Part 99 ~ Mein Spiel, meine Regeln

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Mein Zeitgefühl war völlig abhanden gekommen. Wie lange befand ich mich nun schon in diesem Gefängnis? Zehn Minuten? Eine Stunde? Oder doch schon länger? Wäre hier kein Fenster gewesen, hätte ich nicht einmal gewusst, ob es Tag oder Nacht war.
Ich war so wütend auf mich selbst. Mir standen alle Möglichkeiten offen, als ich die Gelegenheit hatte zu fliehen. Und was tat ich? Mich an die beste Freundin von dem Kerl wenden, der mich jagte. So im Nachhinein betrachtet zweifelte ich wahrlich an meiner Intelligenz. Mir wurde mehr und mehr bewusst, wie dämlich ich war. Man konnte es Emily nicht einmal zum Vorwurf machen. An ihrer Stelle hätte ich mir auch nicht geglaubt. Niemand der normal im Kopf war würde darauf kommen, dass es so etwas wirklich gab. Immerhin sprachen wir hier von Vladislav, der irgendwie zwei Personen in einer war, und gerade von der bösen Seite beherrscht wurde. Gut, sowas gab es schon. Dissoziative Identitätsstörung war der Fachbegriff dafür. Doch das hier war nicht mit Psychologie oder Medizin zu erklären. Mir war durchaus bewusst, dass das nach außen wirkte, als wäre ich eine Irre. Doch das mit Vladislav und dem Joker war etwas ganz Eigenes. Es stellte sich immer noch die Frage, was seine Pläne mit mir waren. Viel wichtiger war jedoch: was hatte er mit Samra vor? Und mit Granit? Innerlich betete ich, dass er ihnen nichts tat. Bisher wusste ich nicht einmal, was mit Samra geschehen war. An Granit würde Vlad nicht so leicht herankommen, dachte ich. Aber Sam? Immerhin wusste keiner, was Khalil ihm angetan hatte. Er hätte sonst wo liegen können. Schwer verletzt. Halb tot. Oh Gott, ich musste diese Horrorszenarien aus meinem Kopf bekommen. Samra ging es bestimmt gut. Es musste so sein. Immerhin war er kein kleines Kind, und schwach schon gar nicht. Nein, Samra war stark. Ein starker, erwachsener Mann, der auf sich selbst aufpassen konnte. Sicherlich war er wohl auf. Hoffentlich. Es musste einfach so sein.
Als sich die Tür überraschend öffnete, erschrak ich fürchterlich. Wie vom Blitz getroffen schoss aus dem Schneidersitz hoch, und drückte mich mit dem Rücken gegen die kalten Gitterstäbe des Käfigs. Noch im gleichen Moment bereute ich den hastigen Hüpfer, denn mein Kopf sorgte dafür, dass sich mein Umfeld für einige Sekunden drehte.
Dieses Mal war es nicht Vladislav, der mich besuchte. Sondern einer seiner Gefolgsleute. Genauer gesagt einer von denen, die mich hergebracht hatten.
„Der Boss will, dass du was isst.", sagte er mit tiefer, ernster Stimme. Der Mann öffnete eine kleine Luke an der Seite des Käfigs, und schob ein Tablett zu mir.
„Sag ihm, das kann er sich sonst wohin stecken.", trotzte ich ihm entgegen. Er ließ es jedoch unkommentiert.
Nachdem der Kerl den Raum verlassen hatte, begutachtete ich das Tablett mit dem zugedeckten Teller. Vorsichtig hob ich den Deckel an, und lugte darunter.
Ein Döner, sein Ernst?
Wäre ich nicht in einer richtig beschissenen Lage gewesen, hätte ich in diesem Moment gelacht.
Kopfschüttelnd legte ich den Deckel wieder auf den Teller, und verkroch mich dann in mein Eckchen zurück. Hier ließ ich mich wieder auf den Boden nieder. Abgesehen davon, dass ich nichts essen würde was vom Joker kam, war mir auch gar nicht nach Essen zumute. Die Gehirnerschütterung ließ immer wieder Übelkeit in mir aufsteigen, und plagte mich zudem mit Schwindelattacken. Vielleicht musste ich einfach ein bisschen die Augen schließen. Womöglich würde es mir dann besser gehen.


[...]


„Was weiß ich, Bra? Mach irgendwas, so kann ich nix mit ihr anfangen.", vernahm ich eine Stimme, etwas weiter weg. Vladislav?
„Am Ende knallt die mir eine, wenn sie wach wird."
„Bezahl ich dich fürs Rumheulen?", schnauzte der Ukrainer.
„Eigentlich bezahlst du mich gar nicht."
„Mach jetzt, nahui! Bevor ich dich ficke!", brüllte er ungehalten.
Es folgte unangenehme Stille. Dann ertönte ein tiefes, genervtes Stöhnen, und unverständliches Gebrammel. Als nächstes packte mich jemanden unter den Armen, und zog mich mit einem Ruck auf die Beine.
„Komm schon, Prinzessa. Mach ein bisschen mit.", hörte ich Vladislavs Stimme nun direkt vor mir. Als ich die Augen öffnete brauchte ich einige Sekunden, um mich an das Licht zu gewöhnen. Alles war so grell und blendend um mich herum.
„Siehste, geht doch. Braves Mädchen." Unsanft drückte er mich gegen die kalten Gitterstäbe. Lieblos und genervt wie einen Gegenstand oder eine Puppe, die man so hinpacken wollte dass sie irgendwie von alleine stand. Tatsächlich konnte ich mich selbstständig auf den Beinen halten, als er mich losließ. Schwankend, aber es ging.
Während sich mir nun ein unbekannter, junger Mann näherte, spürte ich mit einem mal, wie von hinten zwei Arme nach mir griffen. Einer legte sich um meinen Hals, während der andere um meinen Bauch umpackte.
„Was soll das?", zischte ich.
„Wenn du ruhig hälst, dann passiert dir auch nix.", knurrte Vladislav in mein Ohr.
„Du tust mir weh.", knurrte ich zurück, und schob seinen Arm dabei ein Stücken weiter nach unten, sodass er nicht mehr auf meine Wunde drückte.
„Dann halt lieber still.", antwortete er. Wie gerne ich ihn in diesem Moment beleidigt hätte. Doch meine Konzentration lag auf dem Kerl vor mir, welcher mich mit analytischen Blicken musterte.
Das kam mir wie ein Déjà-vu vor. Eine ähnliche Situation hatte ich erlebt, als Granit den Arzt angeheuert hatte, um nach mir zu sehen. Der Fremde vor mir tat im Prinzip dasselbe. Er führte einige Tests durch, leuchtete mir in die Augen und betrachtete mich abschließend nachdenklich.
„Wird Gehirnerschütterung sein. Wenn du schon sagst, dass sie was abbekommen hat."
„Das hätte ich dir auch sagen können.", gab ich genervt von mir.
„Warum hast du es dann nicht getan?", nörgelte der Ukrainer von hinten.
„Ach, als ob dich das interessiert hätte!", fauchte ich, woraufhin er mich losließ.
„Viel trinken. Und sie muss essen, Bruder.", sprach der Mann vor mir, an Vladislav gewandt.
„Bra was soll ich machen, wenn sie nicht will?", reagierte dieser aggressiv.
„Lass dir was einfallen. Sonst brauchst du dich halt nicht wundern, wenn sie kräftemäßig abbaut."
Ich beobachtete, wie beide zur Tür gingen. Vladislav beauftragte jemanden, den Mann nach draußen zu bringen, und drehte sich dann wieder zu mir um.
„Du hast es gehört, Baby. Du musst essen."
„Nenn mich nicht so. Außerdem esse ich bestimmt nichts, was du mir hinstellst. Da könnte sonst was drin sein.", trotzte ich ihm entgegen.
Vladislav schaute mich mit emotionslosem Gesichtsausdruck an. Dann betrachtete er den zugedeckten Teller, der immer noch auf dem Boden verweilte.
„Früher oder später wirst du essen. Nur eine Frage der Zeit."
Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab. Er schob die Tür des Käfigs zu, brachte das Schloss wieder in Position und verließ dann den Raum.
Lieber verhungere ich, dachte ich mir.


Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt