Kapitel 30 - Ein halbes Jahr später / 2

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Maja saß wieder einmal auf ihrer Bank am Leuchtturm, sah aufs Meer hinaus. Auf dem Schoß hatte sie ihr Laptop. Sie hatte versucht zu schreiben, aber es waren nur wirre Sätze aus ihren Fingern gekommen.

Heute war der 13. Juni, heute vor einem Jahr hatte sie Felix das erste Mal getroffen. Sie wollte nicht zurücksehen, aber es gelang ihr nicht. All die Stationen des Gefühles, das sie für Liebe gehalten hatte, zogen vor ihrem inneren Auge vorüber.
Und noch immer fragte sie nach dem Warum!

Und noch immer hatte sie keine andere Antwort darauf als: Grausamkeit!
Ganz selten brach die Wut in ihr durch, wollte sie zurückfahren, ihn zur Rede stellen, ihn so lange schütteln, bis er ihr eine Antwort gab, bis er alles eingestand. Aber diese Anfälle gingen schnell vorüber.
Wozu hätte das gut sein sollen?
Was hätte es gebracht, aus seinem Mund zu hören, was sie sowieso schon wusste?

Sie hörte Schritte hinter sich, drehte sich aber nicht um. Ein junger Mann ging an ihrer Bank vorbei, blieb beim Leuchtturm stehen, sah wie sie aufs Meer hinaus. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte langsam und genüsslich.

Er streckte die Arme aus, als wollte er die Welt umarmen. Er schien glücklich zu sein, mit sich und der Welt im Reinen. Es musste schön sein, so fühlen zu können. Vor langer, langer Zeit hatte sie das auch gekonnt.
Er kam zurück, sah sie an und stockte. „Warum so traurig, an einem so wunderschönen Tag?" fragte er.
Und bei Maja begannen die Tränen zu strömen, als wäre eine Staumauer gebrochen.

Stefano

Stefano war glücklich. Er war in seine Heimat zurückgekommen, hatte eine Stelle als Lehrer an der Grundschule bekommen, er hatte die quälende Beziehung zu Carla beendet, die ihn ständig betrogen hatte, die ihm das Leben ausgesaugt hatte. Bis er begriffen hatte, dass die Gefühle, die sie verbanden, nichts mit Liebe zu tun hatten, nicht das Geringste.

Er lebte im Haus seiner Eltern, die überglücklich waren, ihren Jüngsten zurück zu haben. Bald würde er eine eigene Wohnung beziehen, er war gerade dabei, sie zu renovieren.
Er würde ein Mädchen aus dem Ort heiraten, irgendwann einmal, er würde Bambini bekommen, er würde hier alt werden.

Er hätte die Welt umarmen können, an diesem herrlichen Frühsommertag, an dem ein Leben in Freiheit vor ihm lag.
Er rauchte mit Genuss eine Zigarette. Dann wollte er zurückgehen, seine Wohnung streichen.

Da sah er das traurige Mädchen auf der Bank sitzen, das traurigste und auch das schönste Mädchen , das er je gesehen hatte.
Er hatte schon von der Deutschen gehört, die Tag für Tag alleine durch die Straßen lief, die zu allen freundlich war, die stundenlang auf der Bank am Meer saß, manchmal schrieb, manchmal weinte, manchmal nur ins Leere blickte.

Die junge Frau, mit der alle Männer flirten wollten, die aber alle mit einem traurigen Lächeln abblitzen ließ.
Das Mädchen, das vor ein paar Monaten in das Hotel gezogen war. Die wildesten Gerüchte rankten sich um sie: Sie hatte ein Kind verloren, sie hatte ihren Mann und Kinder verloren, sie war schuld am Tod ihrer Eltern, sie hatte jemanden umgebracht, sie wurde von der Mafia bedroht und war untergetaucht, sie war von den Eltern verstoßen worden, sie war eine Mafiakillerin, die aussteigen wollte.

Das musste es sein, dieses sehr traurige und wunderschöne Mädchen!

Er setzte sich neben sie und fragte: „Warum so traurig, an einem so wunderschönen Tag?" Und sie begann zu weinen, wie er noch nie einen Menschen hatte weinen sehen.
Stefano konnte nicht anders, er musste sie in den Arm nehmen und über ihren Kopf streicheln. Sie ließ es zu, während der Strom ihrer Tränen langsam versiegte.

Dann brach ein vorsichtiges Lächeln durch. „Danke!" sagte sie leise.
Und Stefano wusste, er hatte sich verliebt in ein trauriges, wunderschönes Mädchen mit goldblonden langen Haaren und dunkelblauen Augen.

Sie saßen lange stumm nebeneinander. „Willst du reden?" fragte er schließlich.
Und sie begann zu sprechen. Sie wollte einem Fremden ihr Leid anvertrauen, hoffte, dass es dadurch kleiner würde, leichter zu ertragen.
Sie redete eine Stunde lang, er hörte zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen.
Danach schwiegen sie wieder.

„Hast du je mit ihm darüber gesprochen?" fragte er eine Weile später.
„Nein! Wozu?"
„Jeder Angeklagte verdient eine Chance, sich zu äußern!" gab er zu bedenken.
„Er nicht!"
„Vielleicht hast du etwas falsch verstanden?" Er schalt sich einen Narren, dass er für den anderen sprach.

„Was soll es da falsch zu verstehen geben, wenn er mit ihr im Bett liegt und ihr erzählt, wie er sie liebt, begehrt, vermisst hat?"
Da gingen Stefano die Argumente aus. „Dann hau ihn doch einfach in die Tonne!" schlug er vor.
Wieder lächelte sie, und er hatte das Gefühl, eine zweite Sonne ging auf.
„Und wie geht das?" fragte sie und schniefte nur noch ein wenig.

„Ich zeige es dir! Komm mit!" Er nahm sie an der Hand, lief mit ihr am Pier entlang, sang ein italienisches Liebeslied, tanzte mit ihr dazu.
Maja lachte seit einem halben Jahr das erste Mal wieder. Ja, sie würde Felix, diesen verlogenen Bastard, in die Tonne klopfen, auch wenn bei diesem Gedanke an Endgültigkeit der Kloß in ihren Hals zurückkam.


Der Hass wird nicht siegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt