Kapitel 5 - Oktober 1997

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Maja

Maja freute sich auf die Vorlesungen in moderner deutscher Literatur. Professor Brenner war intelligent, humorvoll, belesen. Ihm zuzuhören machte Spaß. In ihren Augen war er ein toller Mann, zwar nur knapp 1,70 m groß, mit leichtem Bauansatz und schütterem Haar, aber seine Augen funkelten, wenn er dozierte.

Sie hatten einen Eingangstest geschrieben, sie sollten über ihre Lebensziele schreiben. Sie hatte sechs Seiten zu Papier gebracht, hatte wie im Fieber Zeile um Zeile gefüllt.

Andere gaben halbe Seiten ab, höchstens ein Blatt voll.
Bei der nächsten Veranstaltung schien er sie anders anzusehen als bis dahin. Ihr Herz schlug schneller unter seinen Blicken. Er sprach sie als Einzige mit ihrem Nachnamen an, schien sie einmal sogar anzulächeln, als sie eine Frage gestellt hatte. An diesem Tag schwebte sie nach Hause, träumte sich in seine Arme.

Ihre Eltern freuten sich, dass ihrer Kleinen das Studium so gefiel.

Und so, wie sie lächelte, hat sie sich vielleicht verliebt! dachte ihre Mutter.
Maja erledigte alle Semesterarbeiten sorgfältig, doch für die von Prof. Brenner gab sie sich extra viel Mühe.

Georg

Georg freute sich auf das neue Semester. Er liebte seinen Beruf, liebte es, jungen Leuten seine Liebe zum Wort, zur Sprache weiterzugeben. Aber am meisten liebte er die neuen Studentinnen, einen Hörsaal voll von Frischfleisch, wie er es für sich nannte.

In jedem Jahr suchte er sich nach ein paar Tagen eine Nachfolgerin für die Vorjahresfavoritin aus. Der Abservierten erklärte er dann, dass es zu gefährlich würde für ihn, etwas mit einer Studentin laufen zu haben, Kollegen hätten ihn schon darauf angesprochen.

Letzteres stimmte schon, aber er war ja nicht der Einzige, der sich etwas Nettes von den jungen Dingern ins Bett holte, und da wurde schon auch mal bei Herrenabenden ein wenig geprahlt und verglichen.
Aber wenigstens war er im Gegensatz zu den Kollegen nicht verheiratet. In diesem Jahr hatte er noch keine auserkoren, war noch am Sondieren.

Nach dem Eingangstest war er überrascht von der Leistung einer Maja von Calsow, die einen druckreifen, sechsseitigen Text abgegeben hatte. Er war gespannt, wie sie aussah. Sicher ein hässlicher Blaustrumpf! Schade, dass die Hübschen selten intelligent waren!

Am nächsten Tag sah er wie zufällig die Reihen mit den Namenschildern durch. Sie saß in der ersten Reihe und war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Er las in ihrer Akte nach. Sie war erst 17! Noch nicht einmal volljährig!

Das war dumm!
Aber ein bisschen flirten konnte er doch mit ihr?
Sie auch einmal zum Essen einladen, ein Professor und eine hochbegabte Studentin, das war ja jetzt wirklich nichts Verwerfliches!

Er widmete ihr während der nächsten Wochen viel Aufmerksamkeit, sprach sie mit ihrem Nachnamen an, lächelte hin und wieder, wenn sie eine kluge Frage stellte.

Alle ihre Arbeiten waren glatte Einsen.


Der Hass wird nicht siegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt