1 - In Gedanken

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Oberammergau, September 2021

"Mama, Mama, darf ich auch so eine Ukulele haben wie die Frau Meier? Die hat da soo schön gespielt und das möchte ich auch können!"

Seit ihrem ersten Schultag vor einer Woche kannte Elisa kein anderes Thema mehr. Sie wollte Ukulele lernen und dann später genau so gut spielen wie ihre Klassenlehrerin der 1b, Frau Meier. Am Einführungstag der 1. Klassen hatten die älteren 4. Klässler das "Alle Kinder lernen lesen" - Lied einstudiert und mit Frau Meier auf der Bühne den neuen Schülern und deren Eltern vorgesungen.

"Elisa, ich hab dir doch gestern schon gesagt, dass ich heute nach dem Essen mal mit dir ins Musikgeschäft in Garmisch gehen werde. Jetzt mach bitte noch deine Hausaufgaben, die du heute machen sollst, dann hast du die fertig und musst morgen und Sonntag nichts mehr machen und danach fahren wir zwei runter nach Garmisch. Wenn du Hilfe brauchst bei den Hausaufgaben dann sagst' was, ich bin nur schnell im Büro und korrigiere ein paar Arbeitsblätter."

"Alles klar Mami!", antwortete Elisa grinsend, bevor sie mit ihrem Schulranzen in ihr Zimmer ging und ihre Hausaufgaben machte.

Gina atmete durch. Wochenende. Und endlich ein paar Minuten Ruhe! Klar, sie war mit Leib und Seele Grundschullehrerin und liebte ihren Beruf, aber im Moment fühlte sie sich oft überfordert. Einerseits ein Job, der nicht wie viele immer denken um 13 Uhr mit dem Verlassen des Schulgeländes endet, eine 6 jährige, aufgeweckte und extrem wissbegierige Tochter, die immer neue Herausforderungen braucht, der nie enden wollende Haushalt und der noch immer allgegenwärtige Schmerz durch den Verlust ihres Ehemannes machten ihr zu schaffen. Der Schock saß noch immer so tief, als wäre es gestern gewesen. Spät Abends kam der Anruf, der ihr Leben und das ihrer Tochter für immer verändern sollte. "Frau Müller, es tut mir leid ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Ehemann Andreas heute bei einem Attentat feindlicher Gruppen ums Leben gekommen ist."

Noch immer fühlte es sich so unwirklich an. Die Tatsache von nun an eine alleinerziehende Mutter zu sein war das eine, aber das ständige Gefühl, dass ein Teil ihres Herzens für immer fehlen und leer sein würde, war das andere. Die leere Betthälfte beim Aufwachen, der leere Stuhl beim Frühstück, kein Kaffeegeruch beim Aufstehen. Diese Momente zogen sich durch den ganzen Tag und machten Gina schmerzlich bewusst, dass ihr Andreas nun dort oben im Himmel war und nicht mehr bei ihr.

Nach dieser Nachricht fiel Gina in ein tiefes Loch, doch sie konnte glücklicherweise auf die Hilfe ihrer Eltern zählen, die nur wenige Kilometer weit weg wohnten. Sie kümmerten sich in den ersten Wochen um Elisa, wenn es Gina nicht konnte und ihr Vater, der Psychologe im Ruhestand war, hatte immer ein offenes Ohr. Und genau das half Gina sehr. Schon immer hatte ihr Vater gesagt:
"Egal was ist, Gina, du kannst mit mir drüber reden".

Und in dieser Situation nahm sie dieses Angebot fast täglich an, auch wenn es ihr zu Beginn alles andere als leicht fiel, ihren Vater so tief in ihre Gedankenwelt blicken zu lassen. Aber es half, mehr als sie dachte. Und Schritt für Schritt fand sich Gina wieder in ihrem Leben zurecht, stockte langsam ihre Unterrichtsstunden wieder auf, brachte Elisa zum Kindergarten und traf sich zum Brunch mir ihren Freundinnen. Nur ihre Gitarre stand seit diesem Tag unangetastet in der Ecke des Wohnzimmers. Zu viele Erinnerungen an Andreas hielten sie davon ab.

Elisa war noch viel zu jung um wirklich zu verstehen, warum Papa nun nicht mehr in seinen "Ferien" nach Hause kam oder warum sie nun so oft bei Oma und Opa war. Genau darüber zerbrach sich Gina den Kopf: Wie erkläre ich meiner 5 Jährigen Tochter, dass ihr Papa tot ist und nie mehr nach Hause kommt? Auch wenn das nicht die beste Lösung war, entschied sich Gina dazu, Elisa zu sagen, dass ihr Papa nun mehr arbeiten musste und nicht nach Hause kommen konnte. Die damals 5 Jahre alte Elisa gab sich mit dieser Antwort zufrieden, in letzter Zeit aber fragte sie immer häufiger nach ihrem Papa, warum sie nicht mit ihm telefonieren konnte oder warum er keine Fotos mehr schickte wie sonst immer. Gina wusste, dass spätestens seit dem Eintritt in die Schule die Fragen, die sich Elisa stellen würde immer mehr werden würden, da bereits am ersten Schultag die Frage aufkam, warum denn fast jedes Kind zwei Elternteile dabei hatte, nur sie nicht.

"Mamaaaa? Kannst du mir da helfen?" hallte es durch den Flur und riss Gina aus ihrem Gedankenkarussell.

"Elisa ich komme gleich zu dir." Gina korrigierte noch schnell die Deutsch Aufgabe eines 2.Klässlers und machte sich auf den Weg in Elisas Prinzessinenzimmer.

Im Moment war Elsa und Olaf total in. Im ganzen Zimmer verteilt hingen Poster und selbstgemalte Bilder, der Teppich, die Lampe und sogar das Bett waren im Elsa Stil gestaltet und sogar die Schultasche und Schultüte musste unbedingt von Elsa und Olaf sein.

"Na mein Spatz, wo brauchst du denn Hilfe?", fragte Gina ihre Tochter und setzte sich neben sie.
Sie wusste, dass viele Eltern in der ersten Klasse die Hausaufgaben mit den Kindern machten, damit ihre Kinder ja keine Fehler auf dem Arbeitsblatt hatten, aber Gina wollte keinesfalls, dass Elisa als Lehrerkind abgestempelt wurde und wollte ihre Selbstständigkeit fördern, indem sie zwar für Fragen da war und auch mal über das Arbeitsblatt drüber schaute, aber nicht jeden Fehler verbessern lies. Dafür war ja die Klassenlehrerin da.

"Mama, da ist eine Nussaufgabe, die müssen wir nicht machen weil die ziemlich schwer ist, aber ich hab die angefangen und jetzt komm ich da nicht ganz weiter. Und zwar hat Frau Meier gesagt, dass man da in dem Bild alle Dreiecke Rot, alle Kreise Blau und alle Vierecke Grün anmalen soll, aber da ist ja so ein Schornstein am Hausdach, und das wäre ja ein Viereck aber das schaut anders aus als die Vierecke die sonst im Bild sind. Muss ich das jetzt trotzdem grün anmalen oder auslassen?"

Gina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ja das waren die Probleme wenn man jung war, wenn sie nur auch solche Probleme hätte.

"Also, ein Viereck hat ja immer vier Ecken. Jetzt zählst du mal die Ecken dieser Form und wenn es vier Ecken sind, dann musst du das grün anmalen, wie du schon richtig gesagt hast. Weißt du, manchmal schauen die Vierecke nicht so normal aus wie die anderen auf dem Bild, sondern eine Seite ist schräg, also nicht gerade. Aber wenn es trotzdem vier Ecken sind, ist es trotzdem ein Viereck."
Nach ein paar Sekunden überlegen, nickte Elisa und zählte die Ecken, bevor sie den Schornstein grün anmalte.

"Danke Mami! So, ich bin jetzt eeenndlich fertig mit den Hausaufgaben...Können wir jetzt nach einer Ukulele schauen? Bitteee"

"Na klar, Spatzl. Hab ich dir doch versprochen. Komm, zieh dir was Warmes an dann fahren wir nach Garmisch ins Musikgeschäft vom Peter, der hat bestimmt eine Ukulele für dich."

A/N: Hey :) Ich hoffe euch hat das erste Kapitel und der Schreibstil gefallen, schreibt einfach wie ihr es fandet, ich würd mich über Lob und auch Kritik freuen. LG

Have faith in the dark - MPKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt