46 - Annäherung

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"Sorry, ich bin da glaub ich echt nicht dran, rumzujammern...Im Gegensatz zu dem, wie du euer Leben jeden Tag hinbekommst sind ja meine Probleme eher Problemchen, Gina." Michael konnte nicht genau einschätzen, ob Gina jetzt sauer auf ihn war oder nur mal loswerden wollte, was sie tagtäglich auf die Reihe kriegen musste.

"Alles gut, ich wollte nur mal mitjammern mit dir, damit du nicht denkst, du bist der Einzige dem es schlecht geht.", scherzte Gina. Sie hatte sie zwar im ersten Moment ein bisschen von Michael's Aussage verarscht gefühlt, weil seine Probleme in ihren Augen gar keine waren, wusste aber, dass Michael nicht groß darüber nachgedacht hatte.

"Dann passt ja alles! Du Gina, wir haben es echt geschafft!", lachte er.

Verwirrt runzelte Gina die Stirn. "Was haben wir geschafft, Paddy?", fragte sie.

"Na, wir haben es zum ersten Mal geschafft uns nicht anzufahren oder zu streiten, obwohl ich gerade nicht nachgedacht habe und einfach losgejammert habe, ohne daran zu denken, wie es dir jeden Tag geht.", erklärte Michael.

Nun verstand auch Gina, was er damit meinte. "Stimmt! Wir machen Fortschritte, Paddy!", lachte sie.

"Und wie! Was hast du heute so gemacht, Gina?", erkundigte sich Michael nun. Auch wenn er hundemüde war, genoss er das Telefonat mit Gina und wollte nicht jetzt schon auflegen.

Positiv überrascht darüber, dass Michael offenbar noch weiterreden wollte und sich auf dafür interessierte, was sie heute gemacht hatte, begann Gina zu erzählen.
"Eigentlich nicht viel. Ich hab Elisa in der Früh von einer Freundin abgeholt, die hat eine Geburtstags-Übernachtungsparty gefeiert und da war Elisa eingeladen...Und meine Kleine ist zum ersten Mal verliebt in einen Jungen aus dem Entdeckerclub...da ist viel zu früh für meinen Geschmack..."

"Tja, da ist deine Kleine wohl nicht mehr ganz so klein, hm?", neckte Michael sie. "Hast du den Jungen dann schon abgecheckt wie ne Löwenmutter?"

Nun musste auch Gina grinsen. "Hey, du bist gemein! Gefühlt gestern hab ich sie noch beim Gehen an der Hand halten müssen, jetzt schläft sie schon bei Freunden und ist verliebt...Leo heißt er, der ist ein Jahr älter und hat Elisa damals am Schuljahresanfang schon die Schule und die Räume gezeigt. Ich kenne seine Eltern nicht, aber er schaut ganz nett aus."

"Da hast du aber noch was nachzuholen Gina! Die sehen sich jede Woche in der Schule und du kennst die Eltern oder den Wohnort noch nicht?! Oje oje!", feixte Michael herum.

"Sehr witzig, Herr Kelly!", mahnte ihn Gina, musste aber gleich darauf wieder lachen. "Aber jetzt mal ehrlich...glaubst du, die haben sich schon geküsst oder so? Ich hatte meinen ersten Kuss am Ende der Grundschule...und das war schon früh", wurde Gina wieder ernst.

"Gina, Gina. In der Grundschule schon rumgeschmust...das geht ja mal gar nicht!", rügte Michael sie scherzhaft, bevor er sich zusammenriss, um auf Gina's Frage einzugehen.
"Das musst du schon deine Tochter fragen, nicht mich. Woher soll ich das denn wissen? Du kannst dich ja übermorgen mit meiner Schwester mal unterhalten, ihre zwei älteren Töchter sind gerade mitten in der Pubertät, die hat da schon Erfahrung, glaub mir, ihr werdet euch gut verstehen!"

"Danke, das werde ich machen. Ich glaub, Elisa redet da nicht einfach so mal mit mir drüber, zumindest nicht jetzt, wenn das noch frisch ist mit Leo. Wenn das noch so frisch ist? Boah, ich hör mich ja schon an wie eine Mutter einer Teenagerin."

"So schlimm bist du jetzt auch wieder nicht, das ist doch völlig verständlich, wenn du dir da Gedanken machst. Was war sonst noch los bei dir? Ich fühl mich immer schlecht, wenn ihr euch immer melden müsst und fragt wie mein Tag so war und ich mich von mir aus fast nie melde. Das ist aber keine Absicht, ich denke einfach oft nicht dran oder bin so busy, dass ich komplett vergesse, mich zu melden."

"Alles gut, das ist ja nicht deine Pflicht, dich bei uns zu melden, Paddy."

"Das nicht, aber es gehört sich und ich rede gern mit dir und Elisa. Das ist einfach eine schlechte Angewohnheit von mir.", erklärte sich Michael.

"Das weiß ich ja jetzt. Mach dir da keinen Stress, es ist schon schön, wenn du hin und wieder mit Bruce vorbeikommst, das müsstest du nämlich nicht, machst es aber trotzdem. Das bedeutet Elisa viel mehr als eine kurze Nachricht auf's Handy."

"Und...dir auch?", fragte Michael verlegen. An seiner Stimme konnte man erkennen, dass er gerade schmunzelte, genau wie Gina, die sich gerade die richtigen Worte zurecht legte.

"Kann man so sagen, ja. Mal kurz zu schreiben dauert ein paar Sekunden, aber dass du dir wirklich die Zeit nimmst und deinen Nachmittag daür opferst, zu uns zu kommen, ist viel schöner.

"Das ist ja gut, dass ich das weiß! Aber jetzt sag, was war sonst noch los bei dir heute? Außer Kindergeburtstag, eine verliebte Tochter, Eltern-Emails und einen nervigen Musiker am Telefon?"

"Ach komm, hör auf! Du nervst mich nicht! Sonst war nicht viel los...Naja ich hab heute beschlossen, die Gitarre mal wieder abzustauben und hab noch was gekocht...das wars dann aber auch schon."

"Stopp! Welche Gitarre? Hast du eine Gitarre? Klassik oder Akustik? Welche Korpusform hat die und von welchen Hersteller ist die? Kann ich die mal sehen?", sprudelte es aus Michael's Mund. Sobald das Stichwort 'Gitarre' erklungen war, gingen alle Glühbirnen bei ihm an und der Musiker kam zum Vorschein.

"Langsam, Paddy! Ja, du kannst sie dir mal anschauen, welche Korpusform und welcher Hersteller...keine Ahnung, aber es müsste eine Westerngitarre sein.", erzählte ihm Gina.

"Ja cool! Du spielst also Gitarre, Gina?", erkundigte sich Michael.

"Naja, ich habe gespielt, das trifft's wohl eher. Seit Andi tot ist, hab ich sie nicht mehr in die Hand genommen und sie ins Wohnzimmereck verbannt. Ich konnte das einfach nicht...die ganzen schönen Erinnerungen...Weißt du, früher haben Peter, Andreas und ich oft Abends draußen am Lagerfeuer Musik gemacht... ich kann einfach nicht mehr spielen." Nachdenklich warf Gina immer wieder einen Blick auf die eingestaubte Gitarre am anderen Ende des Zimmers.

"Das tut mir leid, Gina! Du hast Angst vor einem Flashback, wenn du sie wieder spielen würdest, oder?", wollte er vorsichig wissen.

"Mhm, hab ich...Vielleicht gebe ich sie irgendwann mal Elisa, die wird sich bestimmt freuen, auf der Gitarre spielen zu dürfen, mit der schon ihr Papa gespielt hat. Vorausgesetzt, sie bleibt beim Ukulelespielen und ist weiterhin so begeistert davon. Aber ich...ich kann es mir nicht vorstellen, je wieder darauf zu spielen. Ich kann nicht einmal die Vorstellung ertragen, ihren Klang zu hören, deshalb ist sie ja eingestaubt. Das klingt wahrscheinlich total verrückt aber..."

"Blödsinn, das klingt für mich komplett nachvollziehbar! Also darf ich sie mal sehen, wenn ich nicht darauf spiele?"

"Ja, das können wir machen. Du Paddy, magst du morgen vielleicht schon zum Mittagessen vorbeikommen? Ich mache Schinkennudeln, das hat sich Elisa wieder einmal gewünscht."

"Ähm, ja klar, sehr gerne! Wann soll ich dann mit Bruce bei euch sein?"

"So zwischen halb 1 und 1? Wir schlafen Sonntags meistens länger und essen erst nach 10 Uhr unser Frühstück. Wenn dir das passt?", schlug Gina vor.

"Puh, da bin ich erleichtert, dass ihr keine von den Frühaufstehern seid, die am Wochenende schon um 7 oder 8 aufstehen! Die Uhrzeit ist perfekt, ich bin ja eh ein Langschläfer.", freute sich Michael.

"Super! Dann bis morgen, ich freu mich! Elisa sich sicherlich auch."

"Und Bruce und ich freuen uns natürlich auch, stimmts Bruce?" Aus den Hintergrund kam ein bestätigendes kurzes Bellen von Bruce, das Gina zum Lachen brachte.

"Perfekt, ja dann...schönen Abend noch.", verabschiedete sich Gina, unsicher ob das jetzt das Ende des Telefonats war oder nicht.

"Ja, wünsch ich dir auch, Gina! Bis morgen dann.", antwortete Michael und legte auf.

Zurück blieb eine über sich selbst verwirrte Gina. Kopfschüttelnd darüber, was sie gerade erzählt und gefragt hatte, griff sie nach der Fernsteuerung und zappte durch die Programme, um ihren Kopf wieder frei zu kriegen.

Have faith in the dark - MPKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt