Part 81 ~ Scherben

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Die Angst ließ mein Herz so schnell rasen, dass ich gar nicht wusste wie ich atmen sollte. Diese Ahnungslosigkeit...nicht zu wissen, wer oder was da gerade auf uns zukam, überforderte mich. Hätte sich das noch länger herausgezögert, wäre ich wahrscheinlich noch kollabiert.
Doch als oben vom Flur ein weibliches Kichern zu hören war, atmete ich auf. Auch Kalazh wurde in seiner Haltung etwas entspannter, hielt das kleine Klappmesser aber trotzdem noch in der Hand.
„Ähm...", sagte die dunkelhaarige Frau, welche gerade nach unten gekommen war. Als sie Kalazh mit seiner Waffe bemerkt hatte, war ihr das Lachen direkt vergangen. Wahrscheinlich war sie in dem Augenblick genauso sprachlos und verwirrt wie ich.
„Hussein?", rief sie, und schaute zum Treppenaufgang hoch. Alles was sie trug, war ein Shirt, welches ihr viel zu groß war. Kein Wunder, es gehörte ja auch nicht ihr, sondern Samra.
„Hmm?", brummte dieser von oben. Ich betrachtete die Frau etwas genauer. Vom Typ her war sie mir total ähnlich. Langes, dunkles Haar, circa die gleiche Größe wie ich...so, wie auch die letzte, die er sich hierher eingeladen hatte.
„Komm mal bitte.", rief sie. Man hörte den Libanese grummeln, und dann folgten schlurfende Schritte. Im darauffolgenden Moment stand ein Oberkörperfreier Samra mittig auf der Treppe, und sah uns mit zusammengekniffenen Augen an.
„Shu, was macht ihr hier?", fragte er mit genervtem Unterton.
Es war total seltsam. Denn in diesem Moment fragte ich mich nicht, warum Samra zu Hause war, oder was diese Frau hier zu suchen hatte. Seltsamerweise war Das Einzige was mich gerade beschäftigte: Warum durfte sie ihn Hussein nennen, und ich nicht? Nicht, dass ich da jetzt unbedingt scharf drauf war. Ich fand es eh komisch, den Name auszusprechen und war eigentlich auch ganz froh darüber, dass ich es nicht musste. Samra ging halt viel leichter über die Lippen als Hussein. Aber mir ging es da einfach ums Prinzip. Ich kannte ihn jetzt schon wie lange, drei Jahre? Vladislav hatte es mir von Anfang an angeboten. Ja okay, das konnte man nicht so wirklich miteinander vergleichen. Vladislav stand in einer völlig anderen Beziehung zu mir als Samra. Aber trotzdem. Wieso hatte Samra mir nie angeboten, dass ich ihn bei seinem richtigen Name nennen durfte? Und warum zerbrach ich mir in diesem merkwürdigen Moment überhaupt den Kopf über sowas? Immerhin hatte ich doch genug andere Probleme.
„Capi hat gesagt, du bist nicht zu Hause?", antwortete Kalazh mir einer Gegenfrage.
„Hat sich anders ergeben.", entgegnete Samra schulterzuckend. An der Art wie er die Treppenstufen herunterschwankte, erkannte man direkt, dass er mal wieder einen im Tee hatte.
„Dann hättest du aber Bescheid geben können, Bruder. Wegen Josy, dann hätte ich sie auch eher nach Hause bringen können."
Samras Blick fiel für eine Sekunde auf mich. In diesem Moment fühlte es sich an, als wäre mein Herz ganz kurz stehen geblieben.
„Warum denken immer alle, dass ich 24/7 Zeit habe, um Babysitter zu spielen, hm?", fragte er gereizt. „Ich hab auch Termine und so. Ich hab auch keine Zeit, und bin unterwegs. Ich bin doch kein persönlicher Bodyguard oder sowas.", spielte er sich auf. Und das fühlte sich so an, als hätte er mir in diesem Augenblick ein Messer in den Rücken gerammt. Danke dafür.
„Beruhig dich, Bruder. Ist doch auch in Ordnung, wenn du keine Zeit hast. Hast ja Recht, du hast auch Termine, versteh ich. Aber wenn du zu Hause bist, hätte ich sie ja auch herbringen können. Sie hätte dich ja dann nicht gestört, verstehst du wie ich meine?", versuchte Kalazh zu schlichten. Erfolg hatte er damit allerdings nicht.
„Doch, weil ich dann warten müsste, bis Capi kommt. Und niemand weiß immer so genau, wann das ist.", meckerte er.
Warum war er jetzt so dermaßen scheiße drauf? Hatte er sich vielleicht mit Vladislav gestritten, dass er sich jetzt so verhielt? Ja, na klar verstand ich ihn irgendwo. An seiner Stelle würde mich das genauso nerven. Aber musste er es mir denn jedes Mal so unter die Nase reiben? Ich hatte mir das alles ja immerhin auch nicht ausgesucht.
„Okay, hör zu. Capi fährt von mir los, wenn ich ihm schreibe. Dann ist er spätestens in einer halben Stunde hier. So lange bist du doch eh noch beschäftigt, oder?", fragte Kalazh, und wies dabei auf die leicht bekleidete Frau am Treppenaufgang. Sie drehte sich zu Samra um, woraufhin er sie ebenfalls ansah. Seine Mundwinkel zuckten für eine Millisekunde nach oben. Was das bedeutete, konnten wir uns glaube ich alle denken.
„Dann lass ich Josy jetzt hier."
„Mach. Aber ich hab zu tun.", sagte Samra komplett desinteressiert, und wandte sich wieder der dunkelhaarigen Frau zu.
„Los. Mach, was ich dir aufgetragen habe.", brummte er ihr zu. Beide lächelten sich an, und Samra zog sie für einen Kuss an sich. Das war schon niedlich. Wenn man außer Acht ließ, dass sie nur für eine einzige Sache hier war, und er sie nachher sowieso wieder rausschmeißen würde. Die Arme. Aber naja, selbstgewähltes Leid musste man sagen.
Nachdem sie sich von ihm weggedreht hatte, legte er seinen Kopf schief und sah ihr hinterher. Was der sich gerade dachte, wollte ich mir lieber nicht vorstellen.
„Dann hau ich jetzt wieder ab.", sagte Kalazh, nachdem er sich mir zu gewandt und sein Messer wieder weggesteckt hatte.
„Okay.", sagte ich, und ließ ihn an mir vorbei. „Danke für alles."
Kalazh lächelte kurz, und zog mich dann ohne Vorwarnung in eine kurze Abschiedsumarmung.
„Ist selbstverständlich gewesen. Ich hoffe ihr kriegt das wieder hin.", sagte er. Innerlich hoffte ich das auch. Das Problem war eben nur, dass ich aktuell keine Zukunft für Vladislav und mich sah. Alles, was ich mit ihm in Verbindung brachte, war Dunkelheit, Leere und Angst. Nicht zu vergessen der ganze Schmerz. Nach alldem was passiert war, und was er getan hatte, fehlten mir einfach die positiven Aspekte in unserer Beziehung. Das Vertrauen war weg. Und so sehr er sich auch bemühte, mal abgesehen davon, ob er es ernst meinte oder nur so tat - es änderte sich einfach nichts. Es würde Zeit brauchen, um diese ganzen offenen Wunden heilen zu lassen. Das ging nicht vom einen Tag auf den anderen.
„Tu mir einen Gefallen, und nerv dann nicht, ja?", vernahm ich Samras Stimme hinter mir, welche mich aus meinen Gedanken herausriss. Noch immer stand er auf der Treppe, und sah mich mit emotionslosem Gesichtsausdruck an. Als ich ihn anschaute, fiel es mir wieder ein: Eigentlich wollte ich ja mit ihm reden. Immerhin hatte er zugelassen, dass Vladislav mich mit ins Hotel nahm. Und ignoriert hatte er mich zudem auch noch.
„Warum hast du mir nicht geantwortet, als ich dir geschrieben hab?"
Er musterte mich kurz mit zusammengekniffenen Augen, und zuckte dann temperamentlos mit den Schultern.
„Keine Zeit.", brummte er. Kein Bock hätte es vielleicht eher getroffen.
Als ich das Gespräch fortführen wollte, kam die Frau von eben aus der Küche gelaufen. Samra begann wieder zu lächeln, als er sah, wie sie mit zwei Sektgläsern auf ihn zukam. Das Gespräch konnte ich mir dann jetzt wohl sparen, dachte ich mir.
Er legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen eng aneinandergepresst die Treppen nach oben.
„Ah, warte.", stoppte Samra plötzlich, und drehte sich noch einmal zu mir um.
„Wenn du was brauchst oder so.", nuschelte er, torkelnd, mit seinem Sektglas in der Hand. „Komm nicht zu mir damit." Er lachte auf, drehte sich wieder um, und verschwand dann mit seiner Freundin ins Zimmer. So ein Arschloch. Du wärst heute sowieso der letzte gewesen, den ich angesprochen hätte, wenn ich Hilfe bräuchte.
Verdammt. Über diese fiese Aktion von ihm ärgerte ich mich dann doch mehr, als ich es wollte. Und zum gefühlt zehnten Mal an diesem scheinbar endlosen Tag, konnte ich meine Tränen nicht herunterschlucken.
Warum mussten auch alle so bescheuert sein? Vladislav mit seiner egoistischen Arschloch-Aktion, und jetzt noch Samra. Ich meine, von Samra kannte ich es ja eigentlich nicht anders. Was mir nur nicht in den Kopf ging, war: warum jetzt auf einmal? Bevor er gestern zu seinen Terminen gegangen ist, war er doch noch ganz anders. Und nun behandelte er mich wieder wie Dreck. Keine Ahnung, vielleicht hatte ich das auch einfach verdient.
Schniefend wischte ich mir die Tränen weg, und schaltete den Wasserkocher ein.
Die Küche sah aus wie sau. Auf der Arbeitsplatte stand dreckiges Geschirr verteilt, der Herd war mit Flecken übersäht, und es lagen hier und da leere Verpackungen herum. Wenn Samra dachte, dass ich den Scheiß hier für ihn wegräumen würde, hatte er sich aber gewaltig getäuscht. Ich würde bestimmt nicht hinter ihm und seiner...seiner... ich wollte nicht Schlampe sagen. Aber ich war in dem Moment einfach enorm sauer, also egal: Ich würde bestimmt nicht hinter ihm und seiner Schlampe her putzen.
Als ich mir meinen Tee übergoss, ging plötzlich die Tür oben auf. Boah, bitte nicht, dachte ich mir nur.
Als ich Schritte vernahm die sich entfernten, atmete ich auf. Ich hatte schon befürchtet, dass jetzt einer von den beiden heruntergelatscht kommen würde.
Während ich so dastand und meinen Tee ziehen ließ, fiel mir etwas auf. Erstens: fünf Minuten Ziehzeit dauerten einfach unnormal lange. Das interessantere waren aber die kleinen, weißen Krümel auf der Arbeitsplatte. Ja klar, könnte auch Zucker sein. Aber der Strohhalm der daneben lag, gab dem Ganzen ein Bild, welches ich glaube ich nicht genauer erklären musste. Nun wunderte es mich auch nicht mehr, warum der Typ heute so dermaßen schlecht drauf und übertrieben reizbar war.
Kopfschüttelnd wandte ich den Blick ab, und rieb mir über die Augen. Noch immer fühlte ich mich todesmüde. Aber bevor ich endlich ins Bett konnte, musste ich duschen. Ich kam mir vor, als hätte mein Körper tagelang kein Wasser mehr abbekommen. Einfach ekelhaft.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt