Part 48 ~ Was ist passiert ?

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Ich hätte nie gedacht, dass mal sowas passiert. Von allen Dingen die uns bis jetzt zugestoßen sind, hab ich niemals mit sowas gerechnet. Das schlimme ist: ich kann es mir nicht einmal erklären. Niemand kann das. Das macht mir Angst. Keiner kann mir sagen, ob es jemals wieder normal werden wird. Es fühlt sich an, als hätte ihn jemand aus meinem Leben gerissen. Als wäre er gestorben, obwohl er noch da ist. Als wäre das alles ein fieser Albtraum, in dem ich fest stecke.

"Hunger?", fragte Samra, der im Türrahmen meines Zimmers stand und mich ansah. Seine Augenringe waren mindestens so tief wie meine.  Auch ihm machte das irgendwie zu schaffen, auch wenn er nicht darüber reden wollte. Stumm schüttelte ich mich dem Kopf.
"Du musst was essen." Ich wusste, dass er mich zwingen würde, wenn ich jetzt nein sage.
"Lass mich noch kurz fertig schreiben, ja?"
"Yallah.", warf er mir nur als Antwort darauf zu, und wandte sich dann von mir ab. Ich seufzte, und widmete mich dann wieder meinem Tagebuch, welches aufgeklappt vor mir auf dem Bett lag.

Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Wie es weitergehen wird. Und wie wir miteinander klarkommen sollen. Wahrscheinlich gar nicht. Er ist unten, und schiebt sich zusammen mit Samra Pizza in den Rachen. Während ich hier alleine sitze, und mich frage wie ich damit umgehen soll. Ich interessiere ihn nicht. Zumindest nicht, solange er diesen Zustand hat. Schlimmer noch: Er hasst mich. Und das tut verdammt weh.

Traurig klappte ich mein Tagebuch zu, und wischte mir schnell eine Träne weg. Bisher hatte ich das kleine, rosane Buch nie großartig benutzt. Nun schien es mir irgendwie die einzigste Möglichkeit zu sein, wie ich meine Gefühle verarbeiten konnte. Mit Samra konnte ich nicht wirklich darüber reden. Er ging nicht wirklich darauf ein, und tat so als würde er alles einfach so hinnehmen. Und sonst blieb mir niemand übrig, mit dem ich darüber hätte sprechen können. Lea war Geschichte, und meine Eltern waren bei Gott die letzten Menschen, denen ich davon erzählen wollte.
"Du musst nur Geduld haben.", Schallten Samras >aufmunternde< Worte durch meinen Kopf. Seufzend ließ ich mich nach auf's Bett fallen, und starrte die weiße Decke an.
Was passiert ist? So genau konnte ich das selbst nicht sagen. Es war für mich und alle anderen ein Rätsel, das scheinbar kein Mensch auf dieser Welt lösen konnte.

"Was hat er jetzt genau gesagt?", fragte ich Samra aufgebracht, während ich versuchte mit ihm Schritt zu halten. Nachdem der Anruf von Milo kam, sind wir direkt losgefahren. Nun stolperte ich dem schwarzhaarigen Libanese hinterher, während wir durch die Notaufnahme liefen.
"Einfach, das wir herkommen sollen.", gab er kurz als Antwort zurück. Im Wartezimmer waren weder Milo, noch Vladislav. Direkt wandte sich Samra an die Schwester hinter der Glasscheibe, um Auskunft zu bekommen.
"Er ist soweit ich weiß vor ungefähr fünf Minuten nach Hause.", antwortete sie freundlich, trotz seiner unhöflichen und arroganten Art.
"Wie, nach Hause? Verarschen sie mich?", fuhr er die Schwester ungehalten an.
"Hey.", sagte ich mit beruhigender Stimme, und zog ihn vorsichtig vom Fenster der Aufnahme weg.
"Warum fahren wir dann erst hier her?", motzte er angepisst.
"Keine Ahnung."
Kopfschüttelnd drehte er sich um, und lief den langen Gang wieder bis nach vorne. Bereits im Eingangsbereich steckte er sich eine Kippe in den Mund, und holte ein Feuerzeug aus seiner Bauchtasche heraus. Als sich die Schiebetür des Haupteingangs öffnete, nahm er die Zigarette aus dem Mund und sah nach vorne. Mein Blick viel direkt auf den Ukrainer, der draußen stand und eine rauchte.
"Lan was soll das? Wieso haust du einfach ab, wenn wir extra herkommen?", fragte Samra, und erregte damit Vladislav's Aufmerksamkeit.
"Samra Bruderherz, chill. Alles gut, Bra.", antwortete er komplett entspannt.
Während Samra und ich zu ihm und Milo liefen, war irgendwie eine komische Stimmung. Vladislav sah mich zwar kurz an, tat dann aber so als wäre ich Luft.
"Was war denn nun?", fragte Samra ihn. Mit gerunzelter Stirn zog Vladislav an seiner Zigarette, bevor er zur Antwort ansetzte.
"Nichts besonderes. Milo und ich wollten so einen Hurensohn abfangen. Der hatte zwei, drei Freunde dabei, ich hab irgendwas gegen Kopf bekommen und dann war schwarz. Aber alles gut, Bruderherz. Hab nur so scheiß Platzwunde am Kopf, jebem ti majku. Ist halt Berlin, hier kann alles passieren, du weißt." Er drückte seine Kippe auf dem Boden aus, und steckte die Hände in seine Jackentasche.
"Wann ist so das behindert kalt geworden nahui?", beschwerte er sich fröstelnd.
"Lan, was machst du nur immer.", kommentierte Samra kopfschüttelnd, und schnippste dann ebenfalls seine Zigarette weg.
"Wir sehen uns dann später, Bruder.", kam es von Milo, welcher sich mit einem Handschlag von Vladislav verabschiedete.
"Ruf dann an.", antwortete dieser.
"Musst du dann nochmal weg?", fragte ich ihn enttäuscht. Immerhin hatte er mir irgendwie versprochen, nachher da zu sein.
"Lass nach Hause.", sagte er zu Samra, und ignorierte mich damit komplett.
"Hallo?", rief ich, damit er sich umdrehte. Aber Fehlanzeige.
"Schieb die mal ab.", hörte ich ihn zu Samra nuscheln.
"Was soll das jetzt?", sprach ich ihn erneut an. Jetzt erst wandte er sich mir zu.
"Hör mal, verpiss dich einfach Tamam? Wir haben keine Nerven für sowas jetzt."
Hä?
"Was meinst du?"
"Shu, was willst du von mir?", paffte er mich an.
"Was ich...was ist los mit dir? Hab' ich dir was getan, oder was soll das?"
Mit heruntergezogenen Augenbrauen sah er mich an.
"Hör zu, Mädchen. Keine Ahnung wer du bist, aber du gehst mir auf die Eier. Verpiss dich einfach, bevor ich ausraste."
Mit offenem Mund stand ich da und sah ihn an. Samra hatte den selben Gesichtsausdruck drauf wie ich. Weder er noch ich verstanden, was hier gerade los war.
"Capi, geh schonmal zum Auto. Ich komm gleich.", sagte der der Libanese, drückte Vladislav seine Autoschlüssel in die Hand, und wartete bis er los ging.
"Los.", zischte er mir zu, und drängte mich zurück ins Krankenhaus.
"Was war das eben?", fragte ich ihn verwirrt, und stolperte dem Riese wieder hinterher.
"Finden wir jetzt raus.", brummte er, und ging zurück in Richtung Notaufnahme.
"Tschuldigung? Ich will sofort mit den Arzt reden, der meinen Bruder eben behandelt hat." Die Schwester hinter dem Thresen sah ihn mit großen Augen an.
"Im Moment ist er leider..."
"Mir egal. Holen sie ihn an's Telefon, was weiß ich. Irgendwas stimmt mit meinem besten Freund nicht, und ich will wissen was los ist."
"Aber laut Datensch..."
"Holen sie mir den Scheiß Arzt ran, sofort.", unterbrach er sie zum zweiten mal.
Wundersamer Weise hörte sie auf den wütenden Araber, und rief den Arzt an. Es dauerte vielleicht zehn Minuten, dann kam er endlich. Mit einem Augenzeichen wies er uns an, ihm in ein Behandlungszimmer zu folgen.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt