Part 91 ~ Das Böse gewinnt

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Mit zittrigen Knien stand ich hinter der Mauer des Biergartens, und sah mich prüfend um. Samras Abwesenheit konnte ich nutzen, um nach draußen zu gehen. Auch wenn ich mich nicht wohl dabei fühlte das hier ohne seines Wissens zu tun, blieb mir wohl keine andere Wahl.
Mir wehte ein warmer Windzug entgegen, als ich mich umsah. Und obwohl es heute dreiundzwanzig Grad waren und die Sonne schien, fröstelte ich.
Ungewollt zuckte mein Körper vor Schreck in dem Moment zusammen, als ich wieder eine Nachricht auf mein Handy bekam. Dieses Mal handelte es sich allerdings nicht um eine SMS. Jemand hatte mir per WhatsApp eine Sprachnachricht gesendet.
Mein Herz raste wie verrückt, als ich mir das Handy an's Ohr hielt, um sie anzuhören.
Ich hielt für einen kurzen Moment die Luft an, und blieb wie versteinert stehen. Es war Vladislav's Stimme, die in der Sprachnachricht zu hören war.
„Du kleiner Hurensohn! ich schwöre ich fick dich, deine Familie und jeden den du kennst! Du kleiner Bastard!", hörte man ihn von etwas weiter weg brüllen.

Ø Diese Nachricht wurde gelöscht.

Gleich darauf wurde eine weitere Sprachmemo geschickt. Wieder spielte ich sie an meinem Ohr ab, und hielt dabei den Atem an.
„Willst du deinen Junky-Freund wiederhaben?", ertönte Khalils Stimme in mein Ohr. Man konnte deutlich hören, wie er bei der Aufnahme dieser Nachricht gelächelt hatte.
„Dann komm zu der Adresse, die ich dir schicke. Ohne irgendjemanden, versteht sich. Sonst verlierst du Capi, und ich mach die Hochzeit deiner Tante zur Trauerfeier."
Meine Hände zitterten so stark, dass ich Angst hatte, mein Handy fallen zu lassen. Ich schaute völlig entgeistert auf die eben abgespielte Sprachnachricht, und schluckte dabei schwer.

Ø Diese Nachricht wurde gelöscht.

Als nächstes wurde mir sein Standort geschickt. Es war nicht weit von hier, wenn man das Auto nahm. Zu Fuß wäre ich eine halbe Stunde dorthin unterwegs gewesen. In meinem Kopf ratterte es. Meine Gedanken überschlugen sich, einer nach dem anderen. Wie kam ich hier unbemerkt weg? Wie kam ich an ein Auto? Sollte ich ein Taxi rufen? War es überhaupt sinnvoll das alleine durchzuziehen? Hatte er Vlad etwas angetan? Was, wenn sie ihn wieder gequält hatten? Nein, das wollte ich mir nicht vorstellen. Sein demoliertes, blutverschmiertes Gesicht vom letzten Mal hatte ich seither nicht mehr aus dem Kopf bekommen.
Neben mir ging plötzlich die Holztür auf. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich vor lauter Schreck mein Handy fallen ließ. Durch wildes Handgemenge und unkontrollierte Bewegungen schaffte ich es irgendwie es zu schnappen, bevor es mit dem Boden kollidieren konnte. Nachdem ich mich dann wieder aufgerichtet hatte, schaute ich in Samras dunkle, funkelnde Augen.
Wie behindert das gerade ausgesehen haben muss...
„Lan was zum Teufel machst du hier alleine?", zischte er wütend. Ich war mit dieser ganzen Situation gerade so überfordert, dass ich nichts anderes tun konnte, als ihn mit großen Augen anzustarren. Mir fielen in dem Moment absolut keine Worte ein, die ich hätte erwidern können. Da ich mich gerade sowieso psychisch auf dünnem Eis bewegte und diese Nachricht von Khalil mir gerade den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, sammelten sich nun zusätzlich auch noch Tränen in meinen Augen. Plötzlich legte sich Samras wütender Gesichtsausdruck, und er musterte mich mit verwirrten Blicken.
„Was hast du?", fragte er nun mit ruhiger, einfühlsamer Stimme.
Sag ichs ihm? Nein, ich darfs ihm nicht sagen. Halt ja die Klappe!
„Ich wünschte nur, Vlad wäre hier."
Das war ja nicht mal gelogen. Es nagte wirklich sehr an mir, dass er nicht bei mir war. Auch wenn wir uns letzte Nacht erst gesehen hatten, vermisste ich einfach alles an ihm. Ich wollte ihn hier, bei mir haben. Seine Hand halten, seinen Duft um mich haben. Ich wollte mit ihm auf Toilette verschwinden, so wie er es geplant hatte. Es fühlte sich wie ein Stachel in meinem Herz an, dessen Schmerz intensiver wurde, wenn ich daran dachte, dass er nicht bei mir war. Und der Gedanke daran, dass Khalil ihm irgendetwas angetan hatte, sorgte dafür, dass sich mein Magen krampfhaft zusammenzog.
„Komm, wir gehen wieder rein. Hab alles abgecheckt, ist safe.", sagte der Libanese, und öffnete die Holztür, welche uns wieder zurück zum Biergarten brachte.
„Wir sollen gleich alle tanzen.", warf er mir leise zu, kurz bevor wir wieder bei unserem Tisch waren.
„Was? Aber ich kann nicht tanzen."
„Ich doch auch nicht.", lächelte er daraufhin. In dem Moment, als wir uns zu unseren Eltern setzten, nahm meine Tante das Mikrofon in die Hand, und forderte alle Gäste zum Tanz mit ihren Partnern auf.
„Wir können doch einfach sitzen bleiben?", sagte ich zu Samra, als er bereits stand.
„So wie deine Tante uns beobachtet, wird sie das glaube ich nicht durchgehen lassen."
Er hatte Recht. Meine Tante warf mir immer wieder vorwurfsvolle, auffordernde Blicke zu. Verdammt, ich würde wohl tatsächlich nicht um diesen blöden Tanz herumkommen. Dabei hatte ich doch gerade ganz andere Probleme als das. Während ich hier zu Ed Sheerans „Perfect" mit dem Mann tanzte, der es sich scheinbar zum Beruf gemacht hatte, mir das Leben schwer zu machen, litt Vladislav im selben Moment wahrscheinlich unvorstellbar. Je mehr ich mir ausmalte was Khalil mit ihm anstellte, desto schlimmer zog sich mein Magen zusammen.
„Willst du mir jetzt vielleicht sagen, was du da hinten gesucht hast?", fragte mich Samra, ohne dabei zu mir herunterzuschauen. Stattdessen sah er sich immer wieder prüfend um.
„Ich hab nach dir gesucht."
Er sah mich kurz verwundert, mit gerunzelter Stirn an, und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf unser Umfeld. Ich musste zugeben: Dafür, dass er von sich behauptete er könne nicht tanzen, machte er das ziemlich gut. Im Gegensatz zu mir, die sich mehr oder weniger einfach von ihm führen ließ.
„Wieso? Ich dachte, du bist froh, wenn du mal fünf Minuten Ruhe vor mir hast."
„Ja, schon." Samra zog mich mit einem vorsichtigen Ruck an sich, sodass ich ungewollt meine Hand auf seine Brust legte, um Halt zu finden. Wir sahen uns für einen kurzen Moment in die Augen, und auf seinen Lippen zeichnete sich ein schwaches, selbstsicheres Lächeln ab. Dann verwickelte er mich in eine elegante Drehung, zog mich wieder auf den gleichen Abstand wie zu Anfang an sich, und tanzte dann ganz normal weiter.
„Aber ich hab mir dann doch Sorgen gemacht."
Ich hörte ihn leise Schnaufen, und wieder lächelte er.
„Seit wann machst du dir Sorgen um mich, hm?", wollte er wissen.
Wie immer durchschaute er mich. Wahrscheinlich wusste er genau, dass ich nicht nach ihm gesucht hatte.
„Seitdem Vlad nicht erreichbar ist und ich das Gefühl habe, dass Khalil hier irgendwo lauert."
„Hab dir doch gesagt, er kümmert sich um Khalil. Vertraust du deinem Freund nicht?"
„Ich traue ihm. Aber wir sollten Khalil nicht unterschätzen."
„Josy, wallah, es ist alles gut. Du musst dir keine Sorgen machen, Capi regelt."
Wenn du wüsstest...
Nach einer gefühlten Ewigkeit war das Lied dann auch endlich vorbei, und wir konnten uns wieder an unseren Tisch setzen.
„Ich geh rauchen.", sagte Samra, und erhob sich direkt wieder. „Bleib aber dieses Mal hier. Wallah du kriegst sonst Ärger mit mir."
Seine Drohung war mir in diesem Moment völlig egal. Alles, worauf ich mich konzentrierte war sein Autoschlüssel, welchen er vorhin auf dem Tisch niedergelegt hatte. Wenn ich mit Samras Auto zu Khalil fuhr, konnte er mir nicht folgen. Es sei denn er würde jemanden anrufen, der ihn fährt. Aber das würde mir zumindest einem großen Zeitvorsprung verschaffen. Immerhin musste er ja auch erst einmal herausfinden, wo ich war. Zum Glück fiel mir diese eine Sache wieder ein.
Ich beugte mich nach unten, und nahm das Fußkettchen ab, welches er mir geschenkt hatte. Somit hatte er keine Möglichkeit, mich zu orten. Als nächstes legte ich das Armkettchen von Vladislav ab. Ob Samra auch darauf Zugriff hatte, wusste ich nicht. Aber damit ging ich auf Nummer sicher.
Ohne dass es jemand bemerkte, mopste ich mir den Autoschlüssel vom Tisch, und ließ ihn in meiner Tasche verschwinden. Den Schmuck legte ich dorthin, wo ich den Schlüssel weggenommen hatte. Auch wenn mir nicht ganz wohl bei dem Gedanke war, konnte sich Samra somit vielleicht denken, was ich vorhatte. Oder auch nicht. Keine Ahnung. Ich musste auf jeden Fall von dieser Hochzeit weg, um Vladislav zu retten. Alles andere hatte keine Priorität.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt