198: Völlig am Ende

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Lucie:

28:29! Der Schlusspfiff war bereits vor einigen Minuten erklungen und die Spielerinnen der SG BBM Bietigheim lagen sich überglücklich in den Armen, während ich noch immer an der Stelle, wo es mich bei meiner letzten Aktion im Spiel auf den Boden gelegt hatte, saß und frustiert auf den Ball starrte, der eine Sekunde zu spät in das blöde Tor gerollt war. Ich zittterte am ganzen Körper. Ich wollte ja aufstehen. Doch ich fühlte mich nicht in der Lage aufstehen zu können. Ich war vollkommen mit dem Kräften am Ende. Ich wusste jedoch, dass den anderen dies auffallen würde, wenn ich mich nun vom Hallenboden erheben würde und dann vermutlich wie ein nasser Kartoffelsack in mich zusammensacken würde, weil sich meine Beine nicht in der Lage fühlten mich zu tragen. Während ich darauf wartete, dass mein Körper wieder einigermaßen zu Kräften kam, war mein Gehirn bereits dabei das Spiel zu verarbeiten.

Ich konnte nicht verhindern, dass ich begann mir Vorwürfe zu machen. Wieso hatte ich nicht eine Sekunde früher geworfen? Wieso war ich nicht schneller Richtung gegnerisches Tor gelaufen? Wieso hab ich vielleicht eine Sekunde zu lange überlebt? Wir hätten es in die Verlängerung schaffen können, hätte ich diesen verdammten Ball schneller im Tor unter gebracht. Ich war schuld daran, dass wir als Verlierer auf dem Spielfeld standen. Wieso war ich so egoistisch gewesen und hatte wieder die Verantwortung übernehmen wollen, obwohl ich bereits gemerkt hatte, dass meine körperliche Verfassung dem Ende geneigt war? Yara hatte Recht. Vermutlich hatte ich die Heldin spielen wollen. Ich hätte den Ball einfach abgeben sollen.

Ich spürte wie sich eine Hand auf meine Schulter legte. Erschrocken zuckte ich zusammen und blickte in das niedergeschlagene Gesicht von Victoria, die sich mir gegenüber auf den Boden gekniet hatte und mich nun besorgt musterte. "Alles okay?", fragte sie mich. "Was soll denn bitteschön okay sein? Ich hab es nicht geschafft diesen beschissenen Ball innerhalb der Zeit im Tor unterzubringen. Wegen mir haben wir die Meisterschaft verloren und du fragst mich, ob alles in Ordnung ist", fuhr ich sie wütend an. Von der Wut angetrieben, bekam ich überraschenderweise nun wieder einen Kraftschub und schaffte es wieder vom Hallenboden aufzuspringen und ließ Victoria einfach an Ort und Stelle stehen und lief auf die andere Spielfeldhälfte zurück, in der meine Mannschaftskolleginnen mit hängenden Köpfen standen. Diese Enttäschung in ihren Gesichtern zu sehen, machte es nicht besser. Ein bitterer Geschmack stieg mir den Hals hoch. Sie klopften mir mitfühlend auf die Schulter, doch es fühlte sich nicht so an als hätte ich Mitleid verdient. Im Gegenteil! Sie sollten sauer auf mich sein! Ich war schuld daran, dass ihr Traum vom Titel geplatzt war.

Erst setzte ich Victoria unsere beste Spielerin durch einen Unfall, den ich verursachte hatte, weil ich mit den Gedanken abwesend war, außer Gefecht. Und dann bin ich zu blöd, diesen Ball rechtzeitig im Tor unterzubringen. Ich hatte immer diesen Glauben gehabt, dass ich ein wichtiger Baustein in der Mannschaft war und die Mannschaft mit meinen Stärken vorantreiben würde. Heute hatte ich der Realität ins Auge geblickt. Ich war nicht so gut, wie ich immer glaubte zu sein. Vermutlich wären sie ohne mich besser dran. Von den folgenden Minuten nahm ich nur gefühlt die Hälfte so richtig wahr. Ich wusste noch, dass wir uns von unseren Mitspielerinnen fair verabschiedeten. Uns dann beim Publikum für die Unterstützung bedankten. Wir dann unsere Silbermedaille abholten und anschließend in der Kabine verschwanden.

Dort saß ich nun. Die Beine an meinen Oberkörper gezogen und versuchte die Niederlage irgendwie zu verarbeiten, während Andi versuchte uns mit einer Motivationsrede wieder aufzubauen, die er sich vermutlich gerade schenken konnte, weil wir allesamt enttäuscht waren. Als er fertig war, verspürte ich das Bedürfnis, auch ein paar Worte an meine Mannschaft zu wenden. Ich wollte mich entschuldigen, dafür, dass ich ihnen die Chance auf die Meisterschaft genommen habe. "Ehm... ich weiß. Ihr wollt vermutlich gerade einfach nur alle nach Hause, aber ich hoffe ihr habt noch eine Minute, denn ich möchte noch was loswerden. Es tut mir leid. Ich weiß, dass die Niederlage heute zu 100% auf meine Kappe geht. Ich bin schuld daran, dass Victoria uns heute nicht unterstützen konnte und ihr Kindheitstraum, einmal auf dem Spielfeld der Kieler Ostseehalle Handball zu spielen, nicht in Erfüllung ging. Und Yara, du hattest Recht. Ich bin egoistisch. Ich wollte versuchen, den Ausfall von Victoria wieder gut zu machen, indem ich die Heldin spiele, was vollkommen idiotisch ist, weil niemand Victoria alleine ersetzen kann. Und vor allem nicht ich. Vermutlich hätte ich heute auch gar nicht auf dem Spielfeld stehen sollen, weil ich körperlich und geistig nicht ansatzweise bei 100% gewesen bin. Ich hoffe ihr könnt mir verzeihen, dass ich euch den Sieg genommen habe. Vermutlich ist es auch besser, wenn ihr nächste Saison ohne mich wieder von vorne angreift, denn man hat heute gesehen, dass ich euch nur alles mit meiner egoistischen Verhalten kaputt mache. Danke, dass ihr mir eure Aufmerksamkeit geschenkt habt", beendete ich meine Rede, bevor ich mir schnell meine Trainingsjacke schnappte und bevor jemand etwas erwidern konnte, aus der Kabine stürmte. Ich hatte das Gefühl gerade keine Luft zu bekommen. Ich hatte mich dort drinnen gerade wie in einem Gefängnis gefühlt. Ich musste einfach raus.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 28 ⏰

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