Kapitel 133 - Susanne

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Die ersten beiden Jahre bis 2004 dämmerte Susanne, zugedröhnt mit Tabletten vor sich hin. Sie wusste nie, ob Tag oder Nacht war, ob sie Hunger hatte oder Durst, ob sie am Leben war oder tot.

Dr. Münster versuchte, an sie heranzukommen, scheiterte jedes Mal.
Er probierte verschiedene Medikationen aus, ohne Erfolg. Weder Musik-, noch Duft- noch Lichttherapien holten die Patientin aus ihrer Agonie zurück.

Doch langsam, ganz langsam kämpfte sie sich stundenweise ins Leben zurück. Nach einem halben Jahr konnte sie selbstständig aufstehen, zur Toilette gehen, in den Speiseraum. Sie aß täglich ein wenig mehr, kam langsam zu Kräften.

Von ihrem ersten wachen Moment an loderte der Hass auf Sina, die ihr Leben zerstört hatte, wieder auf.
Aber instinktiv fühlte sie, dass sie darüber mit niemandem sprechen durfte. So spaltete sie sich auf. In Gegenwart von Ärzten, Schwestern und Patienten war sie die Nachgiebige auf dem Weg der Besserung, alleine im Zimmer die Hasserfüllte mit Plänen im Kopf für Sinas Vernichtung.

Dr. Münster freute sich, endlich einen Durchbruch erzielt zu haben, auch wenn es langsam vorwärts ging. Ein Jahr später konnte sie wieder lesen, saß manches Mal im Aufenthaltsraum, blätterte in Zeitungen und Zeitschriften. Immer wieder tauchten Artikel auf über Sina und Tom. Sie riss alles heraus, versteckte die Artikel in ihrem BH.

In ihrem Zimmer entfernte sie vorsichtig das Innere von Seiten der Bibel, klebte mit Marmelade die Artikel ein, prüfte, dass auch von außen nichts zu sehen war. Sie hatte weder Zugriff auf eine Schere, noch auf Kleber. Anstatt eines Spiegels hing im Badezimmer nur eine spiegelnde Plastikscheibe. Immer wieder gab es Überprüfungen ihres Gesundheitszustandes, sie markierte jedes Mal einen Rückfall.

Ihre Eltern kauften teure Kleidungstücke für sie, ließen Geld bei den Schwestern, die es sorgfältig verwahrten, sie in lichten Momenten auch informierten, wieviel Geld sie zur Verfügung hätte, falls sie etwas wünschen sollte. Besuch durfte sie nicht empfangen, sie hatte auch kein Bedürfnis danach, alle standen sowieso auf Sinas Seite. Drei Jahre (2009) lang arbeitete sie daran, die perfekte Patientin zu sein.

Sie besuchte Töpferkurse, Malkurse. Doch Dr. Münster traute irgendwie dem Frieden nicht. Er war dafür, Susanne dauerhaft in der Klinik zu lassen, sie war seiner Meinung nach eine tickende Zeitbombe. Immer, wenn er sie auf die Schwester Sina ansprach, sah er den Zorn in ihren Augen aufflackern, wenn auch ihr Mund lächelte, wenn sie auch erzählte, wie sehr sie ihr Verhalten bedauerte, wie sehr sie die Schwester heute liebte und um Verzeihung bitten wollte.

Nach zwei weiteren Jahren (2011) wagte er es, sie ohne Aufsicht in den umzäunten Garten der Forensik zu lassen. Dort traf sie Ingo.
Ingo saß seit zwei Jahren in der geschlossenen Abteilung ein, machte einen Entzug, war schwer heroinabhängig, hatte einen Kleindealer schwer misshandelt, weil der ihm keinen Stoff auf Pump geben wollte.

 Dope war in der Stadt immer schwerer zu bekommen, und die Preise stiegen horrend. Schuld daran war dieser Verein Kids Health.

Ingo sah die ausgemergelte Frau alleine mit der Bibel in der Hand auf einer Bank sitzen. Sie schien teuer gekleidet zu sein, vielleicht war da etwa zu holen, er hatte Quellen für Heroin aufgetan, die es auch hierherein schmuggeln konnten, aber keine Kohle. Wenn er vorsichtig dosierte, würde es auch den Ärzten nicht auffallen.

„Hallo, meine Schöne!" begrüßte er Susanne nach ein paar Tagen, an denen er Blickkontakt aufgenommen hatte, ein vorsichtiges Lächeln versucht hatte. „Ist der Platz neben dir noch frei?"
Susanne sah ihn an. Der hübsche Mann, der sie Schönheit genannt hatte, flirtete schon ein paar Tage mit ihr.
„Ja, bitte!"

Sie kamen ins Gespräch, er wagte sich jeden Tag weiter vor, erzählte ihr, dass er auf Entzug sei, die Kassen aber die Ersatzmedikamente aber nicht bezahlten, er deshalb fürchterliche Qualen litt. Er hätte Quellen, die ihm die Tabletten verschaffen könnten, aber man ließ ihn nicht an sein Geld.

Es lohnt sich zu kämpfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt