Part 85 ~ Allah wusste immer schon, der Junge ist ein Psycho

213 19 6
                                    

Noch immer stand ich da, mit sich fast überschlagendem Herzschlag, und betrachtete den auf meinem Bett kauernden Rapper.
Bei genauerem Hinsehen erkannte ich das geronnene Blut an seinen Fingerknöcheln, seinem Hals, und seiner Lippe. An seinem weißen, schmutzigen, ebenfalls mit Blut befleckten Shirt fehlten einige Knöpfe.
„Was ist passiert?", wollte ich von ihm wissen.
„Einfach verpisst hast du dich.", knurrte er verwaschen. Sein desorientiertes, wirres Verhalten ließ mir keine Zweifel - der war völlig zugedröhnt.
Samra erhob sich schwankend von meinem Bett, und trat dann mit unsicherem, wackeligen Gang näher an mich heran.
„Und dich dann nicht mehr gemeldet."
„Warte, Stopp.", bremste ich ihn aus, indem ich meine Hände auf seine Brust legte. Weiterhin wankend stand er nun vor mir, mit hasserfülltem Blick. Ich hatte vergessen, wie riesig er eigentlich war. Vladislav war ja schon groß, aber mit Samra konnte er nicht mithalten.
„Du warst doch derjenige, der sich lustig über mich gemacht hat, als ich gesagt habe ich gehe zu meinen Eltern. Dich hat es doch gefreut, dass ich vorübergehend ausgezogen bin."
„Stimmt gar nicht.", brummte er. Sein Schwanken war nun so stark, dass es aussah, als würde er jeden Augenblick nach hinten umfallen.
„Du bist total betrunken."
„Nein, stimmt auch nicht. Nur ein bisschen.", rechtfertigte er sich heiser.
„Wie bist du hergekommen?"
„S-Bahn."
„Okay.", seufzte ich.
„Schaffst du es, dich sauber zu machen?"
Samra schüttelte müde mit dem Kopf. Das hätt er lieber lassen sollen, denn dadurch schwankte er noch viel gefährlicher als eben.
„Okay, komm. Wir müssen das Blut abwaschen."
Ich griff ihm unter den Arm, um ihm ein bisschen Halt zu geben. Wäre er gefallen, hätte ich ihn weder fangen noch aufhelfen können. Dafür war er zu schwer, und ich viel zu schwach. Also verhinderte ich, dass er zu Boden fiel, und führte ihn stützend ins Badezimmer.
„Setz dich da hin.", äußerte ich schnaufend. Dadurch, dass er kaum Kraft hatte, um sich selbst auf den Beinen zu halten, war es unheimlich schwer, ihn irgendwo hinzubewegen. Dennoch schaffte ich es, ihn auf dem kleinen Hocker neben der Dusche abzusetzen. Ich schnappte mir einen Waschlappen, befeuchtete ihn mit klarem, lauwarmen Wasser, und begann dann vorsichtig, sein Gesicht sauberzumachen. Immer wieder fiel sein Kopf kraftlos nach vorne, weshalb ich ihn vorsichtig halten musste.
„Was hast du nur gemacht?", fragte ich ihn. Samra war jedoch nur noch körperlich anwesend, was meine Frage eher zum Monolog machte. Als ich mit dem Waschlappen seine offene Lippe berührte, schoss seine Hand ruckartig nach oben, und umgriff mit festem Druck mein Handgelenk. Mein Körper wurde von Panik und Adrenalin durchflutet, während ich die Luft anhielt. Mit geschlossenen Augen verzog er sein Gesicht, und ließ mich dann wieder los. Erleichtert atmete ich auf.
„Tut weh.", murmelte er im Halbschlaf.
„Ich weiß. Tut mir leid.", flüsterte ich, und machte dann behutsam weiter. Als ich mit seinem Gesicht fertig war, spülte ich den Waschlappen kurz aus. Nun widmete ich mich seinen offenen Fingerknöcheln, welche ich ebenfalls vorsichtig abtupfte. Der Libanese grummelte leise, und öffnete dann seine Augen.
„Lan was machst du?", brummte er stirnrunzelnd.
„Du bist blutverschmiert."
Schlagartig stand er auf, woraufhin ich erschrocken zurückwich. Ich wusste nicht, was auf einmal in ihn gefahren war. Er trat immer näher an mich heran, und drängte mich somit weiter zurück.
Als ich schlussendlich den Waschbeckenrand an meiner Lendenwirbelsäule spürte, zog ich scharf die Luft ein. Samra ließ sich dadurch nicht bremsen und lehnte sich so gegen mich, dass ich seinen Gürtel an meinem Bauch spüren konnte. In diesem Moment wusste ich gar nicht, wie mir geschah. Völlig überfordert mit der Situation legte ich meine Hände hinter mir ans Waschbecken, um Halt zu finden. Der Libanese lehnte sich mit einem leisen Knurren weiter nach vorne, sodass ich mich zurücklehnen musste. Nun stützte er ebenfalls seine Hände am Waschbeckenrand ab. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter über meinem. Als er näherkam, drehte ich meinen Kopf ein Stück zur Seite, um noch irgendwie ausweichen zu können. In dem Moment, als ich seinen Atem in meinem Ohr spürte, drohte mein Kreislauf zu kollabieren.
„Du hast mich zurückgelassen. Eiskalt. Wie eine Schlampe hast du dich verpisst."
Seine Stimme bescherte mir am ganzen Körper Gänsehaut.
„Ich hatte mich verabschiedet.", flüsterte ich. Die Angst, das Adrenalin und Samras warmer Atem in meinem Ohr raubten mir die Stimme.
„Ich dachte, du bluffst. Ich dachte, du kommst wieder."
Seine Stimmlage hatte sich verändert. Nun klang sie nicht mehr wütend oder knurrig, wie bis gerade eben noch. Man hörte die Depression dahinter. Enttäuscht und gekränkt wie ein kleiner Junge, den man einfach zurückgelassen hatte. Jetzt erkannte ich auch, warum er in diesem Zustand in mein Zimmer gekommen war. Er fühlte sich einfach zurückgelassen.
„Tut mir leid.", entschuldigte ich mich leise. Als ich mein Gesicht wieder zu ihm drehte, zog er seinen Kopf einige Zentimeter zurück.
„Sorry, aber es musste sein. Ich musste raus." Der schwarzhaarige Riese sah mich mit gebrochenem, traurigen Blick an. Für einige Sekunden schauten wir uns einfach nur in die Augen, ohne dass einer etwas sagte. Als die Stille bereits begann unangenehm zu werden, bewegte er seinen Kopf plötzlich wieder nach vorne.
„Sam, nein!", bremste ich ihn aus. In diesem Moment rutschte seine Hand hinter mir ab, und er fiel ungewollt nach vorne.
„Sorry.", nuschelte er, nachdem er sich schnell wieder aufgerafft hatte. Sein Gürtel, der die ganze Zeit kein Problem darstellte, hatte sich in der Sekunde als er nach vorne gefallen war direkt auf meine Wunde gedrückt. Entsprechend zog sich nun für einen kleinen Moment ein fieser, stechender Schmerz durch meinen Bauch, welcher mich die Augen zusammenkneifen ließ. Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich, wie Samras Hand sich vom Waschbeckenrand gelöst hatte. Er sah stirnrunzelnd auf die schmerzauslösende Stelle hinab, und schien zu überlegen. Während er sich zu konzentrieren schien, benutzte er seine Hand, um mein Top ein Stück nach oben zu schieben.
„Nicht!", quietschte ich, als er ungefragt seine große, warme Handinnenfläche direkt auf dem Pflaster platzierte.
„Sht.", zischte er leise, und drückte dabei sanft auf meinen Bauch. Seine Augen waren geschlossen, während er einen hochkonzentrierten Gesichtsausdruck auflegte.
„Was wird das?", fragte ich verunsichert. Für eine gefühlte Ewigkeit lang stand er einfach nur da, mit der Hand auf meinem Bauch liegend. Um ehrlich zu sein machte er mir allmählich ein bisschen Angst.
„Ich heile dich.", nuschelte er, als ich schon dachte er sei im Stehen eingeschlafen.
„Du heilst mich? Mit deiner Hand?", hakte ich verwundert nach.
„Hmm.", brummte er leise. „Ich hab Kräfte."
„Das Einzige was du hast, ist zu viel Alkohol intus. Oder was auch immer du genommen hast."
Damit schob ich seine Hand von meinem Bauch weg.
„Ey, warum lässt du mich nicht machen?", wollte er empört wissen. Jedoch erhielt er darauf keine Antwort.
Torkelnd drehte er sich von mir weg, und schwankte in Richtung Tür.
„Samra, warte.", bremste ich ihn aus.
„Fass mich nicht an, ich komm schon klar."
Der eingeschnappte Libanese schleppte sich aus dem Badezimmer heraus, und hatte beinahe die Tür erreicht. In letzter Sekunde hüpfte ich vor ihn, um somit den Weg zu blockieren.
„Verpiss dich, geh.", knurrte er taumelnd.
„Du bist nicht mehr in der Lage, alleine nach Hause zu kommen."
„Doch, bin ich."
„Du kannst keine zwei Schritte alleine gehen, ohne fast das Gleichgewicht zu verlieren."
„Wallah Josy, wenn du nicht von der Tür weggehst...", drohte er grollend. Schwankend trat er einen Schritt nach vorne, wo er sich dann mit der rechten Hand am Türgriff abstützte. Zum Glück ging die Tür nach innen auf, sonst wären wir in diesem Moment beide der Länge nach umgefallen.
„Ich schwöre, ich schieb dich weg, wenn du dich nicht verpisst.", wollte er mich einschüchtern. Aber da wir beide wussten, dass er durch den Alkohol nicht bei Sinnen, und schon gar nicht bei Kräften war, hatte ich auch nichts zu befürchten. Dennoch begann mein Herz vor Aufregung schneller zu schlagen, als der betrunkene Riese mir wieder näherkam.
„Weiß Vladislav, dass du hier bist?"
Samra schüttelte mit erzürntem Blick den Kopf. Noch einmal trat er ein paar Zentimeter an mich heran.
„Und du wirst ihm das auch nicht sagen, kapiert?" Seine linke Hand fand wieder den Weg zu meinem Bauch. Nur, dass er sie dieses Mal nicht auf die gepflasterte Wunde, sondern an meine Taille legte. Ohne mir die Chance zu geben etwas dagegen zu sagen, zog er meinen Unterkörper plötzlich an seinen heran.
„Sonst ist die Stichwunde dein kleinstes Problem.", vervollständigte er seine Drohung.
„Ich hab keine Angst vor dir.", trotzte ich ihm mutig entgegen. „Und ich sage ihm Bescheid, ob du willst oder nicht."
In seinen Gesichtszügen spiegelte sich seine unfassbare Wut wider. Ehe ich mich versah, schnellte seine Hand zu meiner Kehle hinauf. Unsanft drückte er meinen Kopf gegen die Tür, und kam mit seinem Gesicht näher an mich heran.
„Wenn du das machst...", brummte er bissig, und drückte sich wieder gegen mich. „Wallah, dann fick ich dich."
Ich schluckte schwer, und sah ihm direkt in seine dunklen, vor Zorn glühenden Augen. Mein Herz pochte so schnell, dass mir schwindelig wurde. Dennoch versuchte ich weiterhin stark zu bleiben, und ihn nicht Gewinnen zu lassen.
„Mach doch.", krächzte ich, der Erschöpfung nah. Anders als erwartet, verringerte sich der Druck auf meiner Kehle plötzlich. Schnaufend entfernte er sich mit seinem Kopf ein Stückchen, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen. Er fuhr sich durch seine ohnehin schon verwuschelten Haare, und atmete einige Male tief durch. Instinktiv griff ich nach seinem Arm, und zog ihn dann so schnell es ging in Richtung Bett, bevor er zusammenbrechen konnte.
„In deinem Zustand fickst du heute niemanden mehr."
„Lass mich, ich kann das alleine.", nörgelte er, und wollte schonwieder aufstehen. In diesem Moment reichte es mir.
„Nein!", schnauzte ich, und drückte ihn wieder zurück aufs Bett.
  „Was denkst du, wer du bist, hm? Wie redest du mit mir?", schoss er zurück.
„Bitte, leg dich einfach hin und schlaf. Du würdest nicht einmal die Treppen schaffen, wie willst du dann nach Hause kommen?"
Mit gesenktem Kopf und einem leisen Brummen gab er endlich nach.
„Komm, wir ziehen das Ding aus.", sagte ich so sanft wie möglich, und half ihm aus seinem Shirt heraus.
„Ziehst du mir auch die Hose aus?", fragte er, mit gut gespieltem Hundeblick.
„Nein, die ist sauber."
„Hmm.", grummelte er wieder.
Nachdem ich dem betrunkenen Rapper ins Bett geholfen hatte, war es auch für mich an der Zeit, mich hinzulegen. Nun stand aber die Frage aller Fragen im Raum: Legte ich mich zu Samra, oder sollte ich unten auf der Couch schlafen? Bei der zweiten Variante würden meine Eltern mit Sicherheit Fragen stellen. Auf die Unterhaltung warum, wieso und weshalb konnte ich gut verzichten. Also entschied ich mich, mit ausreichend Abstand im selben Bett mit ihm zu schlafen. Um mein Gewissen zu beruhigen, gab ich aber noch Vladislav Bescheid. Ich wollte nicht, dass er später davon über Dritte erfuhr, und es dann das nächste große Theater gab.
Normalerweise dauerte es immer lange, bis man von Vladislav eine Antwort erhielt. Dieses Mal ging es allerdings überraschend schnell. Erst schrieb er ewig, dann wieder nicht. Als nächstes war er offline, für circa zehn Sekunden. Nun schrieb er wieder. Verfasste der gerade einen Roman, oder warum brauchte er so lange? Dieses Warten ließ mich unruhig werden. Eine gefühlte Stunde später kam dann endlich eine Antwort auf meine Nachricht.

Mademoiselle ~ Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt