Irritiert schaute Gina nun Michael an. Was meinte er mit diesem schwierigen Charakter? Bisher hatte sie nur einen Mann kennengelernt, über den sie nichts Negatives sagen konnte. Dass Michael auch zum Arschloch mutieren konnte, konnte sie sich nur schwer vorstellen. Vielleicht sollte sie da mal Peter darauf ansprechen? Michael hatte das ja angedeutet...
"Kannst du dir wahrscheinlich nicht vorstellen, ne?", riss Michael sie aus ihren Gedanken.
"Mhm...irgendwie nicht.", murmelte Gina. "Weißt du, ich kann mir nicht vorstellen, dass du mal ausrastest oder richtig schlecht gelaunt bist. Ich kenn dich nur mit guter Laune und selbst als du dich wahrscheinlich innerlich richtig über mich aufgeregt hast, bist du fast komplett ruhig geblieben."
Michael nickte. "Kann ich verstehen, Gina. Aber weißt du...wir kennen uns noch nicht so lange...ich versuche mich da zurück zu halten und nicht immer so direkt zu sein wie ich zu Peter oder meiner Band wäre, die mich schon länger kennen. Zu denen bin ich halt dann einfach so wie ich bin."
"Also verstellst du dich gerade? Wenn du hier bei uns bist? Oder du hast das Gefühl, dich verstellen zu müssen?", fragte Gina enttäuscht und ungläubig nach.
"Oh, nein, nein! Nicht falsch verstehen, das wollte ich nicht damit sagen. Ich verstelle mich nicht, im Gegenteil! Ich fühle mich super wohl hier in Garmisch und auch bei euch! Ich will dich und Elisa nur nicht vergraulen, falls ich mal das Arschloch in mir raushängen lasse, deshalb pass ich halt auf, was ich sage." Michael versuchte sich aus der Misere zu retten, schon wieder hätten sie sich wegen einer Kleinigkeit fast gestritten. Kommunikation war wohl nicht ihre gemeinsame Stärke.
"Und was würde passieren, wenn du das Arschloch raushängen lassen würdest?", hakte Gina nun nach.
"Dann würde ich wahrscheinlich jetzt mit dir diskutieren oder streiten, weil ich nicht versucht hätte, unser kleines Missverständnis aufzulösen, sondern hätte zurückgekeift und hätte mich an deinen Fragen festgebissen und die dann ausdiskutiert. Oder gestern, als wir diskutiert haben, ob Bruce nicht da bleiben kann...da musste ich mich echt selbst stoppen, nicht auch zu schreien, sondern hab versucht so ruhig wie möglich zu antworten. Eigentlich will ich Streitereien so gut und schnell wie möglich schlichten, aber mein Temperament ist da nicht immer hilfreich und meine Zunge ist oft schneller als mein Gehirn. Deshalb nehme ich mich da so zurück oder versuche es zumindest.", versuchte Michael zu erklären.
"Das mit dem Temperament kommt mir bekannt vor.", lachte nun Gina. "Aber jetzt ganz ehrlich, Paddy...also wenn du dann zum Arsch mutierst...Gedanken muss ich mir nicht machen oder?" Bedrückt und beschämt, dass sie ihn überhaupt so etwas fragte oder zutraute, schaute Gina wieder auf den Tisch.
"Du meinst...dass ich dich verletzen könnte? Oder schlagen?", flüsterte Michael beinah. Ein paar Sekunden später fügte er mit trauriger Stimme hinzu: "Gina, denkst du wirklich so von mir?"
"Ach keine Ahnung Paddy! Nein, eigentlich denke ich das nicht aber..."
"Ich würde niemals körperlich Gewalt anwenden, außer ich bin selbst in Gefahr oder jemand der mir nahe steht. Aber sonst...nicht durch Schlagen, aggressives Schubsen oder sonst irgendwas. Niemals! Aber weißt du, nicht nur körperliche Aggressionen können weh tun und andere verletzen...auch mit Worten kann man sehr viel kaputt machen, gerade wenn man in Rage ist. Und dann später, wenn man die Wörter nicht mehr zurücknehmen kann...dann ist es schon zu spät. Das ist, was ich damit meine, wenn ich sage, dass ich manchmal ein Arschloch bin. Damit hab ich schon sehr viel kaputt gemacht...nicht nur meine Ehe...auch in der Familie...aber darüber will ich jetzt nicht reden. Ich bin einfach ein Arsch...Ich glaub, es ist besser, wenn ich jetzt gehe, Gina." Michael sah Gina noch einmal mit traurigen Augen an, nahm seine Jacke vom Stuhl, stand wie vom Blitz getroffen auf und wollte gerade schon zur Tür gehen.
"Was wird jetzt das? Sehr erwachsen Herr Kelly!", sprach Gina ironisch in Michaels Richtung. "Wäre es wenn dann nicht mein Part dich jetzt zu bitten, zu gehen?" Augenrollend schaute sie zu Michael. Anstatt über dieses Thema weiterzureden, wählte Michael die Flucht.
"Ich kann mit nicht vorstellen, dass du mich noch hier haben willst oder?"
Gina verstand nicht, was er meinte. Wenn er innerhalb der Ehe auch so auf Konfliktsituationen reagierte war es kein Wunder, dass die nur noch aneinander vorbeigeredet hatten oder stritten wenn er in seinem 'Arschlochmodus' war. Anscheinend kannte er nur Angriff oder Flucht, wenn es um Themen ging, die ihm nahe gingen.
"Ich versteh deine Logik gerade überhaupt nicht, Paddy...Jetzt komm, setz dich halt wieder her, wieso solltest du gehen müssen? Hab ich irgendwas in diese Richtung gesagt?"Michael schüttelte den Kopf und setzte sich wieder an seinen ursprünglichen Platz gegenüber Gina. Unsicher versuchte er sich an einem zaghaften Grinsen.
"Sorry...ich dachte...ach egal. Ich will einfach nicht über meine Ehe oder Familie und so reden ok?""Musst du doch nicht?! Oder hab ich das von dir verlangt?", antwortete Gina stirnrunzelnd.
"Nein, aber...Die Fragen, die im Raum stehen, ich will nicht darüber reden." Unsicher blickte Michael zu Gina und hoffte, dass sie ihn verstehen würde.
"Paddy, red Deutsch mit mir! Wenn du über etwas nicht reden willst, dann reden wir nicht darüber. Ich hab überhaupt keinen Plan, was gerade dein Problem ist. Du hast mir anvertraut, dass du auch ein Arschloch sein kannst. Das ist ok für mich, ich wollte nur wissen, wie das dann ausschaut oder wie du dich da dann verhältst. Aber das schreckt mich doch nicht ab, nur weil du dann mal laut wirst oder etwas zu schnell aussprichst bevor du denkst. Solang du nicht aggressiv wirst in deinem Handeln...ich meine wie oft hab ich dich schon angeschrien? Und das mit deiner Ehe oder auch was in deiner Familie war oder ist, das geht mich doch nichts an, Paddy! Das will ich auch nicht wissen. Und das was du mir bisher anvertraut hast bleibt unter uns, das ist doch eh klar. Wovor wolltest du dann wegrennen? Paddy, ich bin kein Fan, ich bin keine dieser Frauen, die alles über dein Privatleben wissen wollen und dich nach allen Details ausfragen. Ich hab genug Anstand, dich zu respektieren, genauso wie du das bei mir tust. Privat ist privat. Das gilt für uns beide. Genau so wie ich über manche Themen nicht reden möchte, willst du das auch nicht. Ist doch auch ok so!" Gina beendete ihren Monolog. Ein bisschen stolz auf ihre analytische Art, Probleme anzugehen, lehnte sie sich im Stuhl zurück und wartete nun Michaels Reaktion ab.
Ein paar Sekunden lang schien er über Ginas Worte nachzudenken, bevor er dann schließlich nickte. "Thanks for the lesson. Ich hab's verstanden. Ich bin da einfach ziemlich dünnhäutig...Vergangenheit und so. Aber lass uns bitte jetzt über was anderes reden.", bat Michael.
"Eine Frage hab ich noch...Warum nimmst du dich dann in meiner Gegenwart so zurück? Also als wir gestritten haben. Ich meine, dass du bitte nicht vor Elisa laut wirst ist ja klar und sollte selbstverständlich sein aber...wenn ich mal wieder laut werde kannst du ruhig auch sagen was du denkst. Du musst dich nicht zurücknehmen. Ich hau ja auch einfach raus was ich sagen will, gleiches Recht für alle!"
"Naja...Erstens, weil ich dich noch nicht gut und lange kenne und mich nicht aufführen will wie ein Arsch. Das macht mir ja auch keinen Spaß wenn ich so bin. Und Zweitens, weil ich merke, dass es dir nicht gut geht und dich dan nicht auch noch blöd anmachen oder anschreien will."
"Wegen Elisa und meinem verstorbenen Mann? Oder was meinst du?"
"Ja, genau. Es wäre nicht fair dir gegenüber jetzt mich auch noch wie ein Depp aufzuführen. Aber können wir bitte jetzt was anderes reden? Über deine Arbeit oder über unsere Pläne im Dezember?", schlug Michael vor.
"Über meinen Job? Ne, es ist Sonntag, ich hab frei.", lachte Gina. Sekunden darauf verfinsterte sich ihre Miene.
"Was ist los, Gina?", fragte Michael sie besorgt. Auch ihm war nicht entgangen, dass Gina von jetzt auf gleich verändert war. "Weil du morgen wieder arbeiten musst?"
"Ne, das nicht...Elisa hat morgen noch eine Schulbefreiung und ist da dann bei ihren Großeltern, während ich arbeite. Aber...bald ist ja der 1.12."
"Was ist so schlimm daran?", wollte Michael wissen. "Ist das der Tag an dem...dein Mann verstorben ist?", fragte er nun vorsichtig nach.
Gina schüttelte den Kopf. "Nein, der ist am 17.12...das ist zwar auch bald und davor grauts mich schon, aber ich versuche das gerade noch zu verdrängen. Aber am 1.12....bis dahin muss ich noch was Wichtiges klären."
DU LIEST GERADE
Have faith in the dark - MPK
FanfictionZeitlicher Beginn: September 2021 Eine Geschichte über Gina und ihre kleine Tochter Elisa, die nach dem Verlust eines geliebten Menschen langsam wieder ins Leben zurückfinden müssen. Michael Patrick Kelly, der seine freie Zeit nach den Arbeiten am...