Part 96 ~ Du kannst nicht jeden retten

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Josy

Bevor wir aus dem Fenster geklettert waren, hatte ich noch einige Sachen zusammengepackt. Trotz mehrfacher Schwindelattacken und Gleichgewichtsstörungen auf ganz neuem Level schaffte ich es irgendwie, mit Granits Hilfe die Leiter nach unten zu steigen und unversehrt auf dem Rasen seitlich unseres Hauses zu landen.
Granit sprach nicht großartig mit mir während der Fahrt. Durch die bestehende Übelkeit und dem Fakt, dass sich meine Umgebung immer wieder um einhundertachtzig Grad um mich herumdrehte, musste ich die meiste Zeit über die Augen geschlossen halten.
Als wir dann das Auto abstellten, ich Granit einfach blind hinterherlief und wir irgendwann zum Stehen kamen hatte ich also mal wieder absolut keinen Plan, wo ich mich befand. Das alles fühlte sich mehr wie ein Fiebertraum an, als dass es wirklich Real wäre.
„Wäre es nicht besser, zu einem richtigen Arzt zu gehen?", fragte ich, während ich auf einem einfachen, älteren Holzstuhl saß und mir die Schläfen rieb.
„Er ist doch richtiger Arzt."
„Im Krankenhaus?"
„Nein."
„Arztpraxis?"
„Nein."
„Was ist das dann für ein Arzt?", gab ich, der Verzweiflung nah, von mir.
„Vertrau mir einfach, ja? Liridon hat uns schon so oft den Arsch gerettet."
Liridon. Der Name klang schon irgendwie zwielichtig. Das passte übrigens auch zur Umgebung. Die Lichtverhältnisse waren semioptimal. Irgendwie war das aber auch recht praktisch. Denn dadurch waren einige Stellen unbeleuchtet, die diesen Ort in einem helleren Licht wahrscheinlich noch heruntergekommener ausgesehen lassen hätten. Um mich von der Umgebung nicht weiter einschüchtern zu lassen (und weil sich wieder alles drehte) schloss ich meine Augen.
Ehe ich etwas auf Granits Aussage erwidern konnte, öffnete sich die Tür. Ich vernahm Granit, wie er sich auf Albanisch mit jemandem unterhielt. Als ich meine Augen dann wieder öffnete, zuckte ich fürchterlich zusammen. Der >Arzt<, Liridon, hatte sich zu mir heruntergebeugt, und starrte mich direkt an. Irgendwie kam ich mir in diesem Moment vor wie ein fragwürdiges Objekt, das hier genauestens inspiziert wurde.
„Më falni." (Verzeihung), sprach der Fremde, dessen durch das Sonnenlicht reflektierte Iris in einem schönen, fast schon magischen Grün leuchtete.  Mein verwirrter Blick traf den von Granit, der mir mit seinem ahnungslosen schulterzucken aber auch nicht wirklich weiterhalf. Das war eine totale Reizüberflutung. Ich wusste nicht was hier gerade geschah, und wie ich reagieren sollte. Unangenehm war glaube ich eine gute Beschreibung dieser Situation.
„Hatte ich vergessen zu erwähnen. Er kann kein Deutsch.", brach Granit die Stille.
Super.
Als der Mann mich nun direkt ansprach und scheinbar etwas fragte, sah ich wieder hilfesuchend zu Granit. Dieser antwortete dem Kerl auf seiner Muttersprache, woraufhin dieser nickte.
„Was sagt er?"
„Er hat gefragt, ob du dir den Kopf gestoßen hast. Ich hab gesagt ja, mehrfach. So hat es mir Nima zumindest erzählt."
Nachdem er einige kleine Tests durchführte und erneut etwas auf der mir unverständlichen Sprache erzählte, nickte Granit verstehend.
„Er vermutet, dass du eine leichte Gehirnerschütterung hast. Du kannst Medikamente gegen die Kopfschmerzen und die Übelkeit nehmen. Ah, und du sollst dich unbedingt hinlegen. Dein Schädel braucht Ruhe.", erklärte er, während der Arzt die Schnittwunden an meinem Hals betrachtete. Diese ließ er jedoch unkommentiert.
Granit gab etwas unverständliches von sich, woraufhin der Arzt mich für einen Moment verunsichert ansah.
„Zeig ihm die Wunde am Bauch.", wies er mit besorgtem Tonfall an.
„Da ist keine.", log ich.
„Ich hab doch das Loch in deinem Kleid gesehen. Und ich weiß, dass du im Krankenhaus lagst wegen dem Stich. Lass ihn sehen, nur zur Sicherheit.", bat er nun, noch sanfter als er ohnehin schon sprach.
Eigentlich wollte ich mich weigern. Einem Fremden meinen Bauch zeigen? Begeistert war ich davon überhaupt nicht. Aber Granit meinte es gut, und im Grunde hatte er Recht. Außerdem konnte ich ihm nichts abschlagen, wenn er mich mit seinem Hundeblick ansah. Also rollte ich innerlich mit den Augen, atmete einmal tief durch, und hob dann das viel zu große Shirt an.
Die Reaktion des Mannes verunsicherte mich. Er betrachtete die vernähte Wunde engstirnig, und gab ein leises „Hmm." Von sich. Dann drehte er sich um und begab sich zur Tür, wo er zu Beginn seine Tasche auf dem Boden abgestellt hatte. Er kramte ein Weilchen darin herum, bis er sich wieder erhob und zu mir umdrehte. Als er näherkam und ich sah womit er sich bewaffnet hatte, fiel mir alles aus dem Gesicht.
„Was soll das werden?", schnippte ich panisch hoch, ohne das Skalpell in seiner Hand aus den Augen zu verlieren.
„Ich denke, er will die Fäden rausmachen."
„Das lass ich lieber von einem richtigen Arzt machen.", wies ich ihn direkt ab. Granit übersetzte dem schwer bewaffneten Typ was ich sagte, woraufhin dieser nur mit dem Kopf schüttelte.
„Er sagt, dass die raus müssen. Die entzünden sich sonst."
Das durfte doch alles nicht wahr sein.
„Komm schon, Josy. Das sind wie viele? Drei? Das ist nicht schlimm, wallah. Ich hatte schon krassere Stichwunden, da hatte ich viel mehr Fäden."
„Dich hat jemand abgestochen?", fragte ich erstaunt nach, woraufhin Granit zu schmunzeln begann.
„Setzt dich, dann erzähl ich's dir."
Ich überdachte das Ganze einige Sekunden, und ließ mich dann doch wieder auf dem Stuhl vor mir nieder. Granit begann zu erzählen, während er Arzt sich an den Fäden meiner Wunde zu schaffen machte.
„Oktober 2015. Ich wollte jemanden ficken, der Schulden bei mir hatte. Ich hab den Lappen überrascht. Wollte ihm nur ein, zwei Stiche verpassen, so als Warnung. Dummerweise ging das aber komplett nach hinten los. Erwischt hab ich ihn, aber er mich auch. Ich hatte drei Stichwunden und einen fetten Schnitt am Oberarm. Ungefähr ein Jahr später haben die mich deswegen Hops genommen."
„Wie lange musstest du sitzen?", fragte ich, um mich irgendwie abzulenken.
„Zwei Jahre und acht Monate. Ich wurde aber vorzeitig entlassen, und musste ein paar Monate später wieder rein. Hatte zwischendurch Freigang."
Als ich zu nächsten Frage ansetzen wollte, war der Arzt bereits fertig. Ich war verblüfft, dass es so schnell ging. Außer einem kleinen Ziepen hier und da hatte ich tatsächlich nichts gemerkt.
„Und, war's so schlimm?", fragte der 1,92m große Ex-Häftling mit seinem typischen, ansteckenden Grinsen.
„Nein, war es nicht.", schmunzelte ich nun ebenfalls. „Was heißt Danke auf Albanisch?"
„Faleminderit."
Ich wiederholte das Wort, und der Mann vor mir nickte mir freundlich lächelnd zu. Dann wandte er sich an Granit. Nachdem sie noch ein bis zwei Sätze gewechselt hatten, verabschiedete Granit den Arzt brüderlich und schloss dann die Tür.
„Das heißt dann wohl, Bettruhe.", seufzte er, und sah mich mahnend an.
„Ich kann mich jetzt nicht im Bett verkriechen. Zuerst muss ich Vladislav finden. Und Samra."
„Bist du irre?", entfuhr es dem Albaner, welcher mich mit ernstem Blick musterte. Nun war sein Lächeln, das ich so gerne sah, komplett verschwunden.
„Du kannst Capi nicht suchen. Selbst wenn, würdest du ihn nicht finden."
„Woher willst du das wissen?", stieß ich empört hervor.
„Weil du niemanden finden kannst, der nicht gefunden werden will."
In meinem Kopf schoss sofort die Szene wieder hervor, als mir Vladislav im Traum erschien. Wobei ich mir ziemlich sicher war, dass ich das nicht geträumt hatte. Als er meinte, ich solle nicht nach ihm suchen. Was, wenn er wirklich nicht gefunden werden wollte? Würde er je wieder zurückkehren? Würde er je wieder der Alte sein?
„Hör zu, Jo.", sprach Granit sanft, während ich von eintausend Fragend geplagt, grübelnd ins Leere starrte. „Ich bring dich nach Hause, und du ruhst dich aus. Wenn Capi zu dir Kontakt aufnehmen will, wird er es tun."
„Was ist mit Samra?", fragte ich traurig. Mein Kopf fühlte sich leer an. Es gab so viele Dinge über die ich nachdenken wollte, doch ich konnte nicht. Es fühlte sich an, als wäre in meinem Gehirn eine fette, schwarze Mauer, die all meine Gedanken an sich abprallen ließ. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Nach der Wut breitete sich nun langsam wieder das bekannte Gefühl der Verzweiflung in mir aus. Die Ganze Sache, die komplette Situation und jeder kleine Gedanke wuchs mir gerade über den Kopf. Alles was ich wollte, war einfach zu weinen und alles herauszulassen. Und genau das tat ich dann auch.
„Ich werde nach Samra suchen. Sobald ich ihn gefunden habe, schicke ich ihn zu dir nach Hause."
„Dann bleibst du nicht?", fragte ich, leise schniefend.
„Khalil sucht nicht mehr nach dir. Wenn Capi jetzt als Joker unterwegs ist, hat er sowieso keinen Bezug mehr zu dir. Ich weiß, das klingt jetzt scheiße. Aber das bedeutet, dass du aktuell nicht seine Schwachstelle bist."
„Weil ich ihm scheißegal bin, solange er nicht er selbst ist. Schon klar.", schluchzte ich, und wischte mir die Tränen weg.
„Tut mir leid, ehrlich alter. Ich wünschte ich könnte was daran ändern, aber das steht nicht in meiner Macht. Versuch, das Positive zu sehen. Du hast quasi Freigang, solange Capi nicht Capi ist."
„Woher weißt du, dass er jemals wieder er selbst sein wird?"
„Naja, es geht um Capi. Der durchgeknallte Ukro boxt sich doch immer irgendwie aus der Scheiße."
„Stimmt vielleicht.", musste ich zugeben,
„Siehst du. Du musst nur Geduld haben. Er wird einen Weg finden, tamam? Jetzt lass uns fahren, damit du deinem Schädel endlich Ruhe gönnen kannst."

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt