Kapitel 15 - 15. bis 21. Juni

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Maja

Die restlichen Stunden und die nächsten Tage schleppte sie sich durchs Haus. Sie aß kaum, trank Unmengen von Kaffee am Morgen und Rotwein am Abend, rauchte fast Kette, heulte, schalt sich eine verdammte Närrin, weil sie auf ein grandioses Schauspiel hineingefallen war.
Dabei traf ihn gar keine Schuld!

Die Rollen waren von Anfang an klar verteilt gewesen.
Er hatte sie nicht reingelegt wie Georg, hatte ihr nichts vorgespielt, hatte sich nie für jemanden anderen ausgegeben als den, der er war: Der Call-Boy, der nicht wegen ihr seine weiteren Geschäfte vernachlässigen durfte!

Dafür, dass sie an Liebe oder wenigstens Verliebtsein geglaubt hatte, konnte er nichts.
Das würde ihm nicht allzu selten passieren, so gut wie er aussah, so gut wie er in seiner Rolle war!

Sie musste diese Geschichte aufschreiben, aber anders herum.
Die Prostituierte und der verliebte Mann.
Sie setzte sich an den Computer, tippte los wie eine Besessene.
Nachdem sie 50 Seiten geschrieben hatte, las sie alles durch und löschte den ganzen Sums.
Das gab es schon hundert Mal besser! Das war Schund! Romantisches Gesülze!
Schlechte Formulierungen! Das war nicht sie!
Jetzt kann ich auch nicht mehr schreiben!
Jetzt ist alles tot in mir!

Wie ferngesteuert lud sie die Seite mit seinem Bild. Nur einmal noch, nur ein einziges Mal noch wollte sie ihn ansehen, und wenn es nur auf dem Bildschirm war.
Ein einziges Mal nur noch wollte sie seinen Text lesen, über seine Wortwahl lachen, sich an sein Lachen erinnern, sein echtes Lachen!
Oder war dieses Lachen auch gespielt? Vielleicht sollte sie ihn an die Akademie in Hollywood melden? Er würde mit Sicherheit auf Anhieb einen Oscar bekommen!
Sie scrollte durch die Nummern, 333 – ein fremdes Gesicht sah sie an. Panisch ging sie zurück, wieder vor, sah in jedes Gesicht, seines war verschwunden.

Warum?
Wollte er nicht, dass sie ihn noch einmal kontaktierte?
Warum hatte er das Geld nicht mitgenommen?
Warum hatte er auf ihre Frage wegen der Bezahlung so seltsam reagiert?

Es gab so vieles, was einfach nicht zusammen passte in dieser Geschichte.
Die Stimmung am Abend, so fröhlich und losgelöst, die flirtenden Blicke, dann eigentlich folgerichtig die Küsse und die Zärtlichkeiten, seine Bitte, dass sie mit ihm schlafen sollte, ihre Zustimmung, die Nacht, dann als sie ihm von Georg erzählte, weitere Zärtlichkeiten, alles lief verständlich ab, nachvollziehbar.

Doch dann kam der absolute Bruch. Er erwartete einen wichtigen geschäftlichen Anruf!
Von da an passte kein Puzzleteil mehr ins andere.
Von da an gab es nur noch „Warums"!
Da plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn es kein Anruf war, den er als Call-Boy erwartete?
Was, wenn er noch einen anderen Beruf hatte, auf den sich seine Aussage bezog?
Was, wenn er nach dem Telefonat hatte zurückkommen wollen?
Was, wenn sie ihn mit ihrer dummen, unsensiblen Frage nach der Bezahlung vor den Kopf geschlagen hatte?
Ihr wurde eiskalt.

Dann passten die Teile wieder, dann gab es eigentlich eine Antwort auf jedes Warum.
Sie musste bei ihm anrufen, nur noch einmal!
Sie musste ihm diese eine Frage stellen: „Wolltest du zurückkommen zu mir? Am Abend oder am nächsten Tag?"
Wie im Fieber wählte sie die Nummer, die noch im Telefon abgespeichert war.

Felix

Als er wieder nüchtern war, als auch das Bergwerk in seinem Kopf wieder Pause zu machen schien, fing er an nachzudenken.
Wie hatte er sie so falsch einschätzen können?
Jetzt, da er ihre Bücher kannte, da er das einfühlsame Mädchen kennengelernt hatte, passte nichts mehr zusammen!
Sie war doch niemals eine Frau, die sich leidenschaftlich lieben ließ, die ihn leidenschaftlich geliebt hatte, die ihre Seele nach außen drehte, die ihm von der dunkelsten Stunde ihres Lebens erzählte, und die dann kaltschnäuzig nach seiner Bezahlung fragte!

Das konnte nicht sein, niemals!
Aber was war geschehen?
Wann an diesem Tag war aus dem schönen, anschmiegsamen Schmetterling diese kalte, verletzende Frau geworden?

Er versuchte, sich die letzten Worte, die sie vorher gewechselt hatten, ins Gedächtnis zu rufen.
Sie hatten sich noch einmal geliebt, es war wunderschön gewesen – für beide, da war er noch davon überzeugt gewesen, dann hatte er sie träumend im Arm gehalten, ganz nah bei sich, und dann war ihm plötzlich der Kunde eingefallen, der hatte anrufen wollen.

Das hatte er ihr gesagt, da hatte sie schon so seltsam reagiert. „Bitte! Du bist ein freier Mensch!"
Wie genau hatte er sich ausgedrückt?
„Ein Kunde ruft an! Ich muss kurz nach Hause!" oder
„Ich erwarte einen dringenden Anruf!"

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz.
„Ich erwarte einen dringenden geschäftlichen Anruf!" hatte er gesagt, und geschäftlich war für sie gleichbedeutend mit: „Von einer Frau! Von einer Kundin!"
Das hatte sie zutiefst verletzt.

Er war ja noch nicht dazugekommen, ihr von seinem Hauptberuf zu erzählen! Sie kannte ihn kaum, wusste nicht, wie sehr sie ihm vertrauen konnte.
Sie hatte einmal geliebt und war so hintergangen worden.
Und vielleicht hatte sie sich sogar auch in ihn verliebt und fühlte sich dann, nach dieser Wahnsinnsnacht, noch schlimmer gekränkt!

Er musste das jetzt wissen!
Er musste sie anrufen!
Er musste es ihr erklären, auch, dass er aufgehört hatte, mit anderen Frauen für Geld zu schlafen! Dass er sein ganzes Leben ändern würde, auch wegen ihr.

Ihre Nummer war im Zweithandy eingespeichert.
Wo war das Ding nur?
Nachdem er die Wohnung dreimal auf den Kopf gestellt hatte, sah er die Trümmer in einer Ecke liegen. Er hatte im Vollrausch das Teil an die Wand gedonnert.
Saubere Arbeit! lobte er sich ironisch.

Na ja, ihre Nummer würde er schon herausbringen.

Doch sie hatte eine Geheimnummer. Es gab auch für einen IT-Spezialisten keine Chance, die Sicherheitsbarrieren zu überwinden.
Dann fahre ich eben zu ihr!

Er duschte, zog seine besten Klamotten an und fuhr los.


Der Hass wird nicht siegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt