56: Schuld

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Lucie:

Die Schlusssirene erklang. Unentschieden. Das Spiel war vorbei. Es würde lediglich den direkten Freiwurf noch geben. Yara und Swantje standen immer noch beim Schiedsrichter und diskutierten mit diesem, weil wir eigentlich hätten einen sieben Meter bekommen müssen. Als dieser jedoch deutlich zu verstehen gab, dass er seine Entscheidung nicht mehr ändern würde, ließen die beiden frustriert von diesem ab. "Lucie", hörte ich meinen Trainer meinen Namen rufen. Ich drehte mich zur Bank um, wo Andi mir ein Zeichen gab, dass ich den Freiwurf werfen sollte, was auch zu erwarten gewesen war, schließlich war ich mit Abstand die Größte in meiner Mannschaft. Unterdessen stellten sich die Gegenspielerinnen bereits am Kreis für die Mauer auf. Ich könnte schwören, dass diese ganz Große vorhin nicht auf dem Spielfeld gestanden hat. Victoria kam her und gab mir den Ball. "Du schaffst das", versuchte sie mir Selbstbewusstsein zuzusprechen. Skeptisch schaute ich auf die Wand. Ich konnte nicht mal das Tor sehen. "Versuch seitlich am Block vorbeizuwerfen", flüsterte mir Victoria noch zu, bevor sie vom Schiedsrichter aufgefordert wurde, Abstand einzunehmen. Es war totenstill in der Halle. Alle Augen lagen auf mir gerichtet.

Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb. Ich hatte die Entscheidung in meiner eignen Hand. Ich würde darüber entscheiden, ob wir einen oder zwei Punkte aus unserem ersten Spiel mitnehmen würden. Ich musste gestehen, dass ich direkte Freiwürfe bisher vielleicht mal im Training geworfen hatte. Im Spiel hatte ich dies noch nie gemacht. Der Schiedsrichter pfiff und gab den Wurf frei. Weil ich selbst auch keine andere Lösung sah, hielt ich mich an Victorias Vorschlag. Ich täuschte kurz an, bevor ich mich zur Seite fallen ließ und versuchte rechts am Block vorbei zu werfen. Ich versuchte so viel Kraft wie möglich hinter den Wurf zu bekommen. Ich landete bauchlängs auf dem Hallenboden, im selben Moment in dem es einen lauten Knall gab, weil mein Wurf am Pfosten gelandet war. Die Mädchen aus Harrislee begann laut zu kreischen. Für sie fühlte es sich im Gegensatz zu uns an wie ein Punktgewinn.

Ich blieb regunglos am Hallenboden liegen und starrte nach oben an die Hallendecke. Wütend schlug ich mit der flachen Hand auf den Hallenboden. Wieso hatte ich gerade das Gefühl, dass wir das heutige Spiel nur wegen mir verloren hatten? Hätten wir das Spiel gewonnen, wenn ich mich nicht wie eine blöde Kuh in der ersten Halbzeit verhalten hätte? Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. "Mach dir keine Vorwürfe. Der Wurf war gut. Solche direkten Freiwürfe gehen meistens nicht rein", ließ eine Stimme meine Augen öffnen. Ich schaute in die blauen Augen von Victoria, die mir gerade so unerwartet bekannt vorkamen. Ich spürte ihre Hand die sich mitfühlend auf meine Schulter legte. Seufzend richtete ich mich auf. "Es fühlt sich trotzdem so an, als hätte ich es verkackt", brummte ich, bevor ich nun auch wieder vom Hallenboden aufstand, schließlich gehörte es sich, dass man sich nach dem Spiel fair mit seinen Gegenspielern abklatschte und anschließend beim Publikum für die Unterstützung bedankte.

Die Enttäuschung stand uns allen ins Gesicht geschrieben, als wir uns zu einem Kreis sammelten, anschließend kurz klatschend beim Publikum bedankten. Ich unterdrücke gezielt den Drang zu Papa auf die Tribüne blicken zu wollen, weil ich zu gut wusste, dass er mir einen Vortrag halten würde, dass man mit Egoismus und Kindergarten Verhalten kein Spiel gewinnt. Frustriert riss ich mir das Tape von den Fingern, schnappte mir meine Flasche und stapfte wütend davon in die Kabine. Ich musste erstmal den Frust über den Ausgang verdauen, bevor ich meiner Familie gegenüber treten konnte. Doch noch viel mehr ärgerte es mich, dass ich mich so blöd verhalten hatte, weil ich wusste, dass Magnus das alles auch gesehen hatte. Was dachte er nun von mir? Allein bei dem Gedanken an Magnus begann mein Herz so seltsam zu zittern und dieses seltsame Kribbeln durchströmte wieder meinen Körper. "Arg! Jetzt hör auf! Es kann dir doch scheiß egal sein, was Magnus von dir denkt", hörte ich meine wütende innere Stimme.

Wütend landete meine Trinkflasche in meiner Tasche bevor ich mich frustriert auf meinen Platz fallen ließ. Von Andis Ansprache nach dem Spiel, bekam ich nicht wirklich viel mit. Abgesehen davon, dass er unsere Leistung in der zweiten Halbzeit lobte und sagte, dass wir uns wie gewohnt Montag Abend wieder im Training sahen. Anschließend verließ er die Kabine. "Hätten sich Lucie und Victoria nicht so beschissen benommen, hätten wir gewonnen", hörte ich Yara sagen und ich spürte den wütenden Blick meiner Freundin auf mir. Ich wusste wie ehrgeizig sie war. Außerdem wusste ich selbst am besten, dass ich versagt hatte. Trotzdem fühlte sich ihre Aussage an, wie ein Schlag in die Magengrube. Impulsiv sprang ich von meinem Platz auf. "Denkst du nicht, dass ich selbst weiß dass ich scheiße gebaut habe"?, fuhr ich sie aufgebracht an. "Muss das jetzt sein", hörte ich Jessi sagen, sie wie immer versuchte die Bogen zu glätten. "Es kotzt mich einfach an, dass wir bloß wegen euren blöden Differenzen vor keine Ahnung wie vielen Jahren heute verloren haben", rechtfertigte sie sich. "Ich finde Yara hat Recht", stimmte Julia ihr zu und auch einige anderen meiner Mitspielerinnen nickten. "Das was die beiden sich in der ersten Halbzeit geleistet haben, hatte nichts mit EIN TEAM zu tun", meldete sich Tanja zu Wort, die erneut verletzt zuschauen musste. "Gut dann bin ich eben Schuld okay", fauchte ich. Ich streifte mir wortlos mein Trikot über den Kopf feuerte es vor mir auf den Boden und stapfte nachdem ich mich ausgezogen hatte, wütend davon unter die Dusche.

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