Part 88 ~ Keine Helden

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Mist, ich kann ihn doch nicht einfach zurücklassen.
Auch wenn wir hier von Vladislav sprachen und er sich womöglich wunderbar selbst verteidigen konnte (ganz im Gegensatz zu mir), brachte ich es nicht übers Herz, einfach ohne ihn abzuhauen. So illoyal und feige wollte ich nicht sein. Ich musste zurück und ihm helfen, sofern es noch nicht zu spät war.
Also atmete ich tief durch, nahm meinen Mut zusammen, und kämpfte mich durch das Gestrüpp zurück zum Waldweg, an dem wir überfallen wurden. Von weitem hörte ich bereits Stimmen, was bedeutete, dass sie noch dort waren.
Gott sei Dank.
„Nehmt eure dreckigen Hände weg, ihr Hurensöhne!", vernahm ich Vladislavs raue Stimme. Mir blieb nichts anderes übrig, als ganz langsam zu schleichen, sonst hätten sie mich durch das Rascheln der Blätter unter meinen Füßen sofort bemerkt. Mein Plan war es, strategisch an die ganze Geschichte heranzugehen. Ich verschaffte mir also erst einmal einen Überblick, während ich mich hinter einem breiten, knorrigen Baumstamm versteckte. Geräuschlos zu diesem Versteck zu gelangen, war kaum möglich. Zum Glück unterhielten die sich so laut, dass man denken konnte, alle vier hatten eine Hörbehinderung. Nur deshalb nahmen sie das knackende Geräusch brechender Äste nach jedem meiner Schritte nicht wahr.
Sie waren scheinbar nur zu dritt. Allerdings waren auch nicht mehr von ihnen nötig, um Vladislav zu überwältigen. Einer von ihnen, der breiteste, hielt den wehrlosen Ukrainer im Schwitzkasten, während dieser erfolglos versuchte sich zu befreien. Sein Gesicht kam mir in keiner Weise bekannt vor. Er trug dunkle Haare, einen rötlichen Vollbart und pechschwarze Kleidung mit einer auffällig dicken Silberkette um den Hals. Die beiden anderen, ebenfalls dunkel gekleidet, betrachteten das Geschehen mit entspannter Körperhaltung. Als wäre es das normalste der Welt, jemandem dabei zuzusehen, wie er einem anderen Menschen die Luft abdrückte.
„Wo ist sie?", fragte einer von ihnen mit angsteinflößend tiefer Stimme.
Vladislav, der immer mehr nach Luft rang, schloss seine Augen und biss die Zähne zusammen.
„Ich kann nicht atmen, du Hund!", röchelte er angestrengt, während er sich in den Unterarm seines Peinigers krallte.
„Dann beantworte meine Frage."
Ich muss was machen. Sie bringen ihn noch um.
Als ich bei genauerem Hinsehen bemerkte, dass sich seine Lippen bereits blau färbten, wollte ich aus meiner Deckung herausspringen. In letzter Sekunde hob der linksstehende Mann seinen Arm, und ich hörte Vladislav (und mich selbst) aufatmen. Er befand sich weiterhin in der gleichen Position, nur dass sie ihm nun die Möglichkeit gaben Luft zu holen.
„Ich hab keine Ahnung, wo sie ist! Wallah ich weiß es nicht!", krächzte er.
„Erzähl keinen Scheiß! Wir hatten einen Deal!"
Was für ein Deal?
Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich die Vibration des Handys in meiner Hosentasche wahrnahm.
Jetzt nicht, Sam.
Ich drückte den Anruf weg, und öffnete WhatsApp. Seine Nachricht sprang mir regelrecht ins Gesicht.

Du WARTEST

Gleich nachdem ich losgerannt war, hatte ich ihn panisch angerufen. Dummerweise war er nicht zu erreichen, weshalb ich ihn kurz und knapp einfach per WhatsApp darüber informierte, dass wir überfallen wurden und ich mich nun versteckte. Er kannte mich und wusste, dass ich nicht einfach zusehen würde, wie sie Vladislav quälten. Es fehlte nur noch der passende Moment, um einzuschreiten.
„Checkt ihr das nicht, nahui?! Ich weiß nix, weil ich nicht er bin!", brüllte Vladislav.
„Sami!", rief der linke Typ, und der barttragende Klops drückte seinen Unterarm erneut gegen Vladislavs Kehle. Wieder kniff dieser die Augen zusammen, und schien sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Wenn man das noch Atmen nennen konnte. Zum zweiten Mal lief sein Kopf feuerrot an und seine Lippen verfärbten sich violett.
„Aufhören!", schrie ich. Länger ertrug ich es nicht, mich feige hinter diesem Baum zu verstecken.
„Ihr wollt mich? Dann nehmt mich, aber lasst ihn in Ruhe!"
Die drei Männer blickten verwundert in meine Richtung. Sami, der Kerl mit dem roten Bart, lockerte seinen Griff und ließ Vladislav Luft holen.
„Wer zum fick ist das?", fragte er den Ukrainer.
Moment. Sie kannten mich nicht?
„Was weiß ich, nahui?"
„Die war eben bei ihm, ist dann aber abgehauen." Der rechte Kerl, welcher bisher noch kein einziges Wort von sich gegeben hatte, scannte mich von oben bis unten ab. Er war der erste, den ich erspäht hatte, kurz bevor ich losgerannt war. „Safe seine Schlampe."
„Ich kenn die nicht!", log Vladislav, ohne mich dabei anzusehen.
„Dann juckt's dich ja auch nicht, wenn ihr was passiert, oder?", schlussfolgerte der linke.
Oh, scheiße. So viel zum Thema Strategie.
Moment! Eine Sache fiel mir dann in der Not doch noch ein.
„Warte!", bremste ich den groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann aus, als dieser sich mir nähern wollte.
„Er kennt mich, ich bin seine Freundin."
Vladislav warf mir einen so finsteren Blick zu, dass mir schon fast schlecht wurde. Was er dachte, wusste ich in diesem Moment ganz genau. Doch davon durfte ich mich jetzt nicht ablenken lassen.
„Ich weiß alles, er hat es mir erzählt. Ich kann sie euch geben."
Vladislavs wütender Blick schwankte um, und auf seiner Stirn zeichneten sich dutzende kleine Fragezeichen ab. Aber es dauerte nur wenige Sekunden, bis er begriff, was ich vorhatte.
„Nein, Baby!", rief er, und wurde im gleichen Atemzug wieder ruhiggestellt, indem der Dicke hinter ihm zudrückte.
„Ach ja?", fragte mich der linke, und musterte mich dabei genaustens.
„Ich bringe sie euch. Aber erst, wenn ihr ihn losgelassen habt."
Alle drei Männer sahen sich an, und kommunizierten dabei mit ihren Blicken. Natürlich hatte ich keine Ahnung, wovon die da sprachen, und wo „sie" sein sollte. Sie sollten Vladislav einfach loslassen, damit er sich endlich wehren – und uns retten konnte.
Noch bevor sie mir ihre Entscheidung mitteilen konnten, kam der linke Kerl plötzlich auf mich zu. Er drückte meinen Rücken an sich, und plötzlich befand ich mich in der gleichen Situation wie Vladislav – mit dem Unterschied, dass mir nicht die Luft abgedrückt wurde.
Ehe irgendetwas passieren konnte, fiel plötzlich ein Schuss. Es war ein Knall, der so laut war, dass ein Kälteschock durch meinen gesamten Körper fuhr. Meine Beine, meine Arme, alles war wie gelähmt.
„Scheiße, weg!", rief der Dicke, ließ von Vladislav ab, und rannte dann los. Der Typ, der mich im Schwitzkasten hatte, ließ ebenfalls abrupt von mir ab, und floh zusammen mit seinen Kollegen.
„Verdammte Scheiße, was verstehst du an dem Wort >warten< nicht?!", wurde ich plötzlich angefahren. Samra, welcher sich stampfend durch das laut raschelnde Dickicht gekämpft hatte, kam direkt auf mich zugelaufen. In seiner Hand hielt er seine Waffe. 45er Colt, in tiefschwarz. Diese, welche ich für ihn zurückgehandelt hatte. Überall würde ich dieses verfluchte, Seelenfressende Teil wiedererkennen.
„Warum machst du nicht einfach mal das, was man dir sagt, ya salame?", brüllte er so laut, dass seine Stimme durch den gesamten Wald hallte.
„Einmal lässt man dich mit Capi alleine, und du riskierst gleich wieder dein scheiß Leben? Bist du so geil drauf zu sterben, oder was?"
„Wenn du dabei zusehen kannst wie sie Vladislav umbringen, bitte! Ich konnte es nicht!!", brüllte ich zurück.
„Deswegen solltest du warten! Ich hätte die Hurensöhne platt gemacht, auch ohne, dass du dich mitten reinstürzt!"
„Ach ja, wann denn?! Bevor, oder nachdem sie ihn umgebracht haben?!"
„Wenn du eher angerufen hättest, wäre ich auch schneller hier gewesen!"
„Bist du bescheuert? Ich hab direkt angerufen, nachdem die aufgetaucht sind! Wenn du mal an dein blödes Handy gegangen wärst, hättest du auch eher gewusst was los war!"
„Darum geht's nicht! Du solltest einfach hinter diesem verfickten Baum warten, bis ich da bin!", schrie er, völlig außer sich, und deutete mit seiner Waffe auf den Baumstamm, hinter dem ich mich versteckt gehalten hatte.
Moment mal.
„Woher weißt du, dass ich hinter einem Baum war?"
„Weil du es mir gesagt hast, vielleicht?"
„Wann denn? Wir haben nicht telefoniert, und geschrieben hab ich's dir auch nicht!"
„Wen juckt das? Es geht hier nicht darum wo du dich versteckt hast, sondern dass du alles versaut hast!"
„Könnt ihr jetzt mal beide die Fresse halten?", krächzte Vladislav. Der auf dem Boden knieende Ukrainer richtete sich mühsam auf, und klopfte sich den Schmutz von seiner Hose.
„Hurensöhne. Ich werde die sowas von ficken, wenn ich die kriege."
„Was genau wollten die denn? Wonach haben die gesucht? Schuldest du denen was?", überfiel ich ihn direkt.
„Keine Ahnung, was die wollten. Ich hab diese Affen noch nie gesehen."
„Naja, aber irgendwann musst du mal was mit ihnen zu tun gehabt haben. Sonst wüssten die ja nicht, wer du bist."
„Ich hab doch gesagt, ich hab keine Ahnung, Baby, okay!", fuhr er mich plötzlich an.
„Ist okay, beruhig dich doch.", entgegnete ich daraufhin händehebend. Ich konnte doch auch nichts dafür, dass sie ihn überwältigt haben.
„Sorry. Mein Kopf tut einfach weh, nahui.", fluchte er, rieb sich über die Augen, und durchsuchte dann seine Hosentasche.
„Hast du Kippe?", fragte er, an Samra gewandt. Dieser griff direkt in seine Bauchtasche, holte seine Marlboro Schachtel raus, und ließ ihn sich eine herausnehmen.
„Bastarde. Ficken die mich einfach zu dritt.", grummelte er frustriert, und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
„Heißt dann wohl, du wirst ab jetzt wieder bei uns wohnen."
Völlig verdutzt drehte ich meinen Kopf zu Samra herüber, der mich so ansah, als wäre das selbstverständlich. War es aber nicht. Definitiv nicht.
„Aber sonst geht's dir gut, ja?"
„Bestens.", antwortete er selbstgefällig, während er sich ebenfalls eine Zigarette anzündete.
„Das kannst du vergessen. Ich bleibe so lange bei meinen Eltern, bis ich entscheide, wieder zurückzukommen. Und diese Entscheidung mache ich nicht von deiner Meinung abhängig."
„Dann willst du deine Eltern in Gefahr bringen? Nur weil du so stur bist? Geile Einstellung, wallah Ehrenfrau."
„Jetzt hör aber auf! Dir geht es doch weder um meine Eltern noch um mich oder sonst was. Dir geht es einfach darum, dass du willst, dass ich wieder bei euch wohne!"
„Laber keinen Scheiß. Wallah ich bin froh, deine nervige Stimme nicht mehr jeden Tag ertragen zu müssen. Seit du weg bist, kann ich endlich mal entspannen."
„Genau. Deshalb bist du auch vorletzte Nacht in mein Zimmer gekommen. Weil du ja sooo froh bist, dass ich weg bin!"
Samras Augen weiteten sich, als ich diesen Satz ausgesprochen hatte. Erst als seine Nasenflügel zu beben begannen, er die Kippe wegschnipste, und sein Blick mich mit tausend Messerstichen tötete merkte ich, was ich da gerade eben von mir gegeben hatte.
Oh, Scheiße.
Die ganze Zeit schob ich Panik, dass Vladislav mich verraten würde, und nun tat ich dies selbst. Wie dumm konnte man sein?
Im ersten Moment dachte ich wirklich, Samra würde mir jeden Moment an die Gurgel springen. Doch dann fiel ihm auf, dass er ein komplett anderes Problem hatte: Vladislav.
Ich sah die Bangnis in seinen Augen, als er den Kopf zum bisher schweigsamen Ukrainer drehte. Nun lag es an ihm, mich noch zu retten. Entweder gestand er Samra jetzt, dass er es wusste, oder er log.
„Warum warst du in ihrem Zimmer?", fragte er den erstarrten Libanese.
„Ich wollte nur nach ihr sehen, Capi." Der aggressive, angsteintreibende Riese hatte sich in einen kleinen, seine Unschuld beteuernden Junge verwandelt. Obwohl ich mir selbst in den Arsch beißen könnte, weil ich das so unbedacht herausgeplappert hatte, war ich doch gerade irgendwie ein bisschen froh darüber, dass mir dies passiert war. Zu sehen, wie Samra endlich mal einen Dämpfer bekam, war zufriedenstellend. Die Gedanken darüber, was das später für Auswirkungen haben würde, wenn Vladislav nicht mehr dabei war, schob ich lieber mal ganz weit weg.
„Egal, nahui. Im Moment will ich lieber rausfinden, wer diese Schwänze waren."
„Aber Capi, sag ehrlich. Du willst doch auch, dass sie wieder bei uns wohnt. Es ist sicherer."
Fing der jetzt schonwieder damit an?
Vladislav musterte mich mit gerunzelter Stirn. Es war ihm anzusehen, dass die Gier nach Rache dafür sorgte, dass er nicht klar denken konnte. Zumindest, wenn es um etwas anderes als diese drei Typen ging. Ich hätte vermutet, dass Vlad jetzt alles stehen und liegen ließ, um sich um seine Rache zu kümmern. Dass er keinen Kopf hatte, um sich über solche Kindereien Gedanken zu machen. Doch entgegen meinen Erwartungen seufzte er, fuhr sich durch seine schwarzen Haare, und sah mich dann mit verzweifeltem Blick an.
„Baby?" In seinen Augen las ich, dass er Wert auf meine Meinung legte. So wichtig es ihm auch war die Sache zu klären – ich sah, dass ihm bewusst war, dass unsere Beziehung noch immer auf ganz dünnem Eis stand.
„Nein, tut mir leid. Wie gesagt, ich entscheide, wann ich dafür bereit bin. Nicht ihr."
Außerdem betraf mich dieser Angriff nicht einmal. Sie wussten ja nicht einmal wer ich war. Und dass ich sie angelogen hatte, wussten sie hundertpro auch. Auch wenn sie so aussahen, dumm waren sie mit Sicherheit nicht. Ich sah also keine Notwendigkeit, sofort wieder zurück zu den Jungs zu gehen, und mich somit unter Vollzeitschutz stellen zu lassen.
„Du hast die Frau gehört, Bruder."


Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt