Brief 315

405 30 0
                                    

Michelle ist da, Peter, stell dir das vor, Michelle ist da. Sie hat vorher geklingelt, trinkt jetzt in der Küche noch was. Ich sitze wieder auf der Toilette, als ob ich nicht schon genug hier gewesen wäre. Ich habe Angst. Sie will mit mir irgendwo hin. Ich kann nicht, ich kann es ihr nicht sagen. Ich - ich habe Angs es laut zu sagen - wenn es ausgesprochen ist, dann ist es definitiv, dann kommt Werner nicht mehr. Ich spüre das, tief in mir drin, ich darf es nicht sagen, ich - ich darf es noch nicht sagen. Noch ist es nicht wahr, noch geht es Werner gut - ich will nichts anderes hören, das würde mich. Scheisse. Ich verliere mich. Ich bin noch da, ich starre in den Spiegel, schaue mir in die Augen, ein Schleier, ein Glas zwischen mir und mir, ich schaue mich an. Ich lächle nicht, ich weine nicht mehr. Ich wische mir die Tränen weg. Ein paar Striche, Abdeckungscreme, Mascara, Tusche, Konturen nachziehen, Augenringe übermalen. Lügen, eine Maske anziehen, das Lächeln, die Winkel in den Wangen wie kleine Falten andeuten. Ich bin ein Profi. Ich lächle, ich muss. Ich lebe, ich muss. Keiner soll mir Fragen stellen. Haare nachkämmen, zwei Haargummis an das Handgelenk. Ich bin bereit für alles was kommen mag, nur noch eine kleine Puderwolke, zwei Spritzer Parfum, hier ist Maya. Schau sie dir an, wie sie im Licht der kärglichen Spots lächelt. Hier sitzt sie wieder auf der Toilette, will kotzen, sich selber wieder aufgeben, die Maske ablegen. Mundspülung, jetzt bin ich bereit. Finden wir heraus, wo Michelle mich unbedingt hinnehmen muss. Finden wir es heraus. Und kein Wort über Werner, der wird heute Abend wieder hier sein. Sicher. Ich weiss es.

Ich bete, weinen darf ich nicht mehr. Mist.

Briefe vom MarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt