Kapitel 55 - Die Katastrophe 1

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Am Ostermontag brachen Maja und Felix mit den Eltern auf, um an die Nordspitze der Insel zu fahren. Ihr Besuch fand hinten Platz, Maja saß neben Felix.

Joana hatte ihnen einen großen Picknickkorb gepackt, der im Kofferraum stand.

„Schau mal, die Nachbarvilla scheint auch bewohnt zu sein!" sagte Felix zu Maja. „Da steht seit ein paar Tagen dieses große Auto! Wir können ja mal läuten und uns vorstellen!"

„Können wir machen!" war sie einverstanden. Ihr Hübscher wurde immer extrovertierter, genau wie sie, die ewige Träumerin und Geschichtenerzählerin. Es schien, als hätten sie beide diesbezüglich eine Menge nachzuholen.
Die Älteren unterhielten sich hinten leise, immer wieder verstummten sie, weil sie glücklich ihre wunderbaren Kinder beobachteten, die sich ununterbrochen anhimmelten.
Das Glück der Jungen tat ihrem Herzen so gut.

Sonja freute sich für Felix, dass er Maja gefunden und zurückbekommen hatte. Er war ein ganz anderer geworden, strahlte, sang den ganzen Tag, konnte nie weiter als einen Meter von seinem Bienchen entfernt sein, meisten hielt er sie den ganzen Tag im Arm.
„Seid ihr eigentlich zusammengewachsen?" zog sie die beiden einmal auf.

„Ich glaub schon! Ich hab's schon länger nicht mehr probiert, sie loszulassen!" hatte er geantwortet und Maja innig geküsst.

Manchmal dachte sie in letzter Zeit an seinen Vater, den hübschen jungen Mann, in den sie sich mit 18, gleich nach dem Abi, auf einem Rockfestival verknallt hatte. Sie hatten kaum gesprochen miteinander, aber viel geküsst und getanzt! Die Nacht in seinem Zelt war heiß und wunderschön, aber was wusste sie damals von Empfängnisverhütung!
„Ich pass schon auf!" hatte er versprochen. Sie hatte nur vergessen zu fragen, worauf er aufpasste!

Vier Wochen später war sie sicher, dass sie schwanger war. Ihre Eltern waren außer sich, warfen sie aus dem Haus, weil sie sich weigerte abzutreiben. Sie hatten ihren wunderbaren Enkel nie kennengelernt, genauso wenig wie sein Vater, der sicher stolz auf seinen Sohn wäre.

Eine unverheiratete Tante nahm sie damals bei sich auf, kümmerte sich um den süßen Jungen, ermöglichte ihr dadurch das Medizinstudium. Sie war kurz nach ihrem Abschluss gestorben.
Ihre Eltern lebten in einem Seniorenheim, sie hatte sie nie ganz aus den Augen verloren. Nachdem Felix das Abi so gut gemacht hatte, schrieb sie ihnen einen Brief, hoffte, sie würden nach all den Jahren einlenken, weil ihnen doch Leistung so enorm wichtig war. Aber sie hatte nie eine Antwort erhalten.

Felix hatte immer wieder nach seinem Vater gefragt, und sie hatte ihm immer wieder die gleiche ehrliche Antwort gegeben: „Ich weiß es nicht, mein Schatz! Ich weiß es wirklich nicht!"
Als er alt genug war, hatte sie ihm die Geschichte von ihrem One-Night-Stand erzählt, damit war das Thema durch.
In den letzten Monaten hatte sie manchmal gegrübelt, ob sie nicht doch noch nach Tim suchen sollte, irgendwie in den sozialen Netzwerken, von denen sie so viel hörte, aber nichts verstand.
Vielleicht sollte sie mit Felix einmal darüber reden, oder mit Maja?

Das Ehepaar von Calsow sah ebenso glücklich auf die jungen Leute. Bei ihnen lag der Fall ganz anderes als bei Sonja.
Beide stammten aus sehr vermögenden Familien, hatten sich auf einem großen Ball kennengelernt und verliebt. Bruno war schon 28, hatte sich reichlich ausgetobt, Marga war 23. Zwei Jahre später, als sie ihr Kunststudium abgeschlossen hatte, heirateten sie, wollten gleich Kinder, möglichst viele.

Aber leider wurde Marga nicht schwanger. Sie arbeitete als Kunsterzieherin an einer Grundschule, er war Steuerberater mit florierender Kanzlei.

Sie ließen sich beide untersuchen, alles war in Ordnung. Nach ein paar Jahren fanden sie sich damit ab, nie Eltern zu werden. Kurz überlegten sie, ein oder zwei Kinder zu adoptieren, aber sie hatten sich so gut in ihrem Leben zu zweit eingerichtet, dass sie noch warten wollten. Irgendwann einmal hatten sie den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Umso größer war das Staunen und die Freude, als Marga, nach 15 Jahren Ehe, mit 38 schwanger wurde. Sie war schon im dritten Monat, als sie überhaupt auf die Idee kam, was mit ihr nicht stimmen könnte. 

Sechs Monate später kam ihr Sonnenschein Maja zur Welt, das wohl am meisten geliebte Kind der Welt, wie sie immer betonten. Sie verzogen sie nicht, sie waren schon konsequent, aber es musste eigentlich fast nie sein. Sie war ein ausgesprochen braves Kind, und ein ausgesprochen kluges Kind. Mit fünf mussten sie sie einschulen, weil sie sich im Kindergarten tödlich langweilte. Sie konnte fließend lesen, rechnete im Hunderterraum, nur so aus Spaß.

In der zweiten Klasse schrieb sie kleine Geschichten, die sie in der ersten Stunde immer vorlesen durfte. Sie hatte eine fantastische Lehrerin, die sie ihrer Begabung entsprechend förderte und die sie als Helferin für die schwächeren Schüler einsetzte.
Maja war der Liebling der ganzen Schule.

Durchs Gymnasium flog sie, die Lehrer empfahlen, dass sie die zehnte Klasse überspringen sollte. Dadurch war sie zwei Jahre jünger als ihre Mitschülerinnen, sie hatte sich für eine reine Mädchenschule entschieden, weil sie die frechen Jungs immer ein wenig fürchtete. Durch den Altersunterschied tat sie sich schwer damit, Freundschaften zu schließen.

Doch es schien sie nicht zu stören. Sie schrieb und las, ging spazieren, schrieb und las.
Nach dem Abi mit dem 1,00 Schnitt sollte sie studieren, was sie wollte. Geld war genug da, um ihr Leben abzusichern, sie sollte tun, wozu sie Lust hatte wie ihre Mutter.

Sie entschied sich für Germanistik – und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf!
Sie versuchten, ihr die Schwärmerei für Georg auszureden, bissen aber auf Granit.

Doch wenigstens hatte sie sich das Schreiben nicht ausreden lassen.
Und dann kam Felix und mit ihm die Liebe, die sie sich so für ihr Töchterchen gewünscht hatte. Die schlimmen Monate der Trennung schienen alle verarbeitet zu haben.

Felix sah im Rückspiegel die glücklichen Blicke auf sie beide, er streichelte seiner Süßen über die Wange, drückte ihre Hand liebevoll. Der ganze Wagen war erfüllt von großem Glück, großer Liebe zueinander und großer Zufriedenheit mit dem Leben.

Er sah nicht, dass der schwere Wagen, der vor der Nachbarvilla gestanden war, ihnen schon eine Weile folgte.

Sie hielten an einem der Aussichtspunkte, Maja quietschte, weil er mit der Schnauze so dicht an den Abgrund fuhr.
„Ruhig Blut, Angsthase! Ich hab das schon in Griff!" beruhigte er sie.
Sie wollten sich gerade abschnallen, als das Auto von hinten ein leichter Schlag traf. Der große Wagen stand direkt hinter ihnen und schob mit voller Kraft.


Der Hass wird nicht siegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt