Part 57 ~ Verständnis

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„Iss ordentlich.", ermahnte mich Samra. Lustlos stocherte ich in den Nudeln vor mir herum, und schob sie von der einen in die anderen Ecke der weißen Styroporschale.
„Lass mich doch.", entgegnete ich genervt. Warum konnte er mich nicht verstehen? Man konnte echt denken, dass ihm nichts daran lag, Vladislav zurückzuholen. Aber es ging mir nicht in den Kopf. Er war immerhin sein bester Freund. Wieso ließ er ihn ausgerechnet jetzt hängen? Was hatte er zu Samra gesagt, dass er nun so desinteressiert an seiner Genesung war? Ich würde es wohl nie erfahren, da Samra es mir einfach nicht sagen wollte. Vielleicht war es ja auch besser, wenn ich das nicht wusste.
„Ich will heute Abend Shishabar.", sagte der Libanese kauend, ohne mich dabei anzusehen.
„Viel Spaß."
„Du kommst mit."
„Wieso?", fragte ich ihn empört. Ich hatte keine Lust, weg zu gehen.
„Weil ich keinen Bock hab', die ganze Zeit hier rumzuhocken. Ist auch gut für dich , wenn du mal rauskommst. Bringt dich auf andere Gedanken."
„Du meinst, damit ich Vladislav vergessen kann?" Er sah mich mit seinen dunklen, braunen Augen an. Ich hatte also Recht. Kopfschüttelnd massakrierte ich weiterhin meine Nudeln, ohne sie zu essen. Plötzlich lehnte er sich nach vorne, riss mir die Gabel aus der Hand, und legte sie vor sich.
„Was soll das jetzt?", fragte ich ihn wütend.
„Du benimmst dich wie ein kleines Kind." Ich schnaufte beleidigt auf, und lehnte mich dann ebenfalls nach vorne, um mir die Gabel wieder zu holen. Doch als ich sie gegriffen hatte, packte er sich mein Handgelenk und hielt mich fest. Ich sah ihm vorwurfsvoll in die Augen, doch er blieb locker.
„Du kommst mit. Ich diskutier' da nicht.", sagte er streng. Dann ließ er mich los, und ich konnte mich wieder normal hinsetzen.
„Und du benimmst dich, als wärst du mein Vater."
„Iss, und halt die Klappe.", sagte er nur darauf.
„Mir ist der Hunger vergangen." Ich schob die Schale mit den Nudeln von mir weg, und knallte meine Gabel lautstark auf den Tisch.
"Deine Arroganz kotzt mich so an.", warf ich ihm an den Kopf, und legte dann einen perfekt dramatischen Abgang hin.
„Ey, komm wieder her!", brüllte er mir hinterher. Ohne mich zu ihm umzudrehen zeigte ich ihm den Mittelfinger, und ging nach oben.
Frustriert ließ ich mich auf das riesige Bett fallen, und atmete tief durch.
„Ey.", hörte ich den Libanese, der in der Tür stand. Ich richtete mich auf, und sah ihn wütend an.
„Willst du mir jetzt wieder drohen?", fragte ich nörglerisch, und ließ mich wieder nach hinten fallen. Er lief um das Bett herum, und setzte sich dann neben mich.
„Lan, rutsch doch mal.", beschwerte er sich, woraufhin ich augenrollend nach drüben rutschte.
„Hier." Er hielt mir die Styroporschale mit meinen Nudeln plus die Gabel hin, die ich eben liegen gelassen hatte. Skeptisch gestimmt richtete ich mich auf, und nahm sie entgegen.
„Ich meins nur gut, Josy.", brummte er neben mir.
„Indem du mich einsperrst?"
„Ist doch nichts anderes als vorher. Warum bist du so abgefuckt?"
„Ist es eben doch. Du hast mir den Schlüssel gegeben, und mir versprochen, dass ich raus und rein kann wann ich will. Dann klaut Vladislav sich den Schlüssel zurück, und auf einmal darf ich nichts mehr? Er könnte mit dem Schlüssel doch genauso gut hier reinkommen. Hier wäre ich also sogar noch weniger sicher als draußen."
„Aber hier bin ich dabei. Wenn du draußen alleine rumspazierst, kann ich dir nicht helfen."
„Vielleicht musst du das gar nicht. Wenn Vladislav momentan die einzige Gefahr ist..."
„Unterschätz ihn nicht."
„Mach ich nicht. Aber ich will auch nicht vor ihm wegrennen. Ich will ihn zurückholen. Ich brauche ihn..."
„Er wird sich schon irgendwann wieder erinnern."
„Aber was, wenn nicht? Ich will ihn nicht im Stich lassen, verstehst du das? Ich weiß, ich bin ihm in dem Zustand komplett egal. Aber jede Begegnung mit ihm ist eine Chance, dass er sich erinnert. Deswegen muss ich nochmal zu ihm. Ich muss es einfach weiter versuchen, egal wie. Liegt dir gar nichts daran, ihn zurückzuholen?"
„Doch, schon. Aber ich will nicht riskieren, dass du dabei drauf gehst."
„Aber das ist mein Leben. Es ist meine Entscheidung, ob ich das Risiko eingehen will oder nicht."
„Ist deine Entscheidung, jap. Aber ich verhindere trotzdem, dass du dich selbst opferst."
„Das ist kein Opfern.", widersprach ich ihm.
„Du legst dich mit Capi an, damit er sich erinnert und wieder so wird wie vorher. Du würdest dich von ihm killen lassen, damit er wieder normal wird. Ja okay, das ist kein Opfern. Das ist Dummheit.", sagte er zynisch, und stand vom Bett auf. Verletzt von seiner Aussage schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter.
„Hast du noch nie geliebt? Also so richtig?", fragte ich ihn mit brüchiger Stimme, und stand ebenfalls auf. Nun stand er vor mir, den Rücken in meine Richtung gewandt.
„Doch, hab ich." Er drehte sich zu mir um. Seine sonst so dunklen, braunen Augen waren in dem Moment viel heller. Sie leuchteten auf eine merkwürdige Art und Weise.
„Hättest du dein Leben für sie gegeben?", fragte ich den Libanese, der in Gedanken versunken an mir vorbeischaute.
„Alles.", brummte er leise.
„Dann versteh mich, bitte. Wärst du an meiner Stelle, würdest du auch alles machen."
„Das tu ich doch schon, Josy." Nun sah er mich direkt an. Seine Augen leuchteten noch intensiver als eben. Zuerst wollte ich etwas sagen, doch dann verstummte ich. Er meinte mich.
„Vielleicht verstehst du mich jetzt.", sagte er leise. Sein Blick schweifte für einen Moment zu meinen Lippen, bevor er sich umdrehte.

[...]

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt