Er hatte in der letzten Woche ihre Anrufe immer weggedrückt, er glaubte sich auch zu erinnern, dass er ihr im Suff „Lass ich mich in Ruhe!" getextet hatte.

Er würde sie heute anrufen, würde versuchen, ihr alles zu erklären. Aber so eine Fernbeziehung war schon auch schwierig, das gab er sich gegenüber offen zu. Dafür waren sie wohl beide noch zu jung!

„Einen Penny für deine Gedanken!" meinte Tom, der den Jungen beobachtet hatte.
Phillip grinste seinen Vater, seinen einzigen Vater an. „Ich habe gerade an Zoe gedacht! Alles erscheint mir so weit weg!" gestand er.
„Du bist 16! Vergiss das nicht!" erklärte Tom. „Niemand erwartet in dem Alter eine Verlobung von dir."

„Dann ist es ja gut!" meinte Phillip.
„Verdammt viele hübsche Mädchen hier, oder?" zog Tom ihn auf.
„O ja!" stimmte Phillip zu.

Dann fuhren die drei zu einem schrecklich ungesunden, aber sehr gut schmeckenden Mittagessen in den Burger-Laden.
Phillip war einfach nur glücklich und sah, dass seine Eltern es auch waren.
Ja, das war sein Leben, und hier gehörte er auch hin! dachte er, während er die zweite Portion Pommes verdrückte.

Georg war kurz geschockt, als er von Phillips Weggang erfuhr. Das hatte er nicht gewollt, dass die Schule und der Chor den hochbegabten Jungen verloren!
Hätte er sich nur besser in Griff gehabt!

Er hatte einen Sohn und durfte ihn nicht haben! Aber er nahm das als Strafe für seine Ausschweifungen als junger Mann, für seine Unvernunft!
Doch andererseits, wenn er nicht so unvernünftig gewesen wäre, gäbe es diesen Prachtburschen nicht.

Gottes Wege waren wohl doch immer etwas verworren und unverständlich.
Er verschloss die Liebe zu diesem Jungen tief in seinem Herzen und machte seinen Job, so gut es ihm möglich war.


Es lohnt sich zu kämpfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt