MARIES POV:
Ich hörte, wie Aylins Atem ruhiger wurde, mit der Zeit schien ihre Wut ein wenig verraucht zu sein.
"Ich frag' mich immer nur, wen sie da gesucht haben. Eigentlich ist sein Leben ja demjenigen verschuldet", flüsterte sie, die Stimme kalt und trocken, fast emotionslos. Ich schluckte und hoffte, dass sie das nicht gehört hatte. Ich. Ich war das gewesen. Nach mir hatten sie gesucht. Das war verdammt nochmal. Alles. Meine. Schuld. Ich spürte, dass ich kurz davon war, auszurasten. Das Blut in meinen Adern kochte, ich wollte aufspringen, schreien, meinen Kopf gegen die Wand schlagen. Irgendetwas, damit ich das Bewusstsein, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben, verschwimmen lassen konnte. Doch ich blieb still. Und drückte alles in mich hinein.
"Die Kette, die hat mein Bruder mir geschenkt", sagte Aylin. Erst wusste ich nicht, was sie meinte, doch dann erinnerte ich mich an das Häufchen an Metallringen, welches ich in meiner Jackentasche verwahrte. Ich nickte, bis mir auffiel, dass sie mich nicht sehen konnte. Also schwieg ich einfach. Wieso musste sie mir das so unter die Nase reiben? Konnte es sein, dass sie- Nein, das glaubte ich nicht. Warum sollte Aylin mich nicht abgrundtief hassen und töten wollen, wenn sie wusste, dass das alles mein Verdienst war?
"Seit er gestorben ist, fühlt sie sich nur noch eiskalt auf meiner Haut an. Fast so, als wäre sie mit ihm gegangen." Ein Schauder lief mir über den Rücken, während sie weiter sprach. Es kam mir zu privat vor, was Aylin da erzählte. Als würde sie mit sich selbst sprechen. Als wäre das alles nicht für meine Ohren bestimmt. Und doch war ich neugierig. Wollte mehr hören. Deswegen blieb ich still. Jetzt war ich es, die schwieg und ihr dabei zuhörte, wie sie die Phasen der Trauer durchlief. Aber auch sie blieb still. Kein Wort drang mehr zwischen ihren Lippen hervor. Ich wünschte, ich hätte in ihren Kopf sehen können. Ich wollte ihr helfen. Ich wollte das tun, was für mich nie getan wurde.
"Was fühlst du?", fragte ich leise und gab Aylin somit die Möglichkeit, einfach zu denken, sie hätte sich die Worte nur eingebildet. Doch sie antwortete wirklich.
"Ich weiß nicht. Zum ersten Mal wird mir wirklich bewusst, was passiert ist." Wie schon zuvor lag kein Gefühl in ihrer Stimme, das ich identifizieren konnte. Als wäre alles in ihr taub.
"Du warst bei seiner Beerdigung, oder? Deswegen warst du nicht in den Kursen.."
"Ja." Eine einzige, kurze herausgepresste Silbe, abgehackt und zitternd. Das Fass würde überlaufen, wenn ich noch weiter stocherte.
Ich holte Luft und wollte etwas sagen, setzte gerade an, da schrie sie mir entgegen: "Jetzt hör doch endlich auf! Merkst du nicht, dass es mir nicht besser geht? Hör verdammt nochmal auf! Du wirst niemals wissen, wie ich mir fühle!"
"Du bist im Unrecht. Weinen macht alles besser. Und ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst." Das auszusprechen war so hart ihr gegenüber. Es war so unendlich gemein und unsensibel, dass ich mich selbst in ihrer Lage wahrscheinlich am liebsten auf der Stelle erwürgt hätte.
"Ach ja?", brüllte Aylin mich an. Ich spürte ihren warmen Atem in meinem Gesicht. "Was hast du denn schon erlebt? Hat dir dein Loverboy mal etwas NICHT spendiert, oder was?" Ein entsetztes Keuchen entfuhr meiner Kehle und etwas Wut stieg in meinem Hals auf.
"Nein", sagte ich, bemüht ruhig. "Mein Bruder ist auch tot. Und im Grunde ist jemand anderes dafür verantwortlich!" Ich dachte an den Kostümfetzen, der von der Gruppe vor uns gewesen sein musste. Um ehrlich zu sein hatte ich nie verfolgt, von wem das Stückchen Stoff wirklich stammte. Vielleicht wollte ich das gar nicht wissen.
"Oh", kam es von Aylin. Ja, Oh! Eine Reaktion wie- nein, ich konnte ihr jetzt nichts übel nehmen. Schließlich war ich im Moment die einzige, die irgendwie positiv auf sie eingehen konnte. Und dann nahm ich sie in den Arm. Ohne zu wissen, was ich tat, nahm ich sie einfach in den Arm. Und wieder weinte sie.
Es fühlte sich so falsch, an, alles von vorhin oder gestern oder vor ein paar Stunden, ich wusste nicht wann, wieder aufzuwärmen, ihre Tränen an meiner Schulter, wie ich sie wieder in meinen Armen wiegte, als wäre das die einzige Möglichkeit, den Schmerz für sie erträglicher zu machen. Wieso ging unser Verhältnis nur so hin und her? In einer Sekunde hassten wir uns, in der nächsten lagen wir einander heulend in den Armen. Und plötzlich waren wir schon wieder so distanziert... Ich wollte das nicht. ich wollte mich endlich mal an etwas gewöhnen können!
JUS POV:
Ich reichte dem Mann mein Handy. Er schloss es an einen PC an.
"Rein theoretisch müssten wir damit zurück verfolgen können, von wo aus sie angerufen hat", sagte der Kommissar. Er ging zu dem anderen Mann hinüber und guckte ihm über die Schulter. Ich blieb am Tresen stehen. Plötzlich zogen sie beide gleichzeitig die Stirn kraus.
"Ist was?", fragte ich. War es nicht möglich, das Signal zurück zu verfolgen?
"Das ist nur ein paar Straßen vom Bahnhof entfernt", sagte der Kommissar halb abwesend. Und genau an derselben Stelle war vor ein paar Tagen ein missglückter Entführungs-Versuch... Moment" Er ging an einer Schublade und zog ein Foto heraus. Eine Frau mit langen, braunen Haaren, kleiner Stupsnase und sichtlich stark geschminkt. "Haben sie diese Frau schon einmal gesehen?" Ich wollte schon fast 'Nein' sagen, doch da blitzte ein Bild vor meinen Augen auf.
"Entschuldigung, kennst du vielleicht Marie? Marie Kriesch?" Sie verdreht die Augen, als hätte sie diese Frage schon eintausend Mal gehört.
"Komm mit..."
"Das ist eine, die auch auf Maries Akademie geht...", stellte ich fest. Der Kommissar nickte und lief ein paar Schritte auf und ab.
"Interessant", sagte er schließlich. Ich hasste diese Art von Menschen, denen man alles aus der Nase ziehen musste.
"Was ist interessant?", fragte ich.
"Das ist die vermutete Täterin. Sie hat versucht, eine junge Frau mit sich zu ziehen, zufällig waren mutige Zivilisten vor Ort, die ihr geholfen haben."
Schönen 4. Advent, Leserchens,
Nach einer Woche Pause heute wieder ein Kapitel... Ich hoffe, es hat euch gefallen!
LG Kaeferchen
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Wenn du alles aufgeben würdest... (Julien Bam FF FanFiction) (Zum Teil Apecrime)
FanfictionWenn man es genau nimmt, ist Marie so gut wie tot. Doch sie zeigt es nicht. Ihre Panik verschwindet in der Nacht und den leeren Gassen, in denen man ihre Schreie nicht hören würde. Aber plötzlich ist Marie in der Nacht nicht mehr allein. Ihr halbtot...