171: Phantomschmerz

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~So hört es sich also an
Wenn mein Herz bricht
Nur ich selbst merk' den Sound
Spür' ihn viel zu laut
Keiner fühlt diesen Schmerz, wenn es zusticht
Außer mir, außer mir
Schluck' Aspirin für das Zieh'n
Doch es wirkt nicht irgendwie heiß
Trotzdem kalt unter meiner Haut
Heizung an, Fenster auf? Mann, ich weiß nicht
Und alle sagen, es geht irgendwann vorbei
Und um die Wunden kümmert sich
Dann schon die Zeit
Es bleibt Phantomschmerz in meiner Brust
Doch vielleicht ist das ganz genau
Was ich fühlen muss
Um mich wieder selbst zu finden ~ Phantomschmerz Gregor Hägele

Travis:

Dunkelheit. Meer soweit das Auge reicht. Abgesehen vom Motorgeräusch des Schiffes, Stille. Ich zog den Reißverschluss meiner Winterjacke bis nach oben hin zu und setzte mich auf das vollkommen leere Schiffsdeck. Es war drei Uhr in der Nacht. Wir schipperten gerade die Ostküste von Amerika hinunter. Es war ein Monat vergangen seit ich an Bord des Kreuzfahrtschiffes gegangen bin. Der Job war anstrengend, aber vermutlich auch gerade das, was ich zu dem Zeitpunkt, an dem ich die Entscheidung getroffen hatte, gebraucht hatte. So blieb mir wenig Zeit den Schmerz und die Erinnerungen an ihn zuzulassen. Lediglich nachts suchten sie mich in den Träumen heim und sorgten regelmäßig dafür, dass ich mich mitten in der Nacht, während das Schiff so gut wie schlief, auf das Deck setzte und den Schmerz zuließ. Meistens saß ich einfach nur da, schaute aufs Meer. Manchmal weinte ich. Manchmal schaute ich mir alte Bilder an. Und dann gab es wieder Tage, an denen ich meine Kontaktliste durchging und überlegte, wen ich anrufen könnte. Irgendwann kam ich dann an den Punkt, wo ich seinen Namen entdeckte und für einen Moment überlegte, ob ich ihn anrufen sollte.

Ich starrte auf den Namen Mykola❤️ auf meinem Display. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Brust. Ich spürte wie mir die ersten Tränen über die Wange rollten. Ich wusste, dass es meine Entscheidung gewesen war, den Schlussstrich zu ziehen. Das hieß jedoch nicht, dass ich ihn nicht unfassbar vermisste. Tagsüber während der Arbeit, war der Schmerz erträglich. Doch nachts quälte er mich. Ich konnte seine blauen Augen direkt vor mir sehen. Ich schloss die Augen und versuchte mich an den Geschmack seiner Lippen zu erinnern. An das Gefühl, wie seine Hände neugierig über meinen nackten Körper gewandert waren. Das Gefühl seiner nackten Haut auf meiner. Das Gefühl, als ich in ihn eingedrungen war und wir vollkommen miteinander verschmolzen waren.

Ich konnte nicht leugnen, dass da nach wie vor diese starken Gefühle für ihn waren, auch wenn ich ihn komplett aus meinem Leben ausgesperrt hatte. Noch am selben Abend, nachdem ich am zweiten Weihnachtsfeiertag mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte ich ihn sowohl auf WhatsApp als auch auf Instagram blockiert. Einfach, weil ich nicht riskieren wollte, dass ein Anruf seinerseits wieder dazu führen würde, dass ich doch wieder zu ihm zurücklaufen würde und nicht endlich einen meiner größten Träume erfüllte, nämlich als Koch auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten, dass die Amerikanische Küste entlangfuhr. Die Vorfreude in Boston meinen ersten Landgang zu haben und den Ort, an welchem sich damals meine Eltern kennengelernt hatten, zu suchen, war bereits jetzt zu spüren, auch wenn ich mich bis dahin noch zwei Tage gedulden musste. Mein Blick schweifte wieder nach draußen auf das offene Meer.

Ich fragte mich, was Niko gerade machte. Da in Deutschland bereits früher Morgen war und Österreich wie Victoria mir mitgeteilt hatte, bereits in der Vorrunde bei der EM aus dem Turnier ausgeschieden war, vermutete ich, dass er bereits wieder in Kiel war. Ob er aber bereits wieder im Training war wusste ich nicht, denn Victoria hatte ebenfalls erzählt, dass er sich bei der chaotischen EM, bei der sich das Corona Virus wie verrückt innerhalb der deutschen aber auch anderen Mannschaften ausbreitete, auch Niko positiv zurückgekommen war. Und erneut verspürte ich das Bedürfnis ihn anzurufen. Ihn zu fragen, wie es ihm ging.

Ein Moment schaffte es mein Herz sich gegenüber meinem Kopf durchzusetzen und wie von alleine drückte mein Daumen doch auf die Nummer von Niko. Doch als ich das wählende Geräusch vernahm, überkam mich die Panik, weil ich keine Ahnung hatte, was ich überhaupt sagen sollte. Deswegen legte ich sofort wieder auf und spürte wie meine Wangen peinlich berührt zu glühen begannen und ich hoffte einfach, dass ich schnell genug aufgelegt hatte, um zu verhindern, dass er eine Benachrichtigung bekommen hatte, dass ich ihn versucht hatte anzurufen. Ich atmete tief durch und versuchte den Schmerz heraus zu atmen. Würde der Schmerz jemals nachlassen? Ich hatte gehofft, dass es einfacher wäre ihn zu vergessen, wenn ich weit genug weg wäre. Doch nach einer einmonatigen Bilanz musste ich sagen, dass es kein bisschen einfacher war.

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