Kapitel 87 (363) Unangekündigter Besuch

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Montagnachmittag, 27.2.
Russland, Sankt Petersburg
Staatsgefängnis


Unangekündigter Besuch

Miroslav Petrowitsch Roganoff lag gerade auf seinem Bett und las ein Buch, das er schon vier Mal gelesen hatte. Im Bett unter ihm lag sein Zellengenosse, der zu seiner Freude beinahe im gleichen Alter war.

"Liest du das schon wieder?"

"Hast du eine bessere Idee?", fragte er amüsiert.

"Du könntest eine Seife in der Dusche fallen lassen..."

"Und mich nach ihr bücken?"

"Nein", er lachte, "Warten, bis sich jemand bückt..."

Miroslav lachte: "Da dann doch lieber diese Liebesgeschichte."

"Wie du meinst", lachte sein Zellengenosse.

Das Klimpern eines großen Schlüsselbundes erklang vor der Tür, ein Wärter kündigte sich an, ein Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt, ein kurzer Moment verging, dann wurde er herumgedreht, dann wartete der Wärter vor der Tür erneut kurz. Das war allerdings nur um einem Schock vorzubeugen, oder ihnen bei einem möglichen Klo-Gang die Möglichkeit zu geben etwas über den Schoß zu ziehen, denn kein Wärter wartete darauf, dass sie ihn hereinbaten.

Die Metalltür ging auf und ein ihm gut bekannter Wärter sah ihn an und forderte danach: "Mitkommen!"

Er hörte seinen Zellengenossen die Luft scharf einsaugen, aber ansonsten schwieg er. Er rührte sich auch nicht. Er blieb einfach liegen.

Seufzend legte Miroslav das Buch weg, schwang seine Beine über den Bettrand und kletterte an der Leiter nach unten.
Duschen war er schon gewesen, Wäschedienst hatte er heute keinen, auch in der Küche wurde er nicht gebraucht, zum Essen ausliefern waren vier andere heute zuständig. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten, aber er würde folgen. Was konnte er schon groß dagegen tun? Besser er ging freiwillig mit als er würde gestoßen oder hinterhergezogen.

"Bekomme ich Freigang?", fragte er, denn eine frische Brise – wenn auch eiskalter – Luft würde ihm gefallen.

"Mal schauen. Nicht jetzt", sagte der Wärter, der schon seit Jahren hier auf der Station war.

Er wollte ihm gerade Handschellen anlegen, um ihn mitzuführen, als er ihn musterte, dann sagte er: "Zieh dir den schöneren Overall an!"

Er zog eine Augenbraue hoch und sagte: "Ich bekomme heute keinen Besuch, mein Sohn war samstags hier. Mit seiner Freundin, Sasha", freute er sich, weil das Mädchen so entzückend war.

Der Wärter, Alexander, lächelte ihn an, weil er ihn, wie so oft, mit seinem Kosenamen ansprach. Er war einer der wenigen Menschen, die das taten und durften. 

"Vertrau mir", sagte der Polizist, den er kannte seit er ein Teenager war, weil er früher in seiner Nachbarschaft gewohnt hatte und ab und zu auf ihn aufgepasst hatte, "Zieh ihn an!"

Er nickte: "Na gut", wandte sich ab und zog den Zippverschluss auf der Vorderseite auf. Mit wenigen Handgriffen war er aus dem Overall draußen und zog den noch nicht ganz so verwaschenen, noch etwas Blaueren an, den er auch am Samstag getragen hatte.
Sein einziger Trost war, dass, ganz egal wohin er gehen würde, er nicht nur etwas Abwechslung von seiner grauen Zellenwand und den Zeilen bekam, die er schon kannte, sondern auch, dass er – zu seiner Freude – mittlerweile alt genug war, um nicht mehr von jungen Notgeilen Mitinsassen beim Duschen bedrängt zu werden. Sie waren zwar vermutlich alle nicht schwul, aber wie einer von ihnen einmal unschön zu einem anderen gesagt hatte, bevor er ihn genommen hatte: 'Loch ist Loch.'

Russisches Ballett [BoyxBoy] Band IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt