17: Alleine unterwegs

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Vic:

Noch nie zuvor war ich so erleichtert gewesen, endlich etwas Abstand zwischen mich und meine Adoptiveltern zu bringen. Erleichtert ließ ich mich auf meinen Platz am Fenster des Flugzeuges fallen und atmete erst einmal tief durch. Mein Herz schlug aufgeregt gegen meinen Brustkorb. Nervös wischte ich mir  meine feuchten Fingern an meinen nackten   Oberschenkeln ab. Ich war froh,  dass aufgrund der Klimaanlage im Flugzeug deutlich angenehmer Bedingungen herrschten, als das tropische typisch spanische Sommerwetter  draußen vor dem Flughafengebäude.

Nach und nach füllte sich das Flugzeug mit den anderen Passagieren, die  mit mir die Reise zum Hamburger Flughafen antreten würden. Die meisten von ihnen sprachen Deutsch, so weit ich es beurteilen konnte und waren   vermutlich auf dem Rückweg von ihrem Sommerurlaub . Mit einem vorfreudigen Lächeln auf den Lippen griff ich in meinen Sportbeutel und zog aus diesem mein Smartphone und meine Kopfhörer heraus, denn mir würde eine fast dreistündige Flugreise bevorstehen. Nervös rutschte ich    auf meinem Sitzplatz hin und her. Es war mein erster Flug ohne die Begleitung meiner Eltern und es hatte mich viel Überzeugungskraft    gekostet, dass sie mir erlaubt hatten ganz alleine nach Norddeutschland zu reisen, um meinen großen Bruder Travis in Kiel zu besuchen. Doch ich war seit zwei Monaten mit meinen Abschlussprüfungen durch und hatte  mich  in meiner Heimatstadt Granollers seit Tagen zur Tode  gelangweilt. Da für die drei nächsten Wochen mein Trainer Paolo auch  noch das  Training  ausgesetzt hat, weil zu viele Spielerinnen im Urlaub waren, dass es  keinen Sinn machte zu trainieren, hätte ich nicht mehr  gewusst,  was ich mit meiner ganzen freien Zeit anfangen hätte sollen. Alle meine  Freundinnen waren im Urlaub oder besuchten gerade ihre   Verwandten. Und  alleine den ganzen Tag am Strand rumzuliegen, machte dann doch nicht so viel Spaß. Umso mehr freute es mich endlich mal wieder aus Granollers herauszukommen. Ich wusste nicht so Recht, wann ich das letzte Mal meine Heimatstadt für eine längere Zeit verlassen hatte.

Doch das war eben der Nachteil, wenn deine Eltern eine große Anwaltskanzlei besaßen und sich kaum Zeit für Urlaub freischaufelten. Es war jedoch nicht immer so gewesen. Früher waren wir oft vereist. Ich spürte dieses    Stechen in der Brust, welches sich immer in mein Herz bohrte, wenn ich daran dachte, wie sich unsere Familie in den letzten Jahren verändert hatte.  Das Flugzeug setzte sich in Bewegung und über die Lautsprecher wurde auf Deutsch durchgesagt, dass das Flugzeug in  wenigen Sekunden Richtung Hamburg abheben würde. Obwohl ich seit ich denken konnte in Spanien zuhause war, konnte ich doch etwas Deutsch, weil meine Mutter   ursprünglich aus Kiel stammte. Bei dem Gedanken zum ersten Mal seit dem Tod meines Großvaters vor gut einem Jahr an die  Fördestadt zurückzukehren, zog sich mein Magen krampfhaft zusammen.  Das Loch,   welches sein Tod in meinem Herzen hinterlassen hatte, saß noch immer tief, schließlich war er schon immer einer der wichtigsten Personen in meinem Leben gewesen, obwohl ich ihn meistens nur in den  Ferien gesehen hatte. Wie sehr ich es vermisste ihn abends nach dem Training anzurufen und ihm von meinem Tag zu erzählen. Er war schon immer mein größter Unterstützer gewesen. Ohne ihn hätte ich vermutlich nie das Handballspielen angefangen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich gerade einmal vier war, als er mich und meinen großen  Bruder Travis, der damals bereits Handball gespielt hatte, zu einem Spiel des THW Kiels   mitgenommen hatte, als wir in den Ferien bei ihnen zu Besuch gewesen waren. Laut Erzählungen meiner Familie habe ich damals zwar kein bisschen verstanden, worum es bei dem Spiel eigentlich ging, doch war so von der Atmosphäre in der Halle berührt gewesen, dass ich gesagt hatte, dass ich das auch machen will.

Auch wenn die Erinnerungen so schön waren, schmerzten sie auf der anderen Seite so sehr und das Loch in meinem Herz drohte wieder größer zu werden. Was würde ich dafür geben noch einmal  mit den beiden in der Kieler Ostseehalle zu stehen. Doch dies würde vermutlich nie wieder geschehen. Mein Opa war leider nicht mehr unter uns und ich wusste    nicht, ob mein Bruder jemals wieder bereit sein wird, eine Handballhalle von innen zu betreten. Nicht nur der Tod meines Opas hatte dazu geführt, dass sich unsere Familie verändert hatte. Nein. Die größte   Veränderung gab es dadurch, dass mein großer Travis und mein Vater sich dermaßen verstritten hatten, dass sie seit fast zwei Jahren kein Wort mehr miteinander wechselten. Travis war danach nach Kiel umgezogen und    das hatte nicht nur das Verhältnis zu meinen Eltern, sondern auch das Verhältnis zwischen uns in Mitleidenschaft gezogen. Zwar hatte ich im Gegensatz zu meinen Eltern nach wie vor Kontakt zu ihm, jedoch waren wir lange nicht mehr so eng wie wir es einst gewesen waren. Wir waren  so ziemlich unzertrennlich gewesen, obwohl er sechs Jahre älter als  ich war und wir keinerlei biologische Verwandtschaft besaßen. Trotzdem war er   schon immer mein großer Bruder gewesen und wird es auch immer sein,  auch wenn ich seit drei Jahren wusste, dass ich eigentlich adoptiert worden war und keiner aus meiner Familie genetisch mit mir verwandt war.

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