MARIES POV:
"Du fühlst dich alleine", flüsterte ich zwischen zwei Atemstößen, während mir Tränen aus den Augen quollen. "So, als hätte dich jemand in einem fremden Land zurück gelassen. Du hast das Gefühl, die Sprache der anderen nicht mehr zu verstehen." Ich spürte Aylin an meiner Schulter nicken. Sie gab mir das Gefühl, etwas richtig zu machen. Und diese Bestätigung war das schönste Gefühl, was ich mir für mich in der nächsten Zeit vorstellen konnte. Ich machte weiter. Versank. Redete.
"Diese eine Person, die einfach weg ist... nachts flüsterte sie dir Dinge ins Ohr und du kannst nicht schlafen. Du hast das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. All' die Dinge, die du falsch gemacht hast, kommen plötzlich wieder in dein Bewusstsein." Ich redete und weinte wie ein Wasserfall.
"Ich habe ihm gesagt, dass er sich mal wie ein normales Kind benehmen soll und nicht, als wäre er in meinem Alter. Und dass er komisch ist. Und dumm. Und-... dass ich lieber einen normalen Bruder hätte", schluchzte Aylin und krallte ihre Hände in meine Seiten. Ich zuckte nicht. Schmerz. Schmerz war ich gewohnt.
"Beschmutzt. Verdorben", zischte ich und bemerkte erst viel zu spät, wie ich mich gehen ließ. "Keine Ahnung, wie du jemals wieder einer Person so etwas schenken könntest, ohne daran zurück zu denken."
"Was schenken?" Aylin hatte den Atem angehalten. Ich registrierte, wie angespannt ich war. Nein, nicht angespannt, verkrampft. Was hatte ich gesagt?
"Hat dein Bruder dir...?", fragte sie weiter. Meine Finger begannen, wieder Kontakt zu meinem Gehirn aufzunehmen, allmählich spürte ich meine Gliedmaßen wieder, meine Zunge als letztes und sie fühlte sich schwer wie Blei an, viel zu schwer, um sie zu bewegen.
"Nico...", stotterte ich.
"Wer ist Nico?", fragte Aylin und schniefte. Es war offensichtlich, das sie gerade damit kämpfte, ihr Weinen zu unterdrücken. "Und was hat Dan dir denn angetan, wenn dieser Nico... Hat Dan deinen Bruder-"
"Nein, nein", schnitt ich ihr das Wort ab. "Nur, er..." Ich zögerte. Einerseits fragte ich mich, ob ich ihr das wirklich erzählen wollte. Eigentlich mochte ich sie kaum. Und dieser Moment, den wir teilten, ich wusste nicht, wie lange wir schon hier drin saßen, war doch kaum genug, um meine Meinung über sie zu ändern, oder? Mein anderer Zweifeln bestand darin, ob Aylin es vertragen würde, so etwas zu hören. Diesen verwarf ich jedoch schnell wieder. Sie hatte schon so viel durchgehalten. Und selbst wenn, war es jetzt sowieso schon zu spät. Ich holte tief Luft und erzählte.
Alles.
Vom bitteren Anfang, meinen Eltern, meinem Bruder, über Nico und Dan, Nele und schließlich auch über Ju. Was mich verwunderte, war, dass sie kein einziges Mal versuchte, mich auszulachen, selbst, wenn ich von schönen Momenten erzählte, besonders von meinem Retter. Aylin saß einfach nur da und lauschte. Still. Und als ich dann fertig war, da hörte ich ein Kratzen an der Tür. Schritte. Immer leiser. Jemand hatte mitgehört.
JUS POV:
"Haben sie ein Foto von ihr?", fragte der Polizist.
"Äh...", ich scrollte durch mein Handy nach einem Bild und fand nur ein einziges brauchbares: Der Abend, bevor sie in aller Frühe nach Frankfurt gefahren war. Mit beinahe zitternder Hand hielt ich es ihm hin. Er nickte.
"Dürften wir uns das ausdrucken?", fragte er. Natürlich bejahte ich. Mein einziger Gedanke in diesem Moment war, dass sie Marie finden mussten, egal, ob sie nun von diesen "Leuten" entführt oder irgendwo anders war. Der Polizist nahm mir mein Handy weg und schloss es an einen PC, kurz darauf drückte er es mir wieder in die Hand.
"Die Angaben sind korrekt?" Er zeigte auf das Blatt Papier, welches auf dem Tresen lag. Ich warf noch einen schnellen Blick darauf. Name, Geburtsdatum, letzter Kontakt, ich konnte keinen Fehler erkennen. Also nickte ich.
"Gut, wir melden uns dann, wenn wir Neuigkeiten haben." Der Polizist drehte sich um und ging hinter den Tresen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich realisierte, was er gesagt hatte.
"Bitte, was? Wenn sie NEUIGKEITEN haben?" Mein Stimme klang scharf, überrascht und verzweifelt gleichzeitig. Bis dahin wusste ich noch nicht einmal, dass das überhaupt möglich war.
"Hören Sie...", begann mein Gegenüber. "Ihre Freundin ist nicht das einzige, was bei uns auf dem Schirm steht. Sie wird erst seit einigen Stunden vermisst."
"Ich weiß, aber was sie gesagt hat-"
"War eine Vermutung. Das haben sie doch selbst so berichtet. Am besten, sie versuchen weiter nach ihr zu suchen, rufen vielleicht ein paar Freunde an-"
"DAS HAB ICH DOCH SCHON!" Dieses Mal unterbrach ich ihn. Ich hatte es satt, dass er mich nicht ernst nahm. "Und die Sache mit dieser anderen Marie, die fast entführt worden wäre, dass ich die vermutete Täterin sogar kannte, was ist das? Nur ein weiterer kleiner Fall in ihrer riesigen Liste?" Ich war mir sicher, dass das langsam an Beamtenbeleidigung oder Missachtung grenzte, doch ich hatte die Worte nicht stoppen können.
"Und was sollen wir ihrer Meinung nach jetzt tun?", fragte der Polizist. Er schien doch sichtlich gelassener mit der Situation umzugehen, als ich erwartet hätte. Ich hoffte für ihn, dass so ein Ausraster, wie der meinerseits gerade für ihn nicht zum Alltag gehörte. Mit diesem Gedanken wurde meine Stimme wieder etwas beherrschter. Die Worte... leider nicht.
"Keine Ahnung", antwortete ich. "Sie sind hier die Ermittler!" Er atmete tief ein und aus, zog dabei die Augenbrauen hoch und fuhr sich durch die Haare.
"Es tut mir wirklich sehr leid, aber wir haben zu wenig Anhaltspunkte...", begann er. Doch in diesem Moment begann das Telefon, zu klingeln. Der Polizist nahm ab. "Höpfer, Polizei?... Moment, diktieren sie mir das, bitte!..." Er kritzelte ein paar Buchstaben auf ein kleines Blatt Papier. "Wir sind gleich da." Er knallte den Hörer auf das Telefon und rief laut in Richtung der offenen Tür in seinem Rücken: "Wir brauchen zwei Transporter!" Dann drehte er sich wieder zu mir. "Ich glaube unsere Situation hat sich soeben verändert."
Ich war meinerseits komplett verwirrt. "Wie? Was? Wieso?" Mehr brachte ich nicht heraus, als auch schon eine Frau aus einem Nebenraum auftauchte und mich am Arm griff.
"Kommen sie bitte mit", sagte sie und zog mich fort.
DU LIEST GERADE
Wenn du alles aufgeben würdest... (Julien Bam FF FanFiction) (Zum Teil Apecrime)
FanfictionWenn man es genau nimmt, ist Marie so gut wie tot. Doch sie zeigt es nicht. Ihre Panik verschwindet in der Nacht und den leeren Gassen, in denen man ihre Schreie nicht hören würde. Aber plötzlich ist Marie in der Nacht nicht mehr allein. Ihr halbtot...