163: Ein Teufelskreis

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Niko:

Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so Angst davor hatte, meinen Eltern etwas mitzuteilen. Vermutlich als Teenager, wenn ich mal wieder eine schlechte Note bekommen hatte, weil meine Prioritäten klar auf dem Sport und nicht auf irgendwelchen schulischen Leistungen gelegen haben. Ich konnte nichts tun gegen das Gefühl, dass ich mich fühle als hätte ich etwas ausgefressen, das ich jetzt meinen Eltern beichten musste. Ja! Ich hatte das Gefühl mich dafür schämen zu müssen, dass ich Gefühle für einen Mann entwickelt hatte. Ich wusste auch, dass das kompletter Blödsinn war. Niemand sollte sich dafür schämen müssen eine Person gefunden zu haben, die ihn glücklich macht, nur weil diese zufällig das gleiche Geschlecht hat. Jetzt begann ich langsam zu verstehen, wieso Steffen ebenfalls so lange gebraucht hatte, seinen Eltern die Wahrheit über sich zu erzählen. Ich hab mich immer gefragt, was denn so schwer daran sei die Worte: "Ich bin schwul" oder in meinem Fall "Ich bin bi" auszusprechen. Jetzt wusste ich es. Letztendlich hatte ich mich weitere zwei Tage davor gedrückt ihnen die Wahrheit zu sagen. Nun war der zweite Weihnachtsfeiertag und meine Eltern würden bereits heute Abend nach dem Spiel wieder zurück nach Wien fliegen, weil Mamas neuer Freund ab morgen wieder arbeiten musste. Also war jetzt die einzige und letzte Gelegenheit, wenn ich die Sache endlich hinter mich bringen wollte und vielleicht so nochmal eine Chance bekommen würde bei Travis.

Zusammen mit Mariya war ich gerade dabei den Frühstückstisch zu decken. Wir waren beide schon früh wach geworden. Auch vermutlich deswegen, weil die Coach zwar eigentlich bequem war, aber man irgendwann dann immer in einer unbequemen Position endete, woraufhin man dann wach wurde. Somit hatten wir uns entscheiden, weil es zum ersten Mal an den Weihnachtsfeiertagen nicht schon morgens wie aus Kübeln geschüttet hatte zusammen einen Morgenspaziergang zum Bäcker zu machen, um frische Brötchen zu kaufen. Die Tage mit Mariya vergingen wieder viel zu schnell. Zwar würde ich morgen ebenfalls noch nach Wien fliegen und dann bis zur Vorbereitung mit der Nationalmannschaft für die EM bei ihr übernachten, aber ich hatte bereits mit einigen meiner alten Freunde etwas ausgemacht, damit wir uns auch mal wieder sehen würden, weswegen ich nicht wusste, wie viel Zeit wir beide in den paar Tagen noch zusammen haben werden. Ich packte gerade die frischen Brötchen in den Brotkorb als Mariya hinter mir auftauchte. "Wehe du sagst es ihnen heute nicht... dann übernehme ich das für dich", raunte sie mir fast wütend zu. "Ich hab schon wegen dir lauter blaue Flecken am Schienbein", beschwerte ich mich. Die letzten Tage hatte sie mich beim Frühstücken immer unter dem Tisch getreten, um mich aufzufordern jetzt endlich die Katze aus dem Sack zu lassen. "Außerdem ist das vielleicht nicht so einfach wie du denkst", verteidigte ich mich. Automatisch zog ich wieder mein Smartphone aus der Tasche und warf ein Blick auf dieses. Immer mit der Hoffnung verbunden, dass sich Travis doch bei mir melden würde und sich für sein Verhalten entschuldigen würde. Erneut nichts. Ein tiefer Seufzer entfuhr meiner Brust und an der Stelle wo mein Herz sah, spürte ich wieder diesen unerträglichen stechenden Schmerz. Ich vermisste ihn. Ich vermisste es zu hören wie sein Tag war. Ich vermisste seine Stimme. Die Art und Weise wie er zärtlich über meinen Arm streichelt. Und am meisten vermisste ich das Gefühl seiner Lippen auf meinen. Jede freie Minute musste ich an ihn denken. Er wollte einfach nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden. Ich spürte wie ich von meiner kleinen Schwester in ihre Arme gezogen wurde. "Ich seh doch wie er dir fehlt. Jetzt hab endlich die Eier und steh dazu. Ich will meinen Bruder endlich wieder so glücklich sehen wie die letzten Wochen", flüsterte sie mir ins Ohr. Ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich hatte die Möglichkeit an der aktuellen Situation unter der ich lid, etwas zu verändern. Ich sollte endlich über meinen eigenen Schatten springen und endlich meinen Eltern mitteilen, dass ich jemanden gefunden hatte, der mich glücklich machte.

Kurz darauf fand ich mich neben meiner Schwester an dem frisch gedeckten Frühstückstisch zusammen mit meinen Eltern und ihren neuen Lebenspartnern wieder. "Das habt ihr echt toll gemacht", freute sich meine Mutter über die kleine Überraschung am morgen. "Boah eigentlich habe ich keinen Hunger. Ich hab die letzten Tage so viel gegessen, aber die Brötchen duften so fies", jammerte Mariya. "Also ich hab Hunger", offenbarte ich und nahm mir ein Vollkornbrötchen aus dem Körbchen. "Das ist ja nichts neues. Wieso musstet ihr die Gene so ungerecht verteilen? Wieso kann Niko so viel essen ohne ein Gramm zu zunehmen? Und ich platze gefühlt aus allen Nähten nur nach drei Tagen, in denen ich mich mal vollgefressen habe?", beschwerte sie sich indirekt bei unseren Eltern, wobei sie natürlich übertrieb. Ich wette, dass sie kein bisschen zugenommen hatte. Außerdem hatte sie ähnlich wie ich schon immer eine schlanke sportliche Figur gehabt. "Erzähl du mir doch nichts von Fett", widersprach ihr Mama sofort. "Außerdem seid ihr beide auf eure Art und Weise so wie ihr seid perfekt", fügte mein Vater hinzu. "Außerdem sind es drei Tage im Jahr, an denen man sich mal so ordentlich rund fressen darf", meinte Mamas neuer Freund und schaufelte eine riesen Ladung Nutella auf sein Brötchen.

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