Part 98 ~ Kein Entkommen

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Ich rannte und rannte. Durch das Adrenalin in meinem Körper zog ich einfach durch, ohne Pause zu machen. Wenn ich stehen blieb, bestand die Gefahr, dass sie mich zu ihm zurückbrachten. Oder schlimmer noch, dass er mich persönlich Gott weiß wohin verschleppte.
Nachdem ich minutenlang einfach planlos in irgendeine Richtung geflohen war, konnte ich in einer Gasse verschnaufen. Mein Herz raste, als hätte es jeden Augenblick aus meiner Brust herausspringen wollen. Immer wieder vergewisserte ich mich, dass mir niemand gefolgt war. Die Gasse in der ich mich befand, war ziemlich klein, sodass ich jederzeit mit zwei Schritten heraustreten konnte und somit unter Menschen war. Je länger ich mich dort versteckte, desto mehr kam ich ins Grübeln. War mir denn überhaupt jemand gefolgt? Im Treppenhaus hörte ich keine Schritte außer meine. Und auch als ich unten ankam und auf die andere Straßenseite rannte, konnte ich im Augenwinkel niemanden sehen der mir hinterherkam. Aber wieso nicht? Das kam mir alles spanisch vor. Doch diese Gedanken schob ich beiseite. Nun war es wichtiger zu schauen, wie es weiterging. Ich hatte weder mein Handy noch sonst irgendetwas dabei. Alles lag zu Hause.
Zu Hause. Der Ort, an dem man sich sicher fühlen sollte. Nun konnte ich nicht mehr dahin zurück. Zumindest nicht, solange ich auf der Flucht vor Vladislav war. Besser gesagt vor dem Joker. Was wollte er von mir? Welchen Nutzen konnte er schon aus mir ziehen? Ich verstand es nicht. Das alles war für mich ein einziges, großes Fragezeichen.
Doch ich musste weg von hier. Also schaute ich mich gründlich um, bevor ich dann mein kleines Versteck verließ. Wieder wusste ich nicht, wohin ich lief. Ich wanderte einfach in der Gegend herum, in der Hoffnung irgendetwas – oder irgendjemanden zu finden, der mir helfen konnte.
Irgendwann kam ich dann zum Stehen. Vor mir befand sich ein kleines Gebäude, welches Erinnerungen in mir weckte. Noch konnte ich es nicht zuordnen. Aber irgendetwas in mir sagte mir, dass ich dort hineingehen sollte. Also öffnete ich die Tür, trat in das kleine, wenig besuchte Café hinein und stoppte, als ich die Kellnerin sah. Eine dunkelhaarige, hübsche Frau, die mich ihrem Blick nach zu urteilen sofort wiedererkannt hatte.
„Hey, dich kenn ich doch.", grinste sie, und kam dann auf mich zu.
Meine irritierten Blicken schienen ihr nicht entgangen zu sein.
„Emily. Erinnerst du dich?", fragte sie, und legte dabei ihre Hand auf meine Schulter. Emily. Ja, doch. Natürlich erinnerte ich mich. Sie war die beste Freundin von Vlad.
„Ja. Sorry, ich bin etwas durch den Wind.", entschuldigte ich mich bei ihr.
„So siehst du auch aus.", lachte sie.
„Hey...kannst du mir helfen? Ich glaube, mich verfolgt jemand."
„Was, dich verfolgt jemand? Weißt du, wer?"
Was nun? Lügen, oder ehrlich sein? Sie war eine gute Freundin von Vlad. Sie kannte ihn länger als ich. Mich hatte sie bisher nur zwei Mal gesehen. Dass Vladislav böse war und Jagd auf mich machte, würde sie mir niemals glauben. Würde ich selbst auch nicht, wenn ich es nicht besser wüsste.
„Nein, ich weiß nicht wer. Irgendwelche Typen, die ich noch nie gesehen habe."
„Komm, setz dich erstmal." Emily führte mich zu einem der leeren Tische, und nahm dann mir gegenüber Platz.
„Weißt du, was sie von dir wollen?", fragte sie leise.
„Nein, keine Ahnung."
„Was ist mit Vladislav? Ihr seid doch noch zusammen, oder? Wo ist er? Warte, ich rufe ihn mal an."
„Nein, ruf ihn nicht an!", platzte es sofort aus mir heraus, woraufhin sie mich mit erschrockenen Augen ansah.
„Es ist so...naja...er ist bei einem wichtigen Termin. Er hat sein Handy aus, du würdest nicht durchkommen."
„Okay...na dann rufen wir die Polizei."
„Nein, keine Polizei!", entfuhr es mir, und wieder traf mich ihr schockierter Blick.
„Kann ich vielleicht einfach selbst telefonieren? Ich hab kein Handy bei mir, aber ich hab da eine Nummer im Kopf, die mir helfen könnte."
„Na klar. Mein Handy liegt hinten im Spind. Bleib du einen Moment hier, ich hole es okay?"
Ich nickte zustimmend, und Emily verschwand durch eine Tür hinter dem Tresen.
In meinem Kopf ratterte es. Vor einiger Zeit hatte ich mal Granits Nummer auswendig gelernt. Allerdings war das schon eine Weile her, und bekam die Nummer nicht ganz im Kopf zusammen. Mir fehlte eine Zahl am Ende, um die Nummer zu vervollständigen. Immer wieder ging ich es im Kopf durch. Irgendwann machte es dann endlich klick, und ich hatte sie wieder. Jetzt musste ich nur noch an ein Telefon kommen. Da fiel mir auf, dass Emily ziemlich lange brauchte, um ihr Handy zu holen. Es beunruhigte mich. Was, wenn etwas nicht stimmte? Vielleicht hatten sie mich bis hierher verfolgt, und überfielen nun Emily? Je mehr ich darüber nachdachte, desto schwitziger wurden meine Hände. Als ich schon drauf und dran war aufzustehen und nachzusehen, kam sie wieder.
„Komm her, du kannst hier telefonieren. Da sieht dich keiner.", rief sie mich zu sich. Sie hielt mir dir Tür auf und lotste mich durch einen kleinen Gang, der mit einer weißen Tür endete.
„Das ist das Büro, da bist du ungestört.", sagte sie und führte mich hinein.
„Ich bin echt froh, dass ich dich durch Zufall hier getroffen habe. Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin, dass du mir hilfst.", sagte ich erleichtert, während ich ihr den Rücken zugewandt hatte, um mich umzusehen.
„Es gibt keine Zufälle, Jo."
Das Blut in meinen Adern gefror. Meine Atmung stoppte, während ich mich mit weit aufgerissenen Augen umdrehte.
Es war Vladislav, der neben Emily stand. Beide hatten sich so positioniert, dass ich nicht durch die Tür abhauen konnte.
„Was zum...was soll das? Was macht er hier?", fragte ich das Mädchen, welches mich mit schuldigen Blicken ansah.
„Ich dachte es wäre das beste, wenn Vladislav sich kümmert. Immerhin kann er dich am besten vor diesen Typen beschützen.", rechtfertigte sie sich.
„Nein!", gab ich schwer atmend von mir. „Nein, das kann er nicht! Verstehst du nich? Er ist derjenige, der diese Typen geschickt hat!"
Emily sah fragend zu dem größeren Ukrainer hoch.
„Vlad?", fragte sie verunsichert, doch er bliebt ganz cool.
„Siehst du? Ich hab dir doch gesagt, die arme Kleine ist total durcheinander. Sie brauch Ruhe, und vor allem Schlaf. Sie schiebt schon die ganze Zeit irgendwelche Filme und denkt, ich wäre böse."
„Was?", fragte ich entsetzt. So verkaufte er ihr das?
„Merkst du nicht, dass das da nicht Vladislav ist?", fragte ich seine beste Freundin.
„Du kennst ihn besser als jeder andere. Warum siehst du es nicht? Das ist nicht Vlad!"
Doch Vladislav zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern, während er Emily ansah.
„Ich werde sie nach Hause bringen. Sie muss sich ausruhen, dann wird es safe besser. Danke, dass du angerufen hast. Ich hatte schon Angst, dass sie sich was antut."
„Wie bitte? Hast du sie noch alle? Ich bin nicht verrückt! Emily, bitte!", flehte ich das dunkelhaarige Mädchen an.
„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ihr nach Hause geht. Du siehst ehrlich nicht gut aus, Josy."
Das darf doch alles nicht wahr sein.
„Na komm, Baby.", sagte Vladislav behutsam, während er auf mich zukam.
„Vergiss es.", lachte ich zynisch auf, und tippte dabei mit dem Finger auf meine Stirn." Ich geh nicht mit dir mit. Ich bin doch nicht lebensmüde!"
In dem Moment als er mit dem Rücken zu Emily gewandt vor mir stand, zeigte er sein wahres Gesicht. Nicht nur das. Er musste nichts sagen, um mit mir zu kommunizieren. Keine Ahnung wie das ging, aber als ich in seine Augen sah, hörte ich plötzlich seine Stimme in meinem Kopf. „Beweg dich!"
Auf einmal war ich wie ferngesteuert. Mir wurde bewusst, dass diese Situation ausweglos war. Emily würde mir nicht helfen, und eine andere Möglichkeit zu entkommen gab es nicht. Also lief ich mit langsamen Schritten auf den Ukrainer zu und wehrte mich nicht, als er nach meiner Hand Griff. Vielleicht war es der Moment in dem mir bewusst wurde, dass ich keine Chance hatte. Vielleicht war es aber auch der Gedanke daran, dass Vladislav...nein, dass der Joker Emily etwas antun könnte. Immerhin war es ihm egal. Es gab niemanden, der ihm wichtig war. Für ihn zählte nur er selbst.
„Ich kümmere mich um sie. Danke, dass du angerufen hast.", sagte er zu Emily. Die beiden umarmten sich zum Abschied (er ließ meine Hand währenddessen nicht los), und ging dann mit mir im Schlepptau durch den Hintereingang nach draußen.
Seinen Wagen hatte er direkt in der Gasse geparkt, die hinter dem Café lag. Wir mussten also nur fünf Schritte laufen.
„Steig ein und sei ruhig, wenn du nicht willst, dass ich den ganzen Laden in die Luft fliegen lasse.", knurrte er, und hielt mir dabei die Beifahrertür auf. Lässig, so als wäre alles wie immer, lief er ums Auto herum, stieg ein, und winkte Emily ein letztes Mal zu, bevor wir losfuhren. Nachdem wir um die Ecke gebogen waren, versperrte er sofort die Türen.
„Was soll das? Warum machst du das?", fuhr ich ihn an.
„Uff, Baby. Dachtest du echt, ich lass dich entkommen?", lachte er auf. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter.
„Entkommen? Was willst du überhaupt von mir?"
„Ich hab dir doch schon gesagt, dass du mir ausgeliefert wurdest. Heißt, ab jetzt gehörst du mir. Mehr musst du für den Anfang nicht wissen.", sagte er locker, und zwinkerte mir am Ende dabei zu.

[...]

Vladislav stellte das Auto auf einem riesigen Parkplatz hinter dem Gebäude ab, aus dem ich vor ein paar Stunden fliehen konnte. Wie deprimierend das war. Ich hatte es geschafft abzuhauen, war in Freiheit...und nun wurde ich wieder dorthin zurückgeschleift.
„Komm, Hand her.", befahl Vladislav, als ich aus dem Auto ausstieg.
„Ich bin doch kein Kind. Ich kann auch alleine laufen.", protestierte ich. Die Tatsache, dass meine Flucht so nach hinten losging, frustrierte mich. Wieso war ich auch so dumm, und hatte Emily vertraut? War doch klar, dass sie ihrem besten Freund mehr glaubte als mir. Hätte ich wahrscheinlich auch so gemacht.
Vladislav sah mich mit emotionslosem Gesichtsausdruck an. Dann zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Darauf folgte ein leises Schnaufen, und er wandte für einen Moment seinen Blick ab. Zwei Sekunden später sah er mir wieder in die Augen.
„Wir können das auch auf die harte Tour machen.", flüsterte er. Zuerst verstand ich nicht. Als ich dann aber ein sanftes Piksen an meinem Bauch spürte, wusste ich was er meinte. Seine Messerspitze berührte die Stelle, an der Khalil mir vor einiger Zeit die Stichwunde verpasst hatte. Darauf war ich nicht gefasst. Dementsprechend war ich unfähig, auch nur ein weiteres Wort herauszubringen.
Vladislav wusste, dass seine Drohung Erfolg hatte. Selbstsicher reichte er mir nun seine Hand, und schenkte mir ein fieses Grinsen. Schwer schluckend nahm ich sie. Endlich packte er das Messer weg, und wir liefen Hand in Hand zurück ins Gebäude. Wieder durch die Schiebetür, den langen Gang nach hinten und in den Fahrstuhl.
„Warum bringst du mich zurück zu Khalil?", fragte ich, während wir beide im Fahrstuhl standen (der nebenbei bemerkt wieder Stunden brauchte, um von der einen auf die nächste Etage zu klettern).
„Khalil? Wie kommst du darauf, dass ich dich zu ihm bringe?"
Selbst die Verwirrung war in diesem Moment verwirrt.
„Na wir fahren in die letzte Etage wo wir vorhin auch waren. Das ist doch seine Ebene, oder nicht?"
Vladislav begann zu lachen. Keine Ahnung, wie ich das deuten sollte. Das alles war einfach nur suspekt, verwirrend, und komplett krank.
„Tja, jetzt ist das meine Ebene. Mein Hauptquartier."
„Aber du hast doch schon eins?"
„Und? Dann hab ich eben zwei. Was juckt dich das, hm?", fragte er, leicht gereizt.
„Ich versuche nur zu verstehen, was hier eigentlich los ist."
„Du musst gar nichts verstehen. Das Einzige was du zu tun hast ist das zu machen, was ich dir sage. Alles andere juckt keinen."
„Damit wirst du nicht lange durchkommen.", murmelte ich leise, doch Vladislav grinste daraufhin nur.
Als wir oben ankamen, ließ er meine Hand los und packte stattdessen meine Schulter.
„Ich hab was Schönes für dich vorbereitet.", sagte er schmunzelnd, während wir den Gang nach rechts liefen. Ich konnte mir bereits denken, wo er mich hinbringen wollte. Und tatsächlich.
Vladislav öffnete die Tür, und vor uns erstreckte sich ein großer Käfig. Der gleiche, der sich auch in seinem anderen Hauptquartier befand.
„Das kannst du nicht machen!", wehrte ich mich, als er mich in das Konstrukt aus Gitterstäben hineinschubste.
„Siehst du doch, dass ich das kann.", kicherte er wieder, und befestigte ein großes, dickes Eisenschloss an der Käfigtür. Nachdem er den Schlüssel herumgedreht und ihn dann in seine Bauchtasche gesteckt hatte, lehnte er sich lässig gegen die Gitterstäbe. Vorsichtshalber trat ich einen großen Schritt zurück.
„Fühl dich wie zu Hause, ja?", sagte er gespielt einfühlsam.
„Du bist so ein Arsch!", beleidigte ich ihn, woraufhin er wieder anfing zu lachen. Jaja, schon klar, wie zu Hause. War im Prinzip das gleiche, nur dass das hier abgeranzter, enger und dunkler war als zu Hause. Sehr witzig, Vladislav.
„Was hast du jetzt vor?"
„Zuerst.", sagte er, und richtete sich dann auf. „Werde ich dafür sorgen, dass mir keiner in die Quere kommt. Kein Granit oder sonst irgendjemand." Vladislav drehte sich um, und stand schon in der Tür, als er sich mir noch einmal zuwandte. „Oh, und um Samra werde ich mich persönlich kümmern."
Er hinterließ mir ein diabolisches Grinsen zum Abschied, und schloss dann die Tür hinter sich.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt