Part 82 ~ Mein Herz

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„Lass mich doch helfen, lan.", bot Samra nun schon zum dritten Mal an, doch ich schüttelte erneut mit dem Kopf.
„Wenn du was brauchst, komm nicht zu mir damit. Waren deine Worte.", imitierte ich ihn.
„Ja, aber das war nicht so gemeint. Das sollte Spaß sein."
„Spaß?", schnaufte ich, und lachte dabei sarkastisch auf. „Ja, total lustig war das. Hab mich fast nicht mehr eingekriegt."
Als ich mich bücken wollte um die zusammengekehrten Scherben aufzuheben, griff der Libanese plötzlich nach meinem Handgelenk.
„Pass auf deinen Bauch auf." Seine Stimme war so tief und rauchig, dass es mir am gesamten Körper eine Gänsehaut verpasste. Er nahm mir die Kehrschaufel ab, und kniete sich dann herunter, um  das Chaos für mich zu beseitigen.
Ich schaute dabei zu, wie er die Scherben entsorgte und dann begann, den restlichen Saustall aufzuräumen.
„Warum hast du mir nicht geholfen?", fragte ich, nachdem ich ihn einige Sekunden schweigend beobachtet hatte.
„Mach ich doch jetzt."
„Das meine ich nicht." Samra sah mich daraufhin schulterzuckend an.
„Vladislav. Warum hast du zugelassen, dass er mich mitnimmt?" Nach dieser Frage wandte er sich von mir ab, und räumte stumm weiter auf. Gerade als ich dachte da kommt nichts mehr, setzte er zu einer Antwort an.
„Wegen Vertrauen.", brummte er, mit dem Rücken zu mir gedreht. Nun war ich diejenige, die ihn mit fragenden Blicken ansah.
„Ich hab Vertrauen in Capi. Ich wusste, dass du bei ihm sicher bist."
„Du wusstest aber auch, dass ich nicht bei ihm sein wollte."
„Ich konnte da aber keine Rücksicht drauf nehmen." Mein gekränkter Blick traf auf seinen. Als er bemerkte wie sehr er mich damit verwundet hatte , gab er ein mitleidiges Schnaufen von sich. „Ich hab doch gesagt, dass ich Termine hatte. Du kannst da nicht immer dabei sein, das geht nicht."
„Wieso glaube ich dir nicht?"
Samra sah mich an, als verstünde er nicht, was ich meinte. Doch ich durchschaute ihn.
„Glaub doch, was du willst. Es ist, wie es ist.", gab er gleichgültig von sich und tat so, als wäre ihm alles egal. Dabei wusste ich mit großer Sicherheit, dass es das nicht war.
„Sei doch wenigstens ein Mal ehrlich. Du hast Dinge gemacht, bei denen ich nicht dabei sein sollte. Da ging es entweder um Drogen oder..." Er sah mich mit ertapptem Blick an. Dieser Ausdruck in seinen Augen verriet mir einfach alles.
„Das ist krank.", gab ich angeekelt von mir, schüttelte den Kopf, und begann (obwohl ich mir geschworen hatte es nicht zu tun), das dreckige Geschirr einzusammeln.
„Nö, ist es gar nicht. Ich kann machen, was ich will. Ich muss nur mit dem Finger schnipsen, und vor der Tür stehen zehn Kahbas die mit mir ficken wollen. Eine SMS, und ich kann mir jede Droge geben auf die ich Bock habe."
„Und was bringt dir das?"
„Spaß, Josy! Einfach den Kopf frei kriegen von dem ganzen Scheiß, der täglich auf mir lastet." Wieder schüttelte ich schnaufend mit dem Kopf. „Wer hat, der kann. Das ist Macht, Habibi."
„Nein, das ist Oberflächlichkeit! Egoismus ist das! Du verdrängst deine Probleme und Gefühle, indem du dich abschießt und eine nach der anderen abschleppst. Dir ist es egal, wie sehr du damit deinen Körper oder andere um dich herum schädigst. Du machst das, was für dich am besten ist, ohne Rücksicht auf dein Umfeld. Alles was für dich an erster Stelle steht, bist du. Und dann wunderst du dich, warum niemand bei dir bleiben will?!" Meine Stimme war eine Mischung aus Wut und entsetzen. Durch Vladislavs blöde Aktion war ich so gereizt und in Rage, dass ich einfach nicht an mich halten konnte.
„Pass auf, was du sagst.", knurrte er. Seine Reaktion bestätigte, dass ich vollkommen richtig lag.
„Du tust immer so, als wäre dir alles egal. Aber im inneren bist du einfach nur ein kleiner Junge, dem das Herz gebrochen wurde, und der nie darauf klargekommen ist! Deshalb kompensierst du deinen Schmerz mit diesen ganzen Dingen. Und deshalb schubst du alle von dir weg, die dir zu nahe kommen. Weil du Angst hast, dass die Leute genau das rausfinden, wenn sie hinter deine Fassade blicken."
„Reicht dir eine Warnung nicht aus?", fragte er zornig, und kam dabei auf mich zu. „Reicht es nicht, wenn ich dir einmal sage, dass du aufpassen sollst? Nein, du musst immer und immer weiterlabern. Du musst immer das letzte Wort haben, oder?"
Nun stand er mir direkt gegenüber. Seine Pupillen hatten mittlerweile wieder ihre normale Größe, was es nicht mehr so unangenehm machte, ihn direkt anzusehen. Durch das viele Weinen und den Nervenzusammenbruch waren meine Augen allerdings so gereizt, dass ich sie die ganze Zeit schon zusammenkneifen musste. Irgendwann wandte ich den Blick wider Willen ab, weil es zu anstrengend war. Doch dem Libanese schien das nicht zu passen. Seine Hand schnippte nach vorne, wo sie nach meinem Kinn griff. Im nächsten Moment drängte er mich so lange nach hinten, bis ich die kühle Glasscheibe der Balkontür im Rücken hatte.
„Du denkst du bist so schlau, und kannst mich lesen wie so ein scheiß Buch, hm?" Seine Augen funkelten vor Wut. Ich war unfähig etwas zu erwidern, geschweige denn mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
„Immer musst du diskutieren, bis es eiskaliert. Jedes Mal provozierst du so lange, bis wir am Ende an genau diesem Punkt sind." Seine Stimme war so rau wie Schleifpapier. Mir stieg der Duft seines alkoholischen Atems in die Nase, woraufhin ich versuchte ein Stück nach hinten zu entweichen. Doch jeden kleinen Millimeter den ich an Freiheit gewann, nahm Samra mir sofort wieder weg. Ich war gefesselt von seinem Blick, betäubt von seiner Stimme, und so nah wie er in diesem Augenblick vor mir stand unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Samra hob mein Kinn sanft nach oben. Sein erregter Blick wechselte zwischen meinen Augen und Lippen hin und her.
„Was hast du jetzt vor?", fragte ich schweratmend. Meine brüchige Stimme bebte vor Aufregung, und mein Herz hatte gefühlt einen Aussetzer nach dem anderen. Was er vorhatte, wusste ich ganz genau. Adrenalin strömte durch meinen gesamten Körper, und ließ meine Beine schwer werden. Mein Verstand war völlig vernebelt von seiner einnehmenden Aura, welche mich komplett umschlossen hatte. Alles um uns herum verschwamm, während mein Fokus nur auf seinem Gesicht lag.
„Du weißt, was als nächstes kommen würde.", raunte er. Ein Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit, und ich musste schwer Schlucken.
„Ich weiß aber auch, dass das nie passieren wird.", sprach ich leise. Ich spürte, wie mein Kreislauf nach und nach abbaute. Hätte diese Situation noch ein paar Minuten länger angehalten, wäre ich wahrscheinlich kollabiert.
„Hmm.", brummte er, legte seinen Kopf schief, und analysierte mein Gesicht. So wie er es zuvor bei mir tat, betrachtete ich nun seine Lippen. Verdammt, sie sahen so perfekt aus. Ob sie sich auch so anfühlten?
„Du solltest schlafen gehen, Josy. Ich bin gerade keine gute Gesellschaft, glaube ich." Seine tiefe Stimme löste erneut eine Gänsehaut in mir aus. Er ließ mein Kinn los, und trat dann einen Schritt zurück. Ganz langsam scannte er mich von oben bis unten ab, bevor er sich umdrehte, um weiter aufzuräumen. Verdammt, er brachte mich völlig aus der Fassung, wenn er so war. Noch immer zitterten meine Beine, als würden sie aus Wackelpudding bestehen, während ich rücklings an der Balkontür klebte. Irgendwie konnte ich mich noch nicht wieder bewegen, auch wenn er mittlerweile weit genug von mir weg war. Diese Situation hatte mich einfach so umgehauen, dass ich da gerade gar nicht drauf klarkam. Es war, als hätten sich alleine meine Gefühle miteinander vermischt. Meine Wut, die Trauer und Enttäuschung...zusammen mit dem Gefühl das es in mir auslöste, wenn Samra sich so verhielt wie eben. Das war wie ein Rausch. Ein Betäubungsmittel, welches mich so aus der Bahn warf, dass ich von jetzt auf gleich den ganzen Stress von eben vergessen hatte. Leider klang diese Amnesie jedoch ab, sobald er sich mir wieder entzogen hatte.
In diesem Moment schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Tat ich das schon die ganze Zeit? Provozierte ich ihn tatsächlich immer wieder absichtlich, um genau diesen Rausch zu bekommen? Oder war mein Gehirn von diesem ganzen hin und her mit Vladislav jetzt einfach komplett weichgespült?
„Geh ins Bett, Josy.", brummte der schwarzhaarige Riese, nachdem er das Küchenchaos beseitigt hatte.
„Ich kann nicht." Der Klang meiner Stimme ließ mich erschaudern. Sie hörte sich so schrecklich kratzig und rau an, dass man vermuten könnte ich wäre zu dem Zeitpunkt krank gewesen.
Als er nicht verstand was ich meinte, wies ich auf meine vernähte Bauchwunde.
„Ich hab kein Pflaster. Das ist alles bei Vladislav."
„Hmm.", brummte er wieder. „Dann musst du ohne Decke schlafen."
Das war definitiv nicht die Antwort, die ich jetzt erwartet hatte.
„Danke für den Tipp.", argumentierte ich augenrollend. Im Vorbeigehen sah ich, wie sich ein keines Lächeln in sein Gesicht schlich. Auch ich musste daraufhin unfreiwillig schmunzeln.
„Warte, eins noch.", stoppte ich mich selbst. Das musste jetzt einfach sein. Keine Ahnung wann sich sonst die nächste Gelegenheit bieten würde. Das ich hatte es schon viel zu lange vor mir hergeschoben.
Als ich mich zu ihm umdrehte, schaute er mich mit genervtem Blick an. Aber das musste ich ignorieren. Diese Frage brannte mir schon viel zu lange auf der Seele.
„Das, was Khalil gesagt hatte. In dieser Halle."
„Josy, es ist mitten in der Nacht, und wallah ich bin in meinem Zustand gerade echt nicht der richtige Gesprächspartner für dich." Samra wollte es damit auf sich beruhen lassen und an mir vorbeilaufen, doch ich hielt ihn davon ab.
„Bitte, ich muss das wissen." Samra sah auf unsere Hände, die ich miteinander vereint hatte, um ihm zu verdeutlichen wie wichtig mir das war. Mir egal, ob das komisch war. Er sollte wissen, wie viel Wert ich auf seine Antwort legte. Er sah mich bedauern an, und drehte seinen Körper dann vollständig in meine Richtung.
„Hab jetzt aber keine großen Erwartungen.", brummte er mit tiefer, angeschlagener Stimme.
„Sag mir einfach..." ich musste einen Moment innehalten und überlegen, wie ich es am besten formulierte. „... ob du das wirklich wusstest. Aber sei ehrlich!"
Er sah mich mit seinen pechschwarzen Teddybär Augen an, und ließ dann ein kurzes, leises Schnaufen verlauten.
„Ja.", ertönte es daraufhin von ihm. Ich hatte ja damit gerechnet. Das war mir schon an seiner Reaktion in der Halle bewusst, als ich ihm diese Frage zum ersten Mal gestellt hatte. Trotzdem fühlte es sich wie ein Faustschlag in die Magengegend an.
„Und...und Vladislav? Er auch?" Innerlich betete ich, dass er dies verneinte. Doch auch hier konnte konnte ich mir die Antwort bereits denken.
„Ja.", sagte er wieder. Ich schluckte, und versuchte meine Tränen zurückzuhalten. Schlimm genug, dass Samra es gewusst und nichts gesagt hatte. Aber dass Vladislav nie mit mir darüber gesprochen hatte, tat schon ziemlich weh.
Ich nickte, und wandte dabei den Blick von ihm ab.
„Wolltet ihr es mir irgendwann sagen?" Meine Stimme war so kratzig wie seine. Es fühlte sich an, als hätte ich einen fetten Kloß im Hals sitzen, der mich am Sprechen hindern wollte.
„Nein." Wieder nickte ich. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Wallah, es tut mir leid. Aber es war das Beste, es dir nicht zu sagen.", rechtfertigte er sich.
„Woher willst du wissen, was das Beste für mich ist?"
„Ich versteh das, wenn du jetzt angepisst bist. Aber das wäre zu krass für dich gewesen. Wir wollten nicht, dass du ausflippst."
„Dass du mir nichts sagst wundert mich irgendwie nicht. Aber Vladislav...ich dachte, ich kann ihm vertrauen. Bevor er zu diesem Ekel wurde."
„Kannst du doch auch."
„Nein! Nicht, wenn er sowas vor mir verheimlicht! Was für Geheimnisse habt ihr sonst noch, die mit mir zu tun haben?" fuhr ich ihn an.
„So ein oder zwei vielleicht." Er begann zu schmunzeln, und brachte mich damit noch mehr auf die Palme.
„Das ist überhaupt nicht lustig!" Quietschte ich, während ich meine Hand von ihm wegriss und ihn vor lauter Wut versuchte zu schubsen. Allerdings bewirkte das bei dem zwei Köpfe größeren Riese rein gar nichts. Nein, es brachte ihn nur noch mehr zum Grinsen. Und je mehr er sich darüber amüsierte, desto wütender wurde ich. Irgendwann hatte er jedoch genug, und griff nach meinem Handgelenk, damit ich ihn nicht weiter massakrieren konnte.
„Reicht jetzt.", mahnte er, verkniff sich dabei aber das Lächeln.
„Du verstehst es nicht, oder? Weißt du, wie scheiße das für mich ist? Sowas über dritte zu erfahren?!"
„Du musst mal runterkommen jetzt. Entspann dich."
„Entspannen? Hast du sie noch alle? Du nimmst mich überhaupt nicht ernst!"
„Ich sag doch, für solche Gespräche bin ich gerade nicht gut.", rechtfertigte er sich mit einem locker–lässigen Schulterzucken.
„Ja, und warum? Wegen deinem blöden Koks! Weil du nicht auf dein Leben klarkommst, ziehst du dir jedes Mal diesen Mist rein!", platzte es ungehalten aus mir heraus. Plötzlich zog er mich am Arm mit einem Satz erst an sich heran, und dann nach oben. Auf Zehenspitzen stehend hielt ich mich mit meiner freien Hand an seinem Shirt fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Als ich in sein Gesicht blickte, war jegliche Erheiterung darin verschwunden.
„Keine gute Idee frech zu werden, wenn ich so drauf bin. Du weißt, wie ich bin, wenn ich gezogen hab. Ich hab keine Hemmungen, dir das deutlich zu machen."
Ich stöhnte schmerzerfüllt auf, als er den Druck auf mein Handgelenk verstärkte.
„Ich hab dir deine Fragen beantwortet. Jetzt geh endlich ins Bett, bevor das hier noch hässlich wird." Er ließ mich so schnell und unvorhergesehen wieder los, dass ich mich regelrecht erschrak, als ich plötzlich wieder mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Ohne mich weiter zu beachten, drehte er sich weg, und ging dann nach oben in sein Zimmer.
Ich sah ihm schwer atmend hinterher, und rieb dabei über mein gerötetes Handgelenk. In solchen Momenten fragte mich, was ihm durch den Kopf ging wenn er sich so verhielt. Wahrscheinlich nichts, da er seine Gedanken ja wieder mal mit Kokain ausgeschaltet hatte.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt