123: Auf der Suche nach mir selbst

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~Der schönsten Spiegel eines Menschens sind seine Kinder~

Vic:

Die heutigen Vorlesungen sind zum Glück irgendwie vorbeigegangen, wobei ich von diesen auch absolut nichts mitgenommen hatte, weil ich mich einfach nicht auf den Stoff hatte konzentrieren können. Der morgentliche Vorfall, bei welchem niemand geringeres als Filip Jicha vor meiner Haustür gestanden war, ließ mich einfach nicht los. Immer wieder hörte ich seine Stimme in meinem Kopf.

"Ich will mich gar nicht in dein Leben einmischen. Niemand kann dich zwingen, Steffen in dein Leben zu lassen. Das ist allein deine Entscheidung, aber ich möchte, dass du weißt, dass Lucie nichts verraten hat. Steffen hat bei der Adoptionstelle angefragt, weil er wissen will, was aus seiner Tochter geworden ist. Er hat nach wie vor keine Ahnung, dass du seine Tochter bist und es liegt nach wie vor in deiner Hand, ob die ihm eine zweite Chance geben willst und er dir deine Geschichte erzählen kann oder nicht. Ich möchte nur, dass du Lucie nicht für etwas bestraft, was sie nicht getan hat. Ich habe meine Tochter noch nie so glücklich gesehen, wie in den letzten Wochen, in denen sie mit dir unterwegs gewesen ist. Bitte lasst so ein unglückliches Missverständnis nicht wieder alles kaputt machen, was ihr euch mühevoll aufgebaut habt."

Ich wusste nicht wie lange ich schon auf meinem Bett lag und gedankenverloren Löcher in die Luft starrte. Immer wieder wanderte mein Blick die Bildergirlande entlang die sich quer durch mein Zimmer schlängelte. Sie zeigten all die Erinnerungen, die ich in den letzten 18 Jahren erlebt hatte. Sie zeigten Personen, die in mein Leben getreten waren und es irgednwann dann doch wieder verlassen hatten. Sie zeigten meine größten sportlichen Erfolge und vor allem zeigten sie mich und meine Familie. Seit ich wusste, dass ich adoptiert bin, hatte ich die vielen Fragen die damit verbunden waren, versucht hinter einer Tür in meinem Kopf zu verstecken. Meistens hatte es auch geklappt. Vielleicht waren vereinzelnd mal ein paar Fragen durch meinen Kopf geirrt, doch ich hatte versucht sie schnellstmöglich wieder hinter die Tür zu drängen. Es war einfacher gewesen mich nicht mit den Fragen, woher ich eigentlich kam, auseinanderzusetzen. Doch zu dem Zeitpunkt, an dem ich den Brief in der Hand gehalten hatte, dass mein leiblicher Vater nach 18 Jahren dann doch den Kontakt zu mir suchte, wurde diese Tür schwungvoll aufgerissen und hatten all die Fragen, die ich jahrelang hinter dieser Tür gefangen gehalten hatte, wieder freigelassen.

Gerade fragte ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn Steffen mich damals nicht zur Adoption freigegeben hätte. Hätte ich dann auch angefangen Jura zu studieren? Hätte ich auch mit dem Handball spielen angefangen, oder hätte ich doch eine andere sportliche Laufbahn eingeschlagen. Wo wäre ich größtenteils aufgewachsen? Wäre Steffen überhaupt Handballprofi geworden? Je länger ich mich mit diesen Fragen auseinandersetzte, umso lauter meldete sich mein schlechtes Gewissen zu Wort. Ich sollte gar nicht darüber nachdenken. Ich hatte meine Familie, die mich liebte. Ich hatte ein Leben, über welches ich glücklich war.  Es gab nichts was ich an der Vergangenheit hätte verändern wollen, außer vielleicht, dass mir mehr Zeit mit meinen Großeltern geblieben wäre. Und dass ich irgendwie gerne mal Ski oder Snowboard fahren ausprobiert hätte. Doch wir hatten nie Skiurlaub gemacht, weil keiner aus meiner Familie dies konnte.

Ich erinnerte mich daran, wie Lucie davon erzählte, wie Steffen für sie und ihren kleinen Bruder immer so etwas wie ein Onkel gewesen war. Oder daran, dass er Matej Nachhilfe in Deutsch gab. Augenblicklich versuchte ich diese Erzählungen mit dem herzlosen Bild des Steffens, der seine Tochter einfach weggeben hatte in Einklang zu bringen. Die beiden Bilder passten einfach nicht zusammen. Ich hatte mir immer eingeredet, dass Steffen ein gefühlloses Arschloch war, weil es einfacher war so zu verstehen, wieso er mich hergegeben hatte. Doch ich wusste auch, dass dieses Bild nicht stimmen konnte. Er wirkte immer so unfassbar freundlich und nett. Ich konnte nicht verhindern, dass ich mich fragte, ob er ein guter Vater gewesen wäre, wenn ich bei ihm aufgewachsen wäre. Und dann war da diese eine große Frage, auf welche ich im Gegensatz zu den anderen Fragen vielleicht Antworten bekommen würde, wenn ich es zulassen würde. Wollte ich die Wahrheit erfahren? Würde ich dann besser mit all dem zurecht kommen? Würde es die Sache einfacher machen? Würde ich ihm endlich wieder in die Augen sehen können?

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