Kapitel 14 - Freitag, 5.8. (*4*)

35 3 22
                                    


Sina gab sich einen Ruck, nahm das Handy zur Hand, wählte Susannes Nummer.
„Hallo, Sina! Na, genießt du deine Ferien?"
„Ja, danke! Das Wetter passt ja!"
„Was treibst du denn den ganzen Tag?"

Wenn ich dir das sage, Schwester, fällst du in Ohnmacht! dachte sie.
Lachen drang von unten herauf. „Was sind denn das für Stimmen?" fragte Susanne.
„Ach, die Nachbarn feiern ein bisschen!"
„Willst du nicht mal wieder zu uns kommen? Wir haben immer ein wenig schlechtes Gewissen, seit Max dich verlassen hat!"
„Susanne, Max hat mich nicht verlassen, ich habe ihn hinausgeworfen und zwar mit großer Freude und Erleichterung!"
„Ja, ist ja egal, wie du es nennst, aber du bist halt so alleine! Das tut uns so Leid!"
„Ich bin nicht alleine, Susanne! Ich habe Freunde und Freundinnen und Nachbarn, die mich mögen!"
„Aber keinen Mann!"

Da ritt Sina der Teufel. „Ach, Susanne, ich habe jede Menge Männer, seit Max weg ist! Ich hole jetzt erst einmal meine Jugend nach, die Max mir geklaut hat!" Lebe angeblich so, wie du damals gelebt hast, große Schwester! dachte sie
Susanne war sprachlos. „Was meinst du jetzt genau? Dass du mit wildfremden Männern schläfst, um dir etwas zu beweisen?"
„Na ja! Wildfremd sind Männer ja nicht, mit denen man schläft, oder?" Du müsstest das ja wissen!

Susanne hatte es selbst ordentlich krachen lassen, bevor sie Stefan kennengelernt hatte. Gleichzeitig hatte sie Sina immer wieder erzählt, dass sie bei Max bleiben müsste, weil er so ein netter Kerl war!
„Aber du passt auf dich auf, ja, Kleine?"
„Klar! Immer nur mit Kondom! Keine Angst!"
Susanne kam das Gespräch langsam etwas skurril vor. Veräppelte die Schwester sie?
„Sag mal, geht es dir gut? Ist alles okay mit dir?"
„Ja, Susilein, alles bestens!" Sie wusste, dass die Schwester es hasste, wenn ihr Name so verunstaltet wurde.

Aber eine Frage musste noch aus ihrer Seele, eine Frage, die sie eigentlich seit zehn Jahren quälte.
Sie hatte sie nie gestellt, hatte immer ein wenig Angst vor der besserwisserischen Schwester gehabt.
Hatte überhaupt vor vielem Angst gehabt, bevor sie Tom getroffen hatte.

Doch heute hatte sie den Mut dazu, diese Frage zu stellen.
„Du, Susanne, weißt du, was mich wirklich einmal interessieren würde? Warum hast du mich eigentlich damals gar so vehement gedrängt, bei Max zu bleiben?"
„Er war halt ein netter Kerl!"
„Max? Du konntest doch überhaupt nichts mit ihm anfangen!"
„Aber er war so verliebt in dich!"
„Aber ich war nicht verliebt in ihn! Nie!"

Sie dachte an die Zeit vor zehn Jahren zurück. Ihre Eltern hatten sich relativ neutral verhalten, Patrick hatte offen gegen Max gewettert, aber Susanne hatte ihn ihr so schmackhaft zu machen versucht, dass es schon an Besessenheit gegrenzt war.

Nach dem Krankenhausaufenthalt hatte sie die Eltern überredet, den beiden die Einliegerwohnung zur Verfügung zu stellen, damit sie ihr eigenes kleines Liebesnest hätten.
Sina hatte damals nicht gewusst, wie ihr geschah! Sie wollte bei ihren Eltern bleiben, wollte noch die kleine Tochter sein, hockte mit einem knapp 18jährigen in einer Kellerwohnung, traf nur noch seine Freunde.
Patrick war schier durchgedreht! „Sie ist 16! Minderjährig! Das könnt ihr nicht machen!" schrie er seine Eltern an.

Aber Susanne hatte Gehirnwäsche betrieben bei den Eltern. Sie waren überzeugt, Max wäre die große Liebe Sinas. Das alles schoss ihr in Sekunden durch den Kopf, sie hatte das alles eigentlich verdrängt gehabt.
Und urplötzlich kam ihr aus den hintersten Windungen ihres Gedächtnisses ein Satz in den Sinn, den Patrick ihren Eltern entgegengeschleudert hatte: „Merkt ihr denn nicht, dass sie sich nur die Konkurrenz aus dem Weg schaffen will?"

Damals hatte sie gedacht, er meinte die Konkurrenz der Schwestern um die Liebe der Eltern.
Aber plötzlich keimte ein fürchterlicher Verdacht in ihr.
„Warum, Susanne? Sag mir die Wahrheit! Warum musste ich meine halbe Jugend in einer Kellerwohnung sitzen, mit einem unreifen Jungen, den ich nicht liebte? War ich dir im Weg? Musste ich deshalb einen festen Freund haben, auf Biegen und Brechen?"

Susanne schwieg zu lange, um Sinas Verdacht noch entkräften zu können.
„Du hast mich als Konkurrentin bei den Männer gesehen, die du abgeschleppt hast!" Das war keine Frage, das war eine Feststellung, und dieses Wissen nahm ihr jede Kraft!

„Du warst so verdammt hübsch! Du warst so verdammt unschuldig! Mit deinen blauen Augen hast du die Jungs angeschaut, die zu mir wollten, und danach waren sie nicht mehr an mir interessiert! Haben mich nur immer nach meiner Schwester ausgefragt! Da warst du 14/15! Ich war froh, als ich dann endlich sagen konnte, dass du sehr verliebt und in absolut festen Händen bist!"

Susanne war sich noch heute keiner echten Schuld bewusst. Sie selber sah zwar nicht schlecht aus, aber gegen das kleine Püppchen hätte sie ihr Leben lang verloren! Und so schlecht war Max nun auch wieder nicht für sie gewesen!
Und jetzt hatte sie sich in den Kopf gesetzt, sich scheiden zu lassen, und weiß Gott, ob Stefan die Augen dann vor der Kleinen lassen könnte!

Über Sina brach das Firmament zusammen, die Erde brach in Stücke.
Sie bekam kaum Luft, wollte nicht glauben, was sie gehört hatte, musste es aber!
Und plötzlich gewann ihr Stolz, der Stolz, den Tom ihr eingepflanzt hatte mit seiner Liebe.
Sie würde nicht heulen, nicht schreien, nicht die verzweifelte Sina sein. Sie würde zurückschlagen!

„Ach, übrigens, Susanne, ich habe dich angeschwindelt! Ich ahme nicht meine große Schwester nach und hure mich quer durch die Stadt. Ich habe es nämlich nicht nötig, in so vielen Betten wie möglich mein Selbstwertgefühl aufzubauen! Aber ich lebe seit ein paar Tagen mit einem wunderbaren Mann zusammen! Du kannst also deinem Stefan mit den Glupschaugen ausrichten, dass ich sehr verliebt und in absolut festen Händen bin!"
Das war jetzt boshaft, aber angemessen! Stefan hatte nicht nur Glupschaugen, er hatte auch Grapschhände entwickelt, seit sie solo war! Sie legte grußlos auf.

Tom! schrie ihr Herz.
Ich brauche dich jetzt!
Ich muss mit dir reden!
Du musst mir helfen, diesen Schmerz aus meinem Herzen zu bekommen!
Heute musst du mich trösten!
Sie sah auf die Uhr!
Elf!
Aber sie konnte ihn nicht anrufen!
Er musste Leben retten, da konnte sie auf keinen Fall anrufen!


Es lohnt sich zu kämpfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt