Zu spät

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JUS POV:

Der Anruf weckte mich unsanft aus dem Schlaf. Ich rieb mir die Augen und suchte mit der anderen Hand blind nach meinem Handy auf der Bettdecke. Ohne auf den Anrufer zu gucken, hielt ich es mir ans Ohr.

"Hallo?" Meine Stimme klang tief und rau, fast ein bisschen heiser. Hoffentlich hatte ich mir gestern keine Erkältung eingefangen.

"Ju? Sie haben mich gefunden!" Mein Kopf klärte sich schneller als ich den Namen der Person an der anderen Leitung denken konnte.

"Wer hat dich gefunden? Was ist los?" Ich stützte mich mit meiner freien Hand an der Matratze ab und setzte mich auf.

"Diese Leute von der Geiselnahme in meinem Heim! Sie haben mich angerufen und jetzt können sie mich orten, weil ich den Anruf angenommen habe!" Ihre Stimme zitterte und sie sprach auch noch so leise, alles in allem konnte ich sie kaum verstehen.

"Wo bist du?", fragte ich und bemühte mich, meinen Tonfall ruhig und sicher zu halten.

"Auf dem Weg zu Bahnhof", antwortete sie. "Ich komme zu dir, okay? Ich versuche, mit dem Zug dorthin zu kommen!"

"Nein, warte!", unterbrach ich sie.

"Ju, ich kann nirgendwo anders-", ich hörte ein unterdrücktes Schluchzen durch die Leitung.

"Ich bin noch in Frankfurt!", unterbrach ich sie. "In einem Hotel, zehn Minuten von deiner Akademie entfernt. Aber bist du dir sicher, dass-"

"Ja verdammt, mehr als sicher, so sicher, dass ich unfassbare Angst habe! Wie komme ich da hin?" In ihrer Stimme schwang nun auch ein Funken Hysterie mit.

"Du kommst da gar nicht hin, wir treffen uns am Bahnhof. Gleis 3. Woher weißt du, dass es genau diese Leute waren? Haben sie dir das gesagt, oder was?"

"Nein, ich... es war nur eine Andeutung... ich weiß es einfach. Ju, ich muss hier weg, so schnell wie möglich!" Der bittende Unterton war nicht zu überhören. Ich atmete aus.

"Bis gleich", sagte ich.

"Okay. Ich liebe dich", antwortete Marie und ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie schon aufgelegt.

"Ich liebe dich auch", flüsterte ich gegen das Tuten aus dem Telefonhörer an.

MARIES POV:

"Ich muss hier weg, so schnell wie möglich", äffte der Mann mich mit einer viel zu hohen und quietschigen Stimme nach und lachte, während er mich in seinen Schatten rückte und weiter in die Seitenstraße drängte.

"Lassen sie mich los! Weg von mir!" Ich versuchte, unter seinen Armen, die meine Unterarme fest umfassten, durchzutauchen, meine Handgelenke so zu verdrehen, dass er sie loslassen musste und so schnell ich konnte weg zu rennen, doch seine eisige Stimme und die Worte, die sie ausdrückte ließen mich für einen Moment zusammen fahren und vergessen, wie ich atmete.

"Es ist zu spät. Du wirst ihn nie wieder sehen." Eine Hand löste sich von mir und zog etwas aus der Jackentasche des Mannes. Es war ein Handy. Er drehte das Display zu mir und gerade, als ich begriffen hatte, dass nur noch eine Hand mich am wegrennen hinderte, da erkannte ich die Person, die auf dem Display zu sehen war. Mir gefror das Herz zu Eis, mein Kiefer klappte hinunter.

"Komm mit oder er wird sterben." Die Stimme meines Gegenübers war so ausdruckslos und kalt wie die Betonwände der Häuser um uns herum, die immer näher zu rücken schienen. Ich wollte die Hand heben und sie auf das Display legen, über Jus Körper streichen, der in Großaufnahme dort zu sehen war, doch mir versagte die Kontrolle über meine Arme. Ju hatte seine Arme um mich geschlungen und meine Lippen berührten fast die seine. Meinem Hals entwich nur ein kurzer Laut, der sich wie ein verschwommenes "Nein" anhörte.

"Was?", fragte der Mann dunkel. Als ich zu ihm aufsah, zog er eine Augenbraue hoch. Ich konnte nicht mehr tun, als zu nicken und den Klos in meinem Hals so gut es ging herunter zu schlucken, auch wenn mir das beinahe die Luft abschnürte.

"Ich komme mit", presste ich erstickt heraus. Eine Sekunde später wurde ich ruckartig durch die Straße gezogen.

JUS POV:

Ich erwartete schon fast, gegen Marie zu stoßen, als ich die Treppen hinauf sprintete. Doch der Bahnsteig war leer. Ein Obdachloser schlief auf einer Bank, neben ihm sein Hund, sonst war niemand bei Gleis 3. In mir machte sich schon jetzt Unruhe breit, da Marie deutlich näher am Bahnhof hätte gewesen sein müssen. Dennoch konnte ich mich selbst davon überzeugen, wenigstens noch ein paar Minuten zu warten, bevor ich komplett in Panik geriet. Eine Minute verging, dann zwei. Ich hatte meinen Blick fest auf die Treppe gerichtet, über die sie auf den Bahnsteig kommen müsste. Drei Minuten. Vier. Fünf. Ein Zug kam. Ein paar Leute stiegen aus, allesamt gingen sie direkt zum Ausgang. Keiner von ihnen sah mich auch nur an. Sieben. Meine Geduld wurde von der Sorge um Marie überrannt. Ich griff nach meinem Handy, um sie anzurufen. Freizeichen. Es summte einmal... zweimal... dreimal... viermal... Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Bitte versuchen sie es spä- Ich legte auf und spuckte innerlich Flüche. Mein Herz pochte, als ich erneut anrief. Freizeichen, Summen... Der T-

"Fuck", schrie ich auf, bevor ich mich beherrschen konnte. Der Hund des Obdachlosen gab einen Laut zwischen Bellen und Jaulen von sich. Ich warf ihm einen Blick über die Schulter zu. Er hatte sich tiefer unter seine Hundedecke geschoben und seine Nase mit den Pfoten bedeckt.

"Entschuldigung", murmelte ich dem Hund noch zu, dann rannte ich die Treppen hinunter und auf dem schnellsten Wege aus dem Bahnhof. Mir fiel zum ersten Mal wirklich auf, dass es ernst war. Dass war keine von Maries Paranoia, kein Spiel und kein Versehen. Das hier war vollkommen echt. Im Nachhinein schämte ich mich dafür, dass ich Marie nicht schon von Anfang an geglaubt hatte bei der Sache mit ihrem alten Heim und der Geiselnahme dort.

Wenn du alles aufgeben würdest... (Julien Bam FF FanFiction) (Zum Teil Apecrime)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt