60: Projekttreffen

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Vic:

Ich wusste nicht, was mich so plötzlich nervös werden ließ, als ich Lucie und ihrem Bruder Matej die Treppen des Mehrfamilienhauses nach oben folgte, in welchem die beiden zuhause waren. Ich war gleich nach der Uni mit Lucie mitgefahren, denn wir wollten heute mit dem Fall beginnen, den wir bis übernächste Woche zu bearbeiten hatten. Auf dem Weg hatten wir noch ihren kleinen Bruder von der Schule abgeholt, auf den Lucie an diesem Nachmittag aufpassen musste. Die ganze Fahrt über hatte dieser uns fröhlich das Ohr weggequasselt. Dabei hatte er sich lautstark über seine Deutschlehrerin beschwert, weil diese ihnen als Hausaufgabe aufgegeben hatten eine Erlebniserzählung zu schreiben und er darauf keine Lust hatte. "Das dauert Stunden", hatte sich dieser beschwert. "Würde deiner Rechtschreibung und Grammatik aber nicht schaden", hatte Lucie daraufhin nur erwähnt. "Ich kann Deutsch", hatte Matej gleich protestiert. "Vielleicht sprechen, aber nicht schreiben", hatte Lucie ihn sofort verbessert. Als sie nebenbei erwähnte, dass Matej gerade von Steffen Deutschnachhilfe bekam, hatte ich auf einmal dieses starke Ziehen in meiner Brust verspürt.

Eigentlich hatte ich gar nicht gewollt, dass ich mir über so etwas Gedanken machte. Doch augenblicklich hatte ich mir die Frage gestellt: Hätte er mir auch Nachhilfe gegeben? Erneut schaffte mein Kopf es einfach nicht diese zwei komplett unterschiedlichen Bilder von Steffen Weinhold zusammenzubringen. Einerseits war dieses Bild vom fürsorglichen und liebevollen Steffen Weinhold aus Lucies Erzählungen, der sich so liebevoll um die Kinder von Filip Jicha kümmerte. Lucies Augen leuchteten immer sofort, wenn sie nur von ihm sprach. Sie schien den Freund ihres Vaters wirklich zu lieben und auch bei Matej hatte sie dieses Strahlen erkennen können, als Lucie den Rückraumspieler des THW Kiels erwähnt hatte. Auf der anderen Seite war dann dieses Bild von ihm, wie ich ihn die letzten Jahre über wahrgenommen hatte. Als diesen herzlosen Mann, der mich einfach in ein Kinderheim gegeben hatte. Mich aussortiert hatte, wie einen Gegenstand, den er nicht mehr gebraucht hatte. Für mich gab das einfach keinen Sinn. Stattdessen wurde das Ziehen in meiner Brust nur noch stärker, je länger ich mir darüber den Kopf zerbrach. Durch meinen Körper strömte eine Mischung aus Eifersucht und Wut. Ich war seine leibliche Tochter. Doch für mich schien er nicht einmal ansatzweise Liebe empfunden zu haben. Doch Lucie und Matej schien er dagegen die Liebe zu schenken, die er eigentlich mir hätte zeigen sollen.

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich beinahe an Lucie und Matej vorbeigelaufen wäre, die vor einer der Wohnungstüre stehengeblieben waren. Matej wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen bis Lucie den richtigen Schlüssel gefunden hatte und die Wohnungstür aufschloss, durch welche ihr kleiner Bruder sofort stürmte. Seine Schultasche landete direkt neben der Tür rücksichtslos auf dem Fußboden und auch seine Straßenschuhe verteilte er kreuz und quer im Flur. "Matej", rief Lucie ihrem Bruder noch streng nach, doch dieser streckte ihr nur frech die Zunge raus, bevor er in einem der Zimmern verschwand. Seufzend begann Lucie also eigenhändig die Schuhe aufzusammeln und sorgfältig im Schuhschrank zu verstauen. "Manchmal könnte ich ihn echt", fauchte Lucie wütend. "Normalerweise macht er das nicht, aber aus irgendeinem Grund muss er sich wohl gerade besonders aufspielen", erklärte diese weiter und verdrehte genervt die Augen. Ich hingegen stand nach wie vor im Treppenhaus, denn ich hatte mich noch nicht getraut die Wohnung zu betreten. Zwei unterschiedliche Gefühle durchströmten meinen Bauch. Es war irgendwie ein seltsames Gefühl in das Zuhause des Ex-Profihandballers Filip Jichas einzudringen, zu welchem ich selbst einst aufgesehen habe und der zudem noch mit meinem leiblichen Vater zusammen war. Irgendwie fühlte es sich auf einmal so an, als würde ich diesem nachspionieren. Ich wusste auch, dass das vermutlich alles übertrieben war. Doch ich konnte nichts gegen diese Unsicherheit tun. Sie war einfach da und schien meinen Körper zu beherrschen. Vermutlich war das Ganze dann doch noch etwas zu viel für mich, auch wenn mich eine gewisse Neugier gepackt hatte. "Als Papa noch hier gewohnt hat, hätte er sich das vermutlich nicht getraut", seufzte Lucie, die gerade ihre eigenen Schuhe ebenfalls in dem Schuhschrank verstaute, wobei ihr Blick auf eins der Familienfotos wanderte, welche auf dem Schuhschrank im Flur standen. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie es wohl für Lucie gewesen sein musste, als sie erfahren hatte, dass ihr Vater eigentlich auf Männer stand. Für sie musste das Ganze wohl auch nicht so einfach gewesen sein.

Everything I didn't sayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt