6 - Schlimmer geht immer

229 22 8
                                    

Nach der rund einenhalbstündigen Wanderung und mehreren kurzen Pausen war der Gipfel endlich in Sichtweite. Trotz des Septemberwetters hatten sie einen guten Tag erwischt. Außer ein paar Schleierwolken war die Sicht klar und es gab keinerlei Anzeichen, dass sich das in den nächsten Stunden ändern würde.

"Mama, ist das da vorne schon das Gipfelkreuz?" Elisa strotzte nur so vor Energie und rannte immer wieder mal kurz an Gina vorbei, dann wieder zurück und im Hopserlauf wieder weiter.

"Ja, wir sind gleich da. Elisa, übertreibs nicht auf den letzten Metern, verletz dich bitte nicht an den Wurzeln!"

Kaum hatte Gina den Satz beendet, lag ihre Tochter schon am Boden und hielt sich weinend ihr Knie. Die Wanderhose, die sie vor schlimmeren Abschürfungen geschützt hatte, war zerrissen und darunter konnte man das abgeschürfte Knie gut erkennen.

"Ach Elisa, musste das jetzt sein? Lass mich mal sehen...das Knie ist zwar abgeschürft aber so schlimm schaut das jetzt nicht aus. Jetzt hab ich ausgerechnet heute keine Heftpflaster mit!"

"Mama das brennt!", weinte sie.

"Das kann ich mir gut vorstellen. Ich hab dir aber gesagt, renn nicht so rum. Kannst du aufstehen?"

Elisa hatte sich schnell von ihrem Sturz erholt und stand schon wieder auf ihren Beinen. Zwar flossen ihr noch einige Krokodilstränen die Wange hinunter, der erste Schock schien aber überwunden.

"Gehts wieder?" Mit einen Nicken antwortete Elisa und beide gingen dem Gipfelkreuz entgegen.

Leider war die Picknickbank neben dem Gipfelkreuz schon von einer Gruppe älterer Senioren besetzt, sodass Gina und Elisa noch ein Stück weiter zum Panoramablick gingen, bei dem es ebenfalls eine Sitzgelegenheit gab. Doch kaum war diese im Blickfeld von Gina, kam ihr das Grauen. Dort saß ein Mann mittleren Alters mit seinem Hund, der eher einem Pony oder einem Kalb als einem Hund glich.

Sofort gingen bei Gina die Alarmglocken los. Hunde...da hatte sie nur schlechte Erinnerungen. Früher hatten ihre Großeltern einen Deutschen Schäferhund, der ziemlich wild war und vor dem Gina schon als Kind panische Angst hatte. Später, in ihrer Schulzeit, wo sie oft mit dem Rad zur Schule fuhr, gab es mehrer freilaufende Hofhunde, die sie regelmäßig verfolgten oder sogar während des Radfahrens nach ihr schnappten. Dass der Hund des Mannes auch noch unangeleint war, war ihr größter Albtraum.

"Mama, ist was? Warum gehen wir nicht zur Bank?" Elisa hatte das plötzliche Erstarren ihrer Mutter bemerkt und blickte ihr nun neugierig in die Augen.

"Elisa, du weißt doch, dass die Mama keine Hunde mag und Angst vor ihnen hat. Und der Hund von diesem Mann da vorn ist nicht angeleint..."

Man konnte das Hirn der Sechsjährigen regelrecht rattern hören. "Mama, und wenn ich zu dem Mann kurz hingehe und ihn frage, ob er seinen Hund anleinen kann? Weil ich möchte mich echt gern hinsetzen, weil ich hab Hunger und mein Knie tut auch noch weh."

Wieder einmal war Gina erstaunt über die Empathiefähigkeit ihrer Tochter. "Wenn du dich traust, den Mann anzusprechen? Du musst das nicht machen Maus."

"Okey!", war Elisas kurze Antwort bevor sie sich in die Richtung des Hundes begab, der ruhig am Boden lag.

Langsam näherte sich Elisa dem Hund. Sie wusste, dass man nicht einfach auf fremde Hunde zulaufen durfte oder sie ohne Erlaubnis streicheln. Ein paar Meter vor der Sitzbank drehte der Mann seinen Kopf in Elisas Richtung und beide sahen sich an. Elisa erkannte ihn sofort wieder! Das war doch der Mann aus dem Musikgeschäft!

"Hi, wir kennen uns doch hast du nicht mit deiner Mama die Ukulele gekauft? Was machst du denn hier ganz allein?", fragte Michael.

"Ja, genau. Ich bin mit der Mama hier, die traut sich aber wegen deinem Hund nicht näher her, weißt du, die hat Angst."

Michael nickte. "Und was machen wir jetzt da? Deine Mama soll doch nicht da stehen bleiben müssen."

"Also du könnstest deinen Hund vielleicht anbinden."

"Da hast du Recht. Ich nehme Bruce an die Leine und mach ihn da an diesem Baum fest. Da kann er deiner Mama nichts tun und du kannst deine Mama schonmal herholen ok?" Michael pfiff Bruce, der sofort zu seinem Herrchen trottete und sich brav anleinen ließ.

Elisa flitzte zurück zu ihrer Mama und zog sie an der Hand zur Sitzbank. "Mama, der Hund ist echt brav und Michael bindet ihn jetzt extra für dich an den Baum, damit du keine Angst haben musst."

Bei dem Namen Michael zuckte Gina zusammen. Michael...Michael....der Name kam ihr bekannt vor. Als sie an der Bank angelangt war und geradeaus in zwei intensiv blau leuchtende Augen blickte, wusste sie wer Michael war. Der Mann, dessen Augen sie schon im Musikladen die Flucht ergreifen ließen, als er dicht bei ihr stand! Das kann ja was werden, dachte sie sich, als Michael sie begrüßte.

Have faith in the dark - MPKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt