71: ein Hühnchen zu rupfen

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Mit den restlichen Reserven, die sein Körper an diesem Abend noch übrig hatten, schleppte sich Filip an diesem Abend die restlichen Treppenstufen nach oben zu seiner Wohnung. In seinem Kopf hörte er immer wieder die Stimme von Steffen. "Lass mich einfach in Ruhe", während sich der schmerzerfüllte Blick immer weiter in sein Herz fraß und immer größer Löcher in diesem hinterließ. Vermutlich sah dieses gerade eher aus wie ein Schweizer Käse, statt nach einem lebenswichtigem Organ. Dann mischte sich Tobys Stimme wieder ein, die ihm vorwurfsvoll mitteilte, dass er Schuld daran war, dass Steffen die letzte Nacht kein Auge zugemacht hatte und erneut wegen ihm Tränen vergossen hatte. Wie oft war er bereits rücksichtlos auf seinem Herz herumgetrampelt? Wieso war Steffen nach allem, was er ihm schon für Wunden zugefügt hatte, bisher immer wieder zu ihm zurückgekommen? Hatte Steffen nicht jemand besseren als ihn verdient? Generell schien er viel zu oft die Menschen, die er eigentlich liebte, zu verletzen. Erneut riss eine alte Wunde wieder auf und brannte sich mit tiefen Schuldgefühlen in seine Brust. Nicht nur Steffen hatte er bereits so oft Schmerzen zugefügt. Er musste wieder daran denken, wie sehr er Aneta verletzt hatte, in dem er sie mit Steffen betrogen hatte. Wie sehr er seinen Kinder wehgetan hatte, als diese erfahren hatten, dass sich ihre  Eltern scheiden ließen. Wie sehr er seine Eltern enttäuscht hatte, als diese von ihrer Scheidung erfahren hatte. Wie erfolgreich er als Sportler gewesen war, umso mehr schien er der größte Versager im richtigen Leben zu sein. Er hatte in so vielem versagt. Als Mensch, als Vater, als Ehemann und nicht zum ersten Mal als Freund.

Der Trainer des THW Kiels war so in Gedanken versunken, dass er beinahe über die Person gefallen war, die am Treppenaufgang zu seiner Wohnung auf der obersten Stufe saß und auf ihn zu warten schien. Gerade noch so bekam Filip das Geländer zu fassen, sonst wäre er vermutlich noch vor lauter Schreck rücklängs die Treppe nach unten gestürzt. "Man erschreck mich doch nicht so", entfuhr es Filip noch immer vollkommen unter Schock stehend, während er die kastanienbraunen Augen von Aneta blickte, die er nur zu gut kannte, um zu wissen, was dieser Blick zu sagen hatte. Es war der typische "Wir müssen ein ernstes Wörtchen miteinanderreden Blick". Doch Filip hatte einfach nicht mehr die Kraft dafür. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch stehen konnte. Seine Füße fühlte sich an wie Wackelpudding. Es war nur eine Frage der Zeit bis diese unter seinem Gewicht zusammenbrechen würden. Seine Augenlider drohten auch jeden Augenblick einfach zuzuklappen. Obwohl im Treppenhaus nur das schwache Notfalllicht brannte, konnte auch Aneta sehen wie erschöpft Filip war. Augenblicklich erhob sie sich von der Stufe, um Filip direkt in die Augen blicken zu können. "Können wir bitte morgen reden", flehte Filip sie an, der sich an ihr vorbei die letzte Stufe nach oben schob und seine Schlüssel aus der Jackentasche kramte, um die Wohnungstür aufzuschließen. Sein Blick fiel auf das Klingelschild, auf welchem "Steffi Jichhold", stand. Kurz huschte ein verträumtes Lächeln über seine Lippen, als er daran erinnerte wurde, wie Steffen und er sich wochenlang den Kopf zerbrochen hatten, wieso sie keine Post mehr bekommen hatten, bis ihnen irgendwann das Klingelschild vor ihrer Tür aufgefallen war. Es war ein kleiner Scherz von Lucie und Matej gewesen, die ein Shipname aus ihren beiden Namen gebildet hatten. Er persönlich hatte das Klingelschild schon lange wieder in das alte zurückändern wollen, doch Steffen hatte sich immer dagegen gewehrt, weil er es so lustig fand. Ein tiefes Seufzen entfuhr seiner Kehle. Wer weiß, ob da nicht bald wieder nur sein Name stehen würde. Allein bei dem Gedanken zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen, dass er kurz das Gefühl hatte, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Er spürte wieder diesen brennenden Schmerz in seiner Brust.

Seine Füßen schafften es dann doch sich an dem Klingelschild vorbei in den Wohnungsflur zu schleppen. Er wollte gerade mit den letzten Prozenten seiner Kraftreserven die Wohnungstür hinter sich schließen, als Aneta energisch die Wohnungstür aufhielt und sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen stellte. "So schnell entkommst du mir nicht", kam es streng von ihr und sie funkelte ihren Ex-Ehemann wütend an. "Aneta bitte... ich will einfach nur ins Bett...", jammerte Filip, der gefühlt im Schneckentempo seinen Schuh vom Fuß entfernt, wobei er mehrfach gefährlich schwankte und sich bereits wie ein Pin beim Bowling umfallen sah. Beinahe hätte Aneta etwas Mitleid mit ihrem ältesten Freund, doch sie war viel zu aufgebracht, um ihn einfach so entkommen zu lassen. Sie wollte Antworten. "Ich geh erst, wenn du mir erklärst, wieso unsere Tochter sich nachdem sie aus der Uni zurückgekommen ist in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, nichts essen wollte und kein Wort mit mir sprechen wollte. Was ist gestern Abend vorgefallen?", erwartungsvoll visierte sie den Vater ihrer Tochter an. Sie kannte ihre Familie einfach gut genug, um zu erahnen, dass sich die beiden mal wieder gestritten hatten. "Entschuldigung, dass ich unsere Tochter davor bewahrt habe, den gleichen Fehler wie wir zu machen", fauchte Filip und verteidigte sein Verhalten des gestrigen Abends. Augenblicklich rammte sich ein spitzer Gegenstand in seine Brust, als sich augenblicklich die Bilder von Steffen und seinem Streit in sein Gedächtnis drängten. "Und ich vermute, dass du mal wieder etwas überreagiert hast. Unsere Tochter ist intelligent genug, um nicht den gleichen Fehler zu machen wie wir", folgte Anetas Sichtweise zu diesem Thema in wenigen Sekunden, die Filip einfach gut genug kannte, um zu wissen, dass dieser vermutlich seine Wut gestern Abend einfach nicht im Griff gehabt hatte.

"Du willst mir also sagen, dass es für dich in Ordnung ist, dass sie mit Magnus Landin rumknutscht", schnaubte Filip unglaubig. Wieso dachten alle, dass er überreagiert hatte? "Ja...er ist doch ein anständiger Junge", kam es relativ gelassen von Aneta, die im Gegensatz zu Filip kein Problem damit zu haben schien, dass ihre Tochter mit einem deutlich älteren Junge rumknutschte. "Er ist 22. Außerdem war sie betrunken", warf Filip seine Bedenken ein, dass die beiden einfach nicht zusammenpassten. "Ja 22 und nicht 32 ok", entgegnete Aneta kopfschüttelnd, die einfach nicht verstand was Filips Problem war. Diesen schien nun ein weiterer Energieschub erfasst zu haben. "Kannst dich gerne mit Steffen zusammenschließen, der ist nämlich der gleich Ansicht, dass ich überreagiert habe. Es geht aber einfach ums Prinzip. Ich hab ihr erlaubt dorthin zu gehen, auch wenn ich von Anfang an nicht begeistert davon gewesen war unter der Bedingung, dass sie nichts trinkt. Dann komme ich dort an und was tut sie: Total betrunken einen Jungen küssen. Tut mir leid, wenn mir dann die Sicherungen durchbrennen", verteidigte sich Filip. "Ich versuche nur unsere Tochter zu beschützen und alle tun so als wäre ich der schlechteste Vater, nur weil ich mir eben Sorgen mache, dass sie von ihm verletzt werden könnte", versuchte sich Filip zu erklären, wieso er so reagiert hatte. Augenblicklich spürte er die Hand von Aneta an seiner Wange, die ihm liebevoll über diese strich und ihn nach wie vor mit diesem liebevollen Blick anvisierte, mit dem sie ihn all die fast 18 Jahre ihrer Ehe angesehen hatte. "Das ist auch eine wundervolle Eigenschaft, aber du musst sie nicht mehr in Knisterfolie einpacken. Und ich bin auch nicht begeistert davon, wenn sie gegen unsere Abmachungen verstoßt, aber glaub mir Lucie ist anständig genug, um zu wissen, was sie falsch gemacht hat. Es hätte gereicht, wenn du sie hier ermahnt hättest, aber doch nicht vor allen auf der Party", begann Aneta sachlich auf Filip einzureden, die anscheinend dann doch genauer wusste, was gestern losgewesen war, als sie am Anfang zugegeben hatte. "Hat Lucie also doch sich bei dir beschwert?", hackte Filip nach. "Sie war fix und fertig... sie ist heute Morgen schluchzend zu mir ins Schlafzimmer gekommen", berichtete Aneta, "also bitte geh zu ihr runter und rede mit ihr."

"Kann das bitte bis morgen warten. Ich glaube nämlich nicht, dass ich die Treppe nach unten komme, ohne diese gleich wie ein Ball nach unten zu poltern", flehte Filip Aneta an, ihm bitte bis Morgen Zeit zu geben. Außerdem hatte er keine Ahnung, was er jetzt sagen sollte. Sein Gehirn war gefühlt nur noch mit Schaumstoff ausgefüllt, dass in seinem Kopf kein leeres Loch zurückgeblieben war. Er war einfach nicht mehr in der Lage zu denken. Er wusste nicht ob es die Müdigkeit war oder dieser unerträgliche Schmerz in seine Brust. Die Wut auf sich selbst mal wieder alles falschgemacht zu haben, was man hätte falschmachen zu können. Ein Versager in menschlichen Dingen zu sein. "Ich muss morgen ein wichtiges Spiel leiten. Ich kann kaum mehr stehen, weil ich gestern Nacht kein Auge zubekommen habe. Ich hab Steffen morgen vermutlich nicht als Alternative. Ich saß keine Ahnung wie viele Stunde mit Sprengi zusammen und hab mir eine Strategie für morgen überlegt, dass das in keiner komplett Katastrophe endet, an der allein ich Schuld bin. Ich kann jetzt einfach nicht mehr", legte Filip ehrlich offen, wie es ihm gerade ging. Natürlich war Aneta nicht entgangen, wie fertig Filip wirkte. "Warte... was meisnt du mit, dass Steffen morgen nicht spielen kann", nun wurde Aneta hellhörig. "Wir haben uns gestritten. Ich habe etwas gesagt, was ich nicht sagen wollte, mit dem ich ihn verletzt habe. Toby will nicht, dass ich mit ihm rede. Er hat heute das Training geschwänzt und ich weiß auch nicht mehr weiter. Anscheinend bin ich Weltmeister darin Leute zu verletzen, weil ich unfähig bin meine Wut besser im Griff zu haben", gab Filip die letzten Wortfetzen von sich, die er noch in der Lage war auszusprechen. "Ich rede morgen mit ihr versprochen, aber ich muss jetzt schlafen", beendete Filip das Gespräch, bevor er sich wortlos umdrehte, im Schlafzimmer verschwand, es gerade so noch schaffte sich die Klamotten des heutigen Tages auszuziehen, bevor er aufs Bett fiel und wenig später glücklicherweise eingeschlafen war, weil die Müdigkeit seine Gedanken besiegen konnte.

Moin! 2/6 Prüfungen geschafft. Jetzt folgen nur noch die vier schriftlichen, dann ist das vierte Semester auch schon wieder rum. Wie schnell die Zeit vergeht. Manchmal echt gruselig... Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen. Allen die aktuell auch Prüfungsstress haben: Viel Erfolg und starke Nerven!

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