195: Schuldgefühle

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Lucie:

Sonntag. 05.Juni.2022. Kurz nach zehn Uhr. Etwas weniger als eine Stunde bis zum Anpfiff des Finalspiels der A-Jugendbundesliga zwischen der HSG Mönkeberg-Schönkirchen und der SG BBM Bietigheim. Ich saß auf dem Hallenboden der Kieler Ostseehalle und dehnte mich gerade. Eine Mischung aus Vorfreude und Nervösität durchströmte meinen Körper, während ich meinen Blick durch die riesige Veranstaltungshalle schweifen ließ. Von hier unten wirkte sie noch größer und beeindruckender als von den Zuschauerrängen. Vereinzelt betraten bereits Zuschauer mit weißen Trikots des THW Kiels die Halle, obwohl das kleine Nordderby in der Handballbundesliga zwischen dem THW Kiel und dem HSV Hamburg erst in guten vier Stunden angepfiffen werden würde. Doch alle Ticketinhaber hatten mit ihrem Ticktet für das Heimspiel des THW Kiels gleichzeitig auch Eintritt zum Final4 Turnier der weiblichen A-Jugendbundesliga bekommen und bereits gestern hatten überraschend viele Fans des THW Kiels dieses Geschenk angenommen und uns bei unserem Halbfinalspiel gegen den BVB lautstark unterstützt. In einem kräfteraubenden Spiel hatten wir uns nach Verlängerung im Sieben Meter werfen durchsetzen können, vor allem weil Jessi gleich zwei sieben Meter unserer Gegnerinnen parieren konnte.

Ich wechselte die Seite und begann nun meine linke Seite zu dehnen. Nun fiel mein Blick auf die Bank, auf welcher normalerweise die Profis der Handballbundesliga saßen. Auf einen der bequemen Sitze in der Mitte saß Vic. Sie starrte mit diesem deprimierten Blick in die Leere, welcher mir augenblicklich das Herz zerriss und den bitteren Geschmack der Schuldgefühle wieder in mir aufsteigen ließ. Ich war schuld, dass sie dort draußen saß und sich nicht neben mir warmmachte. Dieser Gedanke ließ mich einfach nicht los. Ich war schuld daran, dass sich ihr Kindheitstraum nicht erfüllt hatte. Immer wieder hörte ich sie in den Minuten vor unserem Unfall aufgeregt erzählen von ihrem ersten Handballspiel als kleines Mädchen, dass sie live in der Kieler Ostseehalle gesehen hatte. Wie sie damals als sie wieder zuhause waren stolz verkündet hatte, dass sie auch Handball spielen will, um irgendwann auch vor einer ausverkauften Halle auf diesem Spielfeld zu spielen. Ok! Ausverkauft würde das Spiel gleich nicht sein. Aber trotzdem hatte ich ihr die Chance genommen, ein wichtiges Spiel auf diesem Hallenboden spielen zu dürfen. Ich sah wieder ihren verletzten und enttäuschten Blick, als sie nach dem Unfall erfahren hatte, dass sie heute nicht auf dem Spielfeld stehen konnte. Dieser Blick fraß sich tief in das Innere meines Herzens hinein.

Es waren fast zwei Wochen seit dem Unfall vergangen. Glücklicherweise hatte sich Victorias Milz relativ schnell wieder erholt. Nach einer Woche, in der Steffen und ich sie mehrfach am Tag im Krankenhaus besucht hatten, konnte sie wieder nach Hause. Weil sie jedoch ihrem Bruder nicht zur Last fallen wollte, war sie vorrübergehend bei Steffen, Filip und mir eingezogen. Die Ärzte hatten ihr erlaubt wieder mit mir die Vorlesungen zu besuchen. Doch nach wie vor hatte sie absolutes Sportverbot und auch das Heben von Gegenständen war untersagt. Lediglich kleine Runden spazieren gehen durfte sie wieder. Ich war froh, dass sie wenigstens mit uns auf der Bank sitzen konnte. Doch ich wusste nicht, ob das die Sache für sie nicht nur noch schwerer machte. Uns als Mannschaft jedoch half es sie wenigstens in unserer Nähe zu wissen, wenn sie nicht mit uns auf dem Spielfeld stand. Auch ich war froh mich mit ihr austauschen zu können, schließlich durfte ich sie auf der Rückraum Rechten Position ersetzen, wobei ich nicht ansatzweise ihre Fußstapfen ausfüllen konnte.

Ich hatte Mühe mir ein müdes Gähnen zu verkneifen. Die zahlreichen durch Albträume geprägten Nächte seit dem Unfall machten sich wieder bemerkbar. Ich hatte seit dem Unfall keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen. Immer wieder rissen mich die Bilder des Unfalls in Form von Albträumen aus dem Schlaf. Bisher wusste zum Glück außer Victoria niemand von meinen nächtlichen Albträumen. Da Victoria bei mir im Bett schlief, war sie auch das ein oder andere Mal von meinen Schreien wachgeworden. Bisher hatte sie mich jedoch nicht darauf angesprochen und ich war echt froh darüber. Vermutlich hatten wir beide auf unsere Art und Weise mit den Folgen des Unfalls zu kämpfen. Erneut musste ich Gähnen! "Reiß dich zusammen", ermahnte ich mich selbst. Ich wusste, dass meine Mannschaft mich brauchte, wenn wir das heutige Spiel gewinnen wollten. Umso mehr ärgerte es mich, dass ich bei weitem nicht bei 100% war. Gefühlt hatte ich das gestrige Spiel auf Reserveakku bestritten. Ich war überraschend wenig zu einer guten Wurfchance gekommen. Dafür hatte ich meine Spielerin versucht in Szene zu setzen, denn ich wusste, dass meine Würfe aktuell einfach nicht platziert genug waren, um den gegnerischen Torwart zu überwinden. Lediglich drei Tore, darunter einer der sieben Meter aus dem sieben Meter werfen waren gestern auf mein Konto gegangen. Dafür waren meine Mitspielerinnen umso besser drauf gewesen. Ich hoffte, dass ich heute wieder auf ihre Unterstützung zählen konnte.

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