105:Von Freundschaft und Familie

136 10 14
                                    

Besorgt warf Lucie immer wieder einen Blick zu Victoria hinüber, die neben ihr schweigend auf dem Beifahrersitz saß und wütend Löcher in die Dunkelheit hineinstarrte. Es war zum ersten Mal gewesen, dass Victoria im Training keine gute Figur gemacht hatte, weswegen Lucie sich noch sicher als zuvor war, dass die 17-Jährige irgendwas zu belasten schien. Sie war heute irgendwie nicht wirklich bei der Sache und schien in Gedanken versunken zu schein. Lucie spürte einfach, dass diese irgendwas zu belasten schien.

Unterdessen hatte Victoria Mühe ihre Wut auf sich selbst im Griff zu haben. Sie hasste es, wenn sie beim Training nicht überzeugen konnte. Noch immer hörte sie die aufgebrachte Stimme ihres Trainers im Ohr, der sie mehrfach heute kritisiert hatte. Sie hatte eigentlich gehofft, dass sie wenigstens im Training den Kopf ausschalten könnte, doch dies hatte nicht so gut funktioniert wie erhofft. Wütend hatten sich ihre Hände zu Fäusten geballt, während sie schweigend aus dem Autofenster hinaus in die Dunkelheit starrte. Unterdessen schwirrten pausenlos diese Fragen durch ihren Kopf und sie hatte dieses ziehende Gefühl in ihrer Brust, wie immer wenn sie sich Sorgen um ihren großen Bruder machte. Immer wieder sah sie dieses THW Kiel Trainingsshirt vor sich, welches sie aus dem Wäschehaufen gezogen hatte, als sie die Wäsche der beiden gemacht hatte. Anfangs hatte sie sich eingeredet, dass sich Travis dieses irgendwann einmal gekauft haben müsste. Doch dieses war so groß, dass unmöglich Travis gehören könnte. Zudem kam dieses seltsame Verhalten ihres Bruders seit Tagen. Sie spürte einfach, dass Travis ihr irgendwas verheimlichte. Doch bloß was? Die einzelnen Puzzleteile ergaben einfach keinen Sinn. So sehr sie auch versuchte die einzelnen Teile zu einem schlüssigen Bild zusammenzusetzen. Es funktionierte nicht. Stattdessen begann sie sich zunehmend Sorgen zu machen, dass Travis gerade wieder dabei war, auf die falsche Straße abzubiegen.

Sie spürte einfach, dass sie sich irgendwie wieder voneinander entfernten. Immer wieder fragte sie sich, ob sie ihn darauf ansprechen sollte. Doch sie hatte Angst, es nur noch schlimmer zu machen. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie ein lautes Seufzen von sich gab. Erst als sie das Wohnhaus ihrer Großeltern im Licht der Scheinwerfer erscheinen sah, kehrte sie aus ihrer Gedankenwelt wieder zurück in die Gegenwart. Sie schnallte sich ab, bevor sie sich Lucie noch einmal zuwand. "Danke fürs Fahren", bedankte sie sich bei der Tochter von Filip Jicha. Schließlich war sie echt dankbar, dass diese den kleinen Umweg in Kauf nahm, um sie nach Hause zu bringen, damit sie nicht eine dreiviertel Stunde auf den Bus warten musste in der Dunkelheit.

Lucie wusste, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, Victoria darauf anzusprechen, was heute mit ihr los war. "Ist alles okay?", fragte sie vorsichtig und schaute ihrer gegenüber dabei direkt in die Augen, in der Hoffnung irgendwas aus ihrem Blick herauslesen zu können. "Alles gut. Ich hab einfach bloß schlecht geschlafen", bastelte Victoria schnell eine Ausrede zusammen in der Hoffnung, dass Lucie diese schlucken würde. Sie wollte sie auf keinen Fall mit diesem unwichtigen Zeug vollheulen. Vermutlich machte sie sich zu viele Gedanken. Vermutlich war alles okay und sie reagierte bloß über. Sie spürte nach wie vor den besorgten Blick von Lucie auf sich. "Bis morgen", wünschte sie Lucie noch und wollte gerade den Türhebel bedienen, um die Autotür zu öffnen, da ließ sie Lucies Stimme in ihrer Bewegung innehalten.

"Ich weiß, dass wir uns noch nicht sehr lange kennen und wir jetzt nicht gerade die beste Vergangenheit haben und ich verstehen kann, wenn ich nicht gerade die Person bin, mit der du reden möchtest. Ich möchte aber, dass du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst, wenn dir irgendwas auf dem Herzen liegt", wollte Lucie sicherstellen, dass Victoria wusste, dass sie sich ihr anvertrauen könnte, wenn sie das Bedürfnis hatte mit jemanden zu reden. Schließlich wusste sie, dass sie außer ihrem Bruder hier oben niemanden hatte, mit dem sie über gewisse Dinge reden könnte. Sie wollte, dass sie wusste, dass sie für sie da war, wenn sie dies wollte.

Everything I didn't sayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt