Part 10 ~ Freunde & Feinde

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Wir liefen eine ganze Weile einfach nur stumm nebeneinander her, und betrachteten die Umgebung um uns herum. Das Haus war etwas abgelegener, dadurch waren wir hier komplett umgestört. Kein Auto fuhr hier entlang, und niemand kam uns entgegen. Alles was wir hörten waren die Vögel, die überall herumzwitscherten. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass der Tag beinahe zuende war. Die Sonne ging bereits unter, und innerhalb kürzester Zeit dämmerte es bereits.
"Ist schön so, oder?", fragte er irgendwann und riss mich damit aus meinen Gedanken.
"Ja.", lächelte ich und genoss die Ruhe, die sich in mir ausgebreitet hatte.
"Das, was du heute gemacht hast.", fing er an und schien wieder zu überlegen, wie er seinen Satz vervollständigen sollte.
"Du wärst mit ihm mit, nur um uns zu retten.", brachte er den Satz zuende, als wir ein Stückchen in den Wald einbogen.
"Warum?", fragte er neugierig und sah mich dann wieder an.
"Warum nicht?", antwortete ich mit einer Gegenfrage und sah, wie ihm die Verwirrung ins Gesicht geschrieben war.
"Ich würde das jederzeit wieder machen, Vladislav. Wenn ich dein oder Samras Leben dadurch retten kann, ist es mir das Wert."
"Du würdest dein Leben aufgeben, nur damit wir weitermachen können?", fragte er begeistert.
"Natürlich würde ich das. Mein Leben ist unbedeutend, bei euch hängt viel mehr dran. Wen würde es schon stören, wenn ich weg wäre? Meine Eltern vielleicht. Aber irgendwann würden sie damit klarkommen.", sagte ich schulterzuckend.
"Nein Baby, stop.", Stieß er kopfschüttelnd hervor, und stellte sich vor mir in den Weg.
"Dein Leben ist nicht unbedeutend, Josy. Du fragst dich wirklich wen es stören würde, wenn du weg bist? Was ist mit mir? Was ist mit Samra? Denkst du, du bist uns so unwichtig dass wir das zulassen würden?", fragte er ernst und wollte mir in die Augen schauen, doch mein Blick hing beschämt am Boden.
"Guck mich an, Baby.", sagte er und hob sanft mein Kinn an.
"Ich will nicht, dass du dich für mich opferst. Lieber sterbe ich, als ohne dich weiterzuleben. Ich könnte mir das niemals verzeihen, wenn du tot wärst wegen mir.", sprach er mit leicht kratziger Stimme, und hatte wieder diesen schmerzerfüllten Blick. Der Blick, der jedes mal ein Stechen in meinem Herzen auslöste. Ich nickte stumm, und ließ mich dann von ihm in seine Arme ziehen. Ich drückte mich fest gegen ihn, vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und zog seinen Duft ein. Gott, wie ich diesen Duft an ihm liebte. Jedes mal vermittelte er mir dieses Gefühl, was mich alle meine Sorgen vergessen ließ - wenigstens für einen kurzen Moment.
"Lass uns zurück, bevor es komplett dunkel ist.", nuschelte er, drückte einen Kuss auf meinen Kopf und löste sich dann wieder von mir. Wie schon zuvor liefen wir nebeneinander her und verschränkten unsere Hände in einander.
"Es gibt da noch was, was wir bereden müssen.", sagte er. Sofort merkte ich, wie die Stimmung wieder angespannt wurde. Er drückte immer wieder ganz leicht meine Hand, was bedeutete dass er mit sich selbst diskutierte. Er hatte immer diesen einen Gesichtsausdruck, wenn er das tat. So als wäre er gerade komplett woanders. Manchmal machte mir das ein bisschen Angst, aber ich ließ ihn dann einfach kurz in Ruhe. Wenn ich seine Gedankengänge jetzt unterbrach, würde er verwirrt reagieren und müsste sich dann erst wieder neu sortieren. Solange er keine hörbare Konversation mit sich selbst führte, war das okay.
"Ich weiß, dass das scheiße ist und so. Und es tut mir auch voll leid dass ich das sagen muss.", sagte er. Ich spürte, wie mir schlecht wurde. Ich hatte Angst vor dem, was er gleich sagen würde. Weil ich bereits ahnte, was jetzt kommen würde.
"Durch die Sache heute mit Kareem haben wir jetzt einen Feind mehr. Und er weiß, dass du unser Schwachpunkt bist. Vielleicht sind wir heute alle gut weg gekommen, aber keiner weiß ob die zurückschlagen werden.", erklärte er.
"Bitte, mach das nicht.", unterbrach ich ihn, bevor er weiterreden konnte. Er sah mich traurig, aber auch ein bisschen überrascht an.
"Ich weiß, was du sagen willst. Aber bitte, tu das nicht. Es lief gerade so gut...du hast mir ein paar Stunden für mich alleine gelassen, und ich bin dir dankbar dafür. Ich weiß, dass es dich Überwindung kostet, mich alleine zu lassen. Und ich verstehe das, wirklich. Aber ich hatte noch nicht mal die Möglichkeit, alleine raus zu gehen. Du hattest versprochen, dass ich das machen darf. Bitte, werf das nicht alles weg.", flehte ich ihn an und hoffte, dass er seine bereits beschlossene Entscheidung nochmal überdenken würde.
"Ich will dich nicht 24/7 einsperren, Baby. Aber lieber so, als wenn du einmal raus gehst und nie wieder zurück kommst. Wir können kein Risiko eingehen, auch wenn es mir mega leid tut."
"Nein.", sagte ich stur und kämpfte damit, die Tränen zurück zu halten.
"Nein?", fragte er leicht erschüttert, weil er nicht damit gerechnet hatte.
"Du kannst mich nicht einsperren. Woher weißt du denn, ob sie überhaupt zurückschlagen würden? Und wenn Khalil mich tot sehen will, warum bin ich es dann nicht?", konfrontierte ich ihn.
"Weil er mit uns spielt, Josy. So, wie sie es alle machen. Das ist einfach so bei uns. Wir versuchen, so viel Schaden wie möglich anzurichten. Um klar zu machen, dass man nicht mit uns fickt."
"Wir?", fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Heißt das, du würdest genauso handeln wie Khalil, wenn es anders herum wäre? Würdest du dich so verhalten wie Kareem, und jemanden so zurichten wie sie es mit Samra getan haben? Nur aus Rache?"
Keine Antwort. Er sagte einfach gar nichts.
"Wow.", stieß ich enttäuscht hervor, löste meine Hand aus seiner und lief schneller, um auf Abstand zu gehen. Allerdings holte er mich direkt wieder ein und griff sich meine Hand, um mich auszubremsen.
"Ich würde es nicht genauso machen. Nicht so. Aber ich wäre auch sauer."
"Und das heißt?", hakte ich wütend nach.
"Das heißt, wenn jemand dafür sorgt dass du stirbst, fick ich sein Leben. Dann fick ich seine ganze Familie. Ohne Rücksicht auf Verluste.
"Das ist krank.", sagte ich kopfschüttelnd.
"Nein, das ist Straße Baby. Das ist das, was ich dir nie zeigen wollte. Weil ich nicht will, dass du Angst vor mir hast. Genau deswegen erzähle ich nie, wo ich bin wenn ich Dinge zu klären haben. Das würde nur dafür sorgen, dass du mich falsch verstehst. Genau das will ich vermeiden, Baby. Du sollst keine Angst haben.", sagte er.
"Das fällt mir schwer, wenn ich daran denke dass du dich mit Khalil auf eine Stufe stellen würdest, nur um mich zu rächen.", warf ich ihm an den Kopf und riss meine Hand wieder aus seiner.
"Das alles ändert nichts an dem, was ich am Anfang gesagt habe Baby. Wir müssen jetzt noch mehr aufpassen.", rief er etwas lauter, als ich wieder schneller lief als er.
"Du meinst, du musst mich wieder einsperren. Samra hat eine Kette unter dem Bett, warum fragst du nicht ob du sie benutzen kannst? Dann musst du dir noch weniger Gedanken machen, dass ich alleine raus gehen könnte." fuhr ich ihn nun an. Ich war wütend, enttäuscht, traurig...einfach alles auf einmal.
"Woher weißt du, was Samra unter dem Bett liegen hat?", fragte er sofort alarmiert, was mich nur entsetzt schnaufen ließ.
"Du verstehst es nicht, oder? Ich will nicht wie ein Hamster den ganzen Tag eingesperrt sein."
Nun veränderte sich seine Miene. Im Gegensatz zu eben zog er seine Augenbrauen nach unten. Nun war auch er wütend, und spannte seinen Kiefer an.
"Tut mir leid, Prinzessa. Aber du wirst dich damit abfinden müssen. Ich lasse nicht zu, dass dir was passiert."
"Wer bist du, mein Vater? Oder denkst du, du wärst Gott, dass du einfach über mein Leben bestimmen kannst, wie es dir passt?"
"Ich bin dein Freund, Josy. Nicht dein Feind. Lieber will ich dass du mich hasst, als dass dir jemand was antut.", sagte er und war nun wieder direkt vor mir.
"Aber es ist nicht dein Leben. Es ist meins.", sagte ich nun etwas ruhiger, und kämpfte damit dass meine Stimme nicht versagte.
"Das weiß ich. Glaub mir, ich will auch nicht dass es so ist. Bitte, versteh mich einfach Baby. Du bist alles für mich, und ich will dich nicht verlieren.", redete er nun wieder etwas sanfter auf mich ein.
"Genau darauf arbeitest du aber hin.", sagte ich leise, wandte den Blick ab und ging dann zurück zum Haus, das ich bereits am Ende des Waldweges sehen konnte. Zuerst hörte ich noch seine Schritte hinter mir, aber dann war es ruhig. Ich sah zur Seite, um zu prüfen ob er in meinem Augenwinkel auftauchen würde. Aber ich sah ihn nicht mehr. Im Laufen drehte ich mich um und lief ein Stück rückwärts - aber er war weg. Ein leichter Schauer lief über meinen Rücken, und ich drehte mich wieder um. Hatte er mich jetzt echt allein gelassen und ist abgehauen? Nein, das würde er nicht einfach so machen. Nicht, wenn wir draußen waren. Und schon gar nicht in der aktuellen Lage. Ich steuerte weiter auf das Haus zu, und kam vor der Tür zum stehen. Sie war immernoch abgeschlossen - so, wie ich es erwartet hatte. Genervt ließ ich den Türgriff los und drehte mich um. Wie aus dem nichts stand Vladislav plötzlich direkt vor mir und starrte mich an. Ich erschrak mich mich so sehr, dass ich automatisch nach hinten wich und mit dem Rücken gegen die Tür kam.
"Wie hast du das gemacht?", fragte ich ihn schwer atmend, als er mich einfach nur ansah.
"Was denn?" Er tat so, als hätte er die ganze Zeit schon hinter mir gestanden und wüsste jetzt nicht, was mein Problem war.
"Du warst eben noch weg. Ich habe dich nirgendwo gesehen. Wie kannst du da plötzlich hinter mir stehen?"
Er legte ein leichtes, irgendwie beängstigendes Grinsen auf und sah an meinem Körper kurz nach unten, bevor er wieder in meine Augen blickte.
"Ich bin schnell. Wie ein Tier. Erst siehst du mich, dann bin ich weg. Und dann tauche ich auf, ohne dass du damit rechnest.", sagte er mit einer unheimlich ruhigen Stimme. Er griff in seine Tasche und hielt mir dann seine Faust hin. Ich sah ihn nur fragend an, und verstand nicht was er von mir wollte.
"Nimm. Mach auf.", sagte er und öffnete seine Faust. Er präsentierte mir somit den Haustürschlüssel, durch dessen Ring er seinen Zeigefinger gesteckt hatte. Ich nahm ihm zögerlich von ihm ab und sah ihm in die Augen. Er war wie ausgewechselt. Und es war nicht das erste mal, dass er sich so verhielt. Ich drehte mich langsam um, und steckte den Schlüssel mit zittrigen Händen in das Schloss. Ich spürte, wie er mir von hinten näher kam und mir über die Schulter sah. Auch wenn ich es nicht sah merkte ich, wie sein Shirt meins streifte. Ganz leise hörte ich seine ruhigen Atemzüge hinter mir, während meine immer unkontrollierter wurden.
"Ich mag es gar nicht, wenn du mich einfach stehen lässt Baby." brummte er von oben herab, als ich den Schlüssel drehte. Ich wollte aufschließen, aber irgendetwas in mir hinderte mich daran. Obwohl ich eine weitere Diskussion mit ihm vermeiden wollte, konnte ich nicht anders als etwas darauf zu erwiedern.
"Du sagst, du willst nicht dass ich Angst vor dir habe.", brachte ich mit stockender Stimme hervor. Ehe ich weiter sprach, drehte ich mich vor ihm um. Anstatt Platz zu machen, blieb er unbewegt stehen und engte mich somit weiterhin ein. Seine rehbraunen Augen musterten mich ganz genau, und mein Herz begann schneller zu schlagen - noch schneller, als es sowieso schon schlug.
"Warum drohst du mir dann?", flüsterte ich. Er überlegte einen Moment, bewegte seine Augenbraue gekonnt nach oben und legte dann ein leichtes, fast unwillkürliches Lächeln auf.
"Ich bedrohe dicht nicht. Würde ich dich bedrohen, hättest du jetzt ein Messer am Hals."
"Man braucht keine Waffen, um jemandem zu drohen."
"Stimmt. Das klappt auch mit Worten.", stimmte er mir zu und hätte es beinahe geschafft, dass ich vergaß worum es eigentlich ging.
"Du hast meine Frage nicht beantwortet.", hauchte ich und drückte mich weiter nach hinten, als er mir in Zeitlupe näher kam.
"Vielleicht will ich das gar nicht?", raunte er zurück, beugte seinen Kopf zu mir herunter und hielt vor meinem Gesicht an. Er sah abwechselnd von meinen Augen zu meinen Lippen, bewegte sich aber nicht weiter. Er wusste, dass mich das nur noch nervöser machte.
"Mach das einfach nicht nochmal. Das tut mir weh, Baby. Im Herz und so. Also mach das bitte nicht, tamam?", flüsterte er gegen meine Lippen und legte seine Finger wieder unter mein Kinn, um es anzuheben. Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern berührte einfach so sanft wie möglich meine Lippen mit seinen. Zuerst wollte ich es nicht zulassen, weil ich immernoch sauer war. Aber als seine Augen wieder in meine blickten, wurde mein Körper auf einmal locker. Meine Anspannung löste sich und ich ließ zu, dass er mich küsste. Zuerst langsam und zurückhaltend, doch dann wurde er von Sekunde zu Sekunde schneller. Er knurrte leise gegen meine Lippen, und legte dann seine Hände an meine Hüften.
"Lass uns reingehen.", stöhnte er leise und fuhr mit seinem Daumen über meine Wangenknochen, nachdem er sich von mir gelöst hatte. Er griff hinter mich und drehte den Schlüssel um, damit sich die Tür öffnete.
"Vladislav.", stoppte ich ihn, nachdem er wieder abgeschlossen hatte und an mir vorbeigezogen war.
"Hm?", brummte er und drehte sich zu mir um.
"Denkst du, ich merke das nicht?"
"Was denn?"
"Genau das. Du machst das jedes mal, wenn wir streiten. Jedes mal bringst du mich so durcheinander, dass ich mich auf dich einlasse. Nur, damit ich nicht weiter mit dir diskutiere. Keine Ahnung warum du es jedes mal schaffst, aber dieses mal wird das nicht so laufen. Die Welt ist nicht jedes mal plötzlich in Ordnung, nur weil wir miteinander schlafen. Du kannst deine Probleme nicht einfach wegvögeln.", sagte ich mit klarem Verstand, und zog an ihm vorbei.
"Achso, und... ich lasse dich stehen, auch wen dir das nicht passt. Du nimmst auch keine Rücksicht auf meine Gefühle, wenn du mich manipulierst um dafür zu sorgen, dass ich ruhig bin.", fügte ich noch hinzu und ging dann nach oben. Dass er das jetzt tatsächlich einfach so auf sich sitzen ließ, hätte ich nicht gedacht. Aber ich war erleichtert, dass ich es geschafft hatte mich nicht wieder von ihm einwickeln zu lassen. Diese Sache hatte er anscheinend mit Samra gemeinsam - sie wussten beide, wie sie mich dazu bringen konnte, dass ich tat was sie wollten.
Ich fuhr mir durch die Haare, atmete laut aus und freute mich auf die entspannte Dusche, die bereits auf mich wartete. Für heute war ich einfach nur kaputt. Auch wenn ich vorhind ein bisschen geschlafen hatte, war ich erledigt. Der ganze Stress raubte mir einfach die Kraft. Ich wollte durch den Flur in mein Zimmer laufen, als plötzlich Samras Zimmertür aufging. Ehe ich das richtig wahrnahm, hatte er bereits nach meinem Arm gegriffen und hielt mich mit sanftem Druck fest.
"Ich muss mit dir reden.", sagte er ernst. Auch wenn er versuchte stark rüberzukommen, sah ich wie schwach er war. Er würde es nicht zugeben, aber die Schläge hatten ihm ordentlich zugesetzt.
"Nicht du auch noch.", murmelte ich müde und ließ mich von ihm in sein Zimmer hineinziehen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dieser Tag heute einfach kein Ende nehmen wollte.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt