4 - Die Wahrheit tut weh

306 18 12
                                    

Zuhause angekommen verzog sich Elisa gleich mit ihrer Ukulele in ihr Zimmer und Gina konnte durch die Kinderzimmertür das gedämpfte Klingen der kleinen Gitarre hören.

Gina nutzte die Zeit um ihre Serie weiterzuschauen und blätterte nebenbei im Familienfotoalbum, das in den Regalen im Wohnzimmer lag. Es zerbrach ihr fast das Herz, Andreas zusammen mit ihr und Elisa auf den Fotos zu sehen. Aber es wurde langsam erträglicher. Noch vor ein paar Monaten hätten sie keine zehn Pferde dazu gebracht, diese Fotos anzusehen. Jetzt aber ging es, auch wenn es tief in ihr schmerzte.

Was wäre, wenn Andi nicht genau an diesem Tag im Soldatenlager gewesen wäre? Was, wenn er nicht versucht hätte seinem Kameraden das Leben zu retten? Wie so oft im Leben würde es nie eine Antwort auf diese Fragen geben, das wusste Gina. Aber trotzdem konnte sie sich nicht mit dem Gedanken abfinden, Andi nie mehr sehen zu können oder seine Stimme zu hören.
"Das Schicksal fragt nicht, ob und wann es passt, das Schicksal tritt ungefragt und ungewollt die Tür ein", hatte ihre Oma früher immer gesagt. Und wie wahr, wie Recht sie doch hatte.

Vorsichtig strich sie über das letzte Foto im Album, das letzte Familienfoto, entstanden nur 1 Woche vor Andreas Tod, bevor er wieder zurück nach Mali musste. Eine Träne fand ihren Weg über ihre Wange und reflexartig griff sie nach ihrem Ehering, den sie noch immer trug.

"Mama? Was...was ist denn los? Warum weinst du denn?"

Das hatte ja gerade noch gefehlt! Gina wischte sich schnell wie Träne von der Wange und setzte ihr "es ist doch alles gut"-Lächeln auf. Doch ohne Erfolg. Ihre Tochter merkte mittlerweile sehr gut, wenn sie etwas vorgespielt bekam. Empatisch wie Elisa war, kuschelte sie sich an Gina und drückte sie fest.

"Warum bist du denn traurig, Mama?" hakte Elisa nach.

"Ach Maus. Wenn man jemanden vermisst, dann ist man manchmal traurig und manchmal muss man dann auch weinen."

Elisa schien zu überlegen, wie sie diesen Satz verstehen sollte.
"Vermisst du deine Schüler? Aber in drei Tagen siehst du sie doch wieder. Weißt du, ich vermisse auch schon Linda und Felix aus meiner Klasse aber ich weiß ja, dass ich sie am Montag wieder sehe. Da musst du doch nicht traurig sein."

"Elisa. Komm setz dich mal her zu mir. Weißt du noch als du noch kleiner warst und wir das Meerschweinchen hatten?"

Durch die ernste Aufforderung ihrer Mutter veränderte sich auch Elisas Gesichtsausdruck zu einem nachdenklichen und ernsten.
"Hmm...ja, das war doch Flecki oder? Weil die so ein farbiges Fell hatte."

"Genau. Und die war doch schon sehr alt, weißt du das noch? Und irgendwann ist sie doch gestorben, weil sie schon so alt war. Und da waren wir alle doch sehr sehr traurig. Und heute bin ich auch traurig."

Elisa nickte verständnisvoll. Aber den letzten Satz verstand sie nicht.
"Aber Mama? Wer ist denn heute gestorben, dass du dann heute traurig bist?"

Da war er. Der Moment, den Gina schon seit Andreas Tod vor sich herschob und zu vermeiden versuchte. Sich jetzt die richtigen Worte zurechtzulegen, dafür war es zu spät.

"Elisa. Du weißt doch, dass der Papa in einem anderen Land arbeiten muss und dass er da Menschen hilft, aber das auch gefährlich ist."

Elisa hielt sichtbar den Atem an. In ihrem Gehirn ratterte es, das war Gina klar.
"Weinst...weinst du weil...weil der Papa...aber...der ist doch jung...und der ist doch...nur...nur...Mama!"

Elisa stürzte sich weinend in Ginas Arme und weinte sich die Seele aus dem Leib. Gina musste bei diesem Anblick selbst wieder anfangen zu weinen und hielt ihre Tochter fesr in ihren Armen. Elisa schluchtzte und weinte als gäbe es kein morgen mehr. So sehr Gina auch versuchte, ihre Tochter zu beruhigen, es hielf nichts.

Gina selbst hatte zwar noch gar nicht gesagt, was nun mit Andreas los war, aber ihre Tochter hatte eins und eins richtig zusammengezählt. Im gleichen Moment fühlte Gina sich unendlich schuldig. Hatte sie nun die Kinderseele ihrer Tochter zerstört? Würde sich Elisa jemals davon erholen, dass ihr Papa tot war? Und vor allem: Würde sie ihr jemals verzeihen, dass sie sie so lange angeschwindelt hatte?

Nach etlichen Minuten wurde Elisas Schluchtzen langsam leiser. Sie konnte nicht mehr. Lamgsam löste sie sich von Ginas Körper und schaute ihrer Mutter in die Augen. Gina blickte in die durch das weinen leicht geschwollenen Augen ihrer kleinen Tocher, deren Blick leer und kalt war.

"Warum?! Warum Mama? Seit wann?", schrie Elisa.
Sie musste nicht erklären, was genau sie damit meinte. Gina verstand es so.

"Elisa. Bitte, beruhige dich. Es war kurz vor Weihnachten. Ein Freund vom Papa hat mich angerufen, dass er sich ganz schwer verletzt hat als er versucht hat jemanden anderen zu beschützen. Und dann hat er diese Verletzungen nicht überlebt."

"Warum mein Papa?! Mama das ist so unfair! Papa kann nicht tot sein!"

"Komm her mein Spatz", forderte Elisa ihre Tochter auf. Elisa drückte sich wieder fest an ihre Mama und Gina erklärte ihr leise und ruhig, wieso ihr Papa nun nicht mehr nach Hause kam und warum sie erst jetzt die Wahrheit erfuhr und nicht gleich im Dezember, kurz vor Weihnachten, als Gina die Nachricht von Andreas Tod erhielt. Anfangs klappte das Gespräch recht gut, auch wenn Elisa verständlicherweise komplett überfordert mit der Situation war.

Doch plötzlich schlug Elisas Stimmung um. In ihren Augen lag der pure Zorn und sie stieß Gina von sich, sprang auf, ging weg vom Sofa und schrie Gina an.

"Du hast mich angelogen, die ganze Zeit, du hast das die ganze Zeit gewusst! Lass mich allein! Ich will nicht mehr, dass du meine Mama bist!", feuerte sie in Richtung Gina, bevor sie in ihr Kinderzimmer rannte und sie Tür hinter sich zuknallte. Und genau diese Worte trafen Gina tief ins Herz.

Gina wusste, dass es jetzt keinen Sinn machen würde mit Elisa zu sprechen und lenkte sich mit einer weiteren Folge ihrer Serie ab bis es 20 Uhr war. Um 8 Uhr war Bettgeh-Zeit für Elisa, außer irgendetwas besonderes stand an.

Mit einem lauten Seufzen stand Gina auf und ging rüber zum Zimmer ihrer Tocher. Sie klopfte bevor sie ein weinerliches "Ja" von ihrer Tochter hörte. Es zerriss ihr fast das Herz als sie Elisa zusammengerollt im Bett liegen sah, ihren Lieblingsteddy, den sie mal von Mama und Papa bekommen hatte fest an sich gedrückt.

Vorsichtig setzte sich Gina neben ihre Tochter und sie erwartete, dass Elisa wieder heftig reagieren würde. Aber entgegen ihrer Befürchtungen blieb ihre Tochter liegen und murmelte nur ein leises "tschuldigung" in den Teddy. Gina verstand und legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Tochter.

"Elisa, es ist schon ok. Du hast ja recht, ich hätte es dir viel früher sagen müssen. Aber weißt du, da warst du noch ein bisschen jünger als jetzt und ich hatte einfach Angst davor dir das zu sagen, verstehst du?"

"Hmm...Ja ich glaub schon. Und ich will nur dich als meine Mama aber das ist mir einfach so rausgerutscht weil ich so traurig bin wegen Papa. Mama? Darf ich heute bei dir im Bett schlafen? Und können wir vielleicht morgen da auf den Berg wandern wo wir mit Papa und Oma und Opa im Winter waren?"

Natürlich erlaubte Gina ihrer Tochter, bei ihr im Bett zu schlafen. Das durfte sie immer, wenn es ihr nicht gut ging. Manchmal hatte Elisa Wachstumsschmerzen in den Beinen oder träumte einfach schlecht und da führte ihr Weg nacht häufiger ins Elternschlafzimmer. Und da sich Elisa am Samstag sowieso immer wünschen durfte, was sie machen möchte, willigte Gina ein mit ihr auf den Hausberg zu wandern.

Nach dem Zähneputzen und ein paar Fragen, die Elisa noch zum Tod ihres Papas hatte, schlief sie schließlich in den Armen von Gina ein.

Have faith in the dark - MPKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt