JUS POV:
Mein erster Reflex war, Andre anzurufen. Und obwohl es spät war, ging er schon nach dem ersten Freizeichen ans Handy.
"Hey Ju, was geht?", fragte er. "Wie ist es angekommen?"
"Andre, es gibt 'n Problem. Hast du irgendetwas von Marie gehört? Ist sie auf dem Weg zu euch? Weiß Regina was-", beim letzten Satz unterbrach er mich.
"Stopp, stopp, stopp, warte mal, hol' doch mal Luft!", versuchte Andre mich zu beruhigen.
"Okay", sagte ich, da mir jetzt auffiel, wie schnell mein Herz schlug und achtete ein paar Sekunden lang auf meinem Atem.
"Was ist los?", hörte ich jemanden etwas weiter weg vom Telefon fragen. Es war eine Frauenstimme. Andre antwortete ihr leise.
"Ich weiß nicht, irgendetwas mit Marie, sie ist weg oder-"
"Regina", rief ich in das Mikrofon meines Handys. "Hat Marie dir irgendetwas geschrieben? Weißt du, wo sie ist?" Es raschelte eine Sekunde, dann hörte ich ihre Stimme ganz deutlich.
"Nein, also ich gehe mal davon aus, dass sie in diesem Wohnheim da ist. Wieso? Was ist denn los?", fragte Regina. Also nicht. Keine wusste, wo sie ist. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder saß Marie im Zug nach Köln und geht, warum auch immer, nicht an ihr Handy oder... ich wagte es kaum, die Worte in meinem Kopf zu ordnen und den Gedanken zu realisieren. Oder sie haben Marie geschnappt. Aber wer sind sie denn eigentlich? Eine Horde Geisteskranker, die es darauf abgesehen hatten, auch noch den Rest des Waisenhauses in Angst und Schrecken zu versetzen?
"Ju?" Andres Stimme riss mich so plötzlich zurück, dass ich mich hektisch umgucken musste, in der Angst, etwas um mich herum hätte sich in diesen paar Sekunden meiner Abwesenheit verändert. Doch alles war einfach nur dunkel. Hinter mir leuchteten die vereinzelten Hinweisschilder des Bahnhofes auf. Ich senkte meine Stimme und erzählte. Alles, aber ganz kurz. Ich wollte nicht stehen bleiben und so lange reden. Das einzige, was ich wollte, was Marie in meinen Armen, und zwar so schnell wie möglich.
"Es tut mir leid Ju", erwiderte Regina schließlich eine kurzes Schweigen nach der Beendung meiner Erzählung. "Ich habe nicht auch nur die kleinste Ahnung, wo sie sein könnte."
"Also meint ihr, sie wurde...", begann ich den Satz. Regina schniefte, als wäre sie leicht erkältet und Andres Stimme drang durch den Lautsprecher.
"Pass auf, du musst sofort die Polizei alarmieren! Jetzt!", befahl er. Doch meine Antwort kam unsicher und verzweifelt.
"Aber was soll ich denn sagen?", fragte ich. "Ich weiß doch nicht einmal, wie der Typ aussieht, geschweige denn, dass es überhaupt ein Mann ist! Das letzte, was sie mir gesagt hat war, dass die Leute von der Geiselnahme sie gefunden hätten! Es könnten ja auch mehrere sein!" Obwohl ich mit gesenkter Stimme sprach, war mein Tonfall sehr durchdringend. Andre und Regina schwiegen, als hätten sie darauf keine Antwort parat. Doch dann holte jemand Luft und eine weiche, fast tröstende Stimme sprach Worte aus, die in der umgedrehten Situation von mir hätten kommen können.
"Und was ist die Alternative?", stellte Regina auf. "Abwarten?"
MARIES POV:
Erst, nachdem ich die Worte ausgesprochen hatte, bemerkte ich, wie ungeschickt das war. Ich erwartete, dass sie vor Schock und vor Traurigkeit, die diese Erinnerung wahrscheinlich in sich trug, wieder in ihre Schweigestarre zurück fallen würde. Doch Aylin hatte mich schon so oft überrascht, dass es mich kaum noch wunderte, dass sie sofort anfing zu reden.
"Dieses Waisenhaus in Köln... Er hat da gelebt, weil ich nicht genug Geld hatte, um für ihn zu bürgen. Und das Jugendamt hat auch was gegen unsere Mutter, weil sie so viel trinkt. Also, meine Mutter. Die Geiselnahme, die war in seinem Waisenhaus. Und dabei wurde er verletzt, also... er wurde angeschossen. Die haben mich angerufen, ich bin in der selben Nacht nach Köln gefahren, zu ihm. Ich kam an und er war wach und ich bin zu ihm ans Bett gegangen und habe ihn angesprochen. Er war so schwach, seine Stimme war so dünn, aber er hat mir noch erzählt, was passiert ist. Sie haben wohl nach jemandem gesucht", Aylin machte eine kurze Pause und atmete ein und aus.
"An den Namen könne er sich nicht erinnern, er liebt mich und dann..." Ich. Ich war es gewesen. Nach mir hatten sie gesucht. Und meinetwegen war er tot. "dann hat er auf einmal aufgehört, zu atmen und die Ärzte kamen rein und haben mich weg geschubst und alle um ihn herum gestanden, aber ich stand draußen und dann... dann ist er gestorben, weil die Ärzte es nicht geschafft haben, ihn zu reanimieren." In ihrer Stimme lag kein weinerlicher Unterton, keine Trauer. Nur Wut. Pure, hässliche Wut sprang zwischen ihren Lippen hervor.
"Der Typ hat mir erzählt, dass er meinen Bruder angeschossen hat. Dass er einen zwölfjährigen Jungen hat sterben lassen. Und wenn ich ihn noch jemals zu Gesicht bekomme, dann werde ich ihn töten. ich will ihm mit meinen Fingernägeln den Hals aufreißen und ihm die Augenlider abschneiden. Dieser Mensch soll leiden für das, was er meinem Bruder angetan hat. Er konnte noch nicht einmal richtig leben!" Die Hetzrede schwoll an, bis sie zu einem Brüllen wurde, das tausendfach an den Wänden widerhallte.
"Er soll leiden, er soll sterben", schrie sie wieder und diesmal war es mehr als Wut in ihrer Stimme. Ich hörte den Hass, wie er an den Wänden kratzte, als könnte Aylin durch pure Stimme die Wände zersprengen lassen. Und ich hörte die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme. Sie log nicht, wenn es darauf ankäme, würde sie es tun. Sie würde Dan umbringen. Warum konnte so ein von Grund auf guter Mensch wie ich es nicht schaffen, sie für Hass und böse Wünsche zu verurteilen? Schließlich war er wegen mir gestorben. Ich hatte einem zwölfjährigen Jungen sein behütetes, viel zu kurzes Leben genommen.
Heyooo Leserchens,
Wie immer helft ihr mir mit den Angaben, was euch besonders/gar nicht gefallen hat! Besserer Content = glücklichere Leser.
LG Kaeferchen
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Wenn du alles aufgeben würdest... (Julien Bam FF FanFiction) (Zum Teil Apecrime)
FanfictionWenn man es genau nimmt, ist Marie so gut wie tot. Doch sie zeigt es nicht. Ihre Panik verschwindet in der Nacht und den leeren Gassen, in denen man ihre Schreie nicht hören würde. Aber plötzlich ist Marie in der Nacht nicht mehr allein. Ihr halbtot...