80. Entscheidungen

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Kritisch betrachtete Eragon die Bögen Papier die seine Nichte Ismira ihm gereicht hatte. Heute bemühte er sich seiner Gefährtin Arya nachzueifern und sein Gesicht in eine ausdruckslose Maske zu verwandeln.
Offenbar waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt denn schon nach einigen Minuten begann Ismira unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten, hielt es schließlich nicht mehr aus und fragte ihren Onkel nach seiner Meinung.
"Und? Was denkst du?"
Eragon ließ seinen Blick zunächst auf den Papieren verweilen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Ismira. Die junge Frau hatte damit begonnen nervös auf ihre Unterlippe herum zu kauen.
Eragon erlöste Rorans Tochter schließlich indem er sich selbst ein Lächeln gestattete.
"Du hast eindeutig Fortschritte gemacht." während Ismira erleichtert die Luft aus ihren Lungen entließ fuhr Eragon fort. "Deine Formulierung hat sich verbessert und ich kann keine Schreibfehler mehr entdecken. Das einzige, was ich noch bemängeln kann ist, dass der zum Ende hin eindeutig ungeduldig wirst."
Der Anführer der Reiter bedeutete seine Nichte sich zu ihm an den Schreibtisch zu setzen. Er breitete vor ihr die verschiedenen Blätter aus, die die Schreibübungen der jungen Drachenreiterin festgehalten hatten.
"Siehst du hier, die ersten zwei Drittel deiner Übungen sind wesentlich deutlicher und mit mehr Sorgfalt geschrieben. Im letzten Drittel wirst du etwas ungeduldig. Deine Formulierung wird etwas holpriger und die Schriftzeichen sind nicht mit soviel Sorgfalt wie am Anfang niedergeschrieben. Denke immer daran Ismira, es geht nicht nur darum den Text leserlich zu übersetzen den ich dir gegeben habe. Dies ist auch eine Geduldsübung für dich und, gerade bei der alten Sprache, ist es wichtig, dass Du bis zum Ende mit voller Konzentration arbeitest. Wenn du beispielsweise einen komplizierten Zauber nieder schreibst ist es egal ob der Anfang korrekt ist und sich nur am Ende ein Fehler eingeschlichen hat. Dieser eine Fehler kann sich als tödlich erweisen."
Ismira nickte und leichte Unsicherheit lag auf ihren Gesichtszügen.
Wieder musste Eragon warm Lächeln.
"Keine Sorge! Deine Defizite sind nicht so groß, dass Du den Text noch einmal abschreiben musst. Ich denke es reicht für heute. Arya hat Cales Unterricht schließlich schon vor einer halben Stunde beendet. Ich denke ich kann dich auch für heute entlassen."
Sichtlich erleichtert packte Ismira ihre Utensilien in die Mappe, die sie zu Beginn ihrer Ausbildung erhalten hatte und verließ dann mit ihrem Onkel gemeinsam dessen Arbeitszimmer.
"Es ist beeindruckend, dass Cale heute früher fertig war als du." sagte Eragon wären sie gemeinsam durch den Flur seines Hauses schritten. "Arya ist wesentlich anspruchsvoller wenn es um die alte Sprache in ihrer geschriebenen Form geht."
"Tante Arya ist anspruchsvoller wenn es um jeden Teil unserer Ausbildung geht." erwiderte Eragons junge Nichte schlagfertig. "Aber ich muss gestehen, dass mein Liebster wohl wirklich mehr Talent für die Sprache der Poesie mitbringt als ich. Am besten lasse ich ihn sämtliche Zauber niederschreiben."
"Und die Hausarbeit solle noch für dich erledigen, vielleicht noch die Wäsche und das in Stand halten der Sättel für eure Drachen. Welche Pflichten übernimmst du eigentlich in eurer Beziehung?"
"Na ich passe auf das alles ordentlich erledigt wird." gab Ismira unschuldig zurück. "Mutter sagt immer man muss aufpassen dass ihr Männer immer wies der das Sagen hat und Tante Arya lebt dieses Prinzip ja schließlich."
Spielerisch zwickte Eragon seiner Nichte mit Daumen und Zeigefinger in den Nacken und knurrte mit gespielter Strenge ein "Vorsicht!"
Inzwischen waren die beiden Drachenreiter an der Vordertür zur Eragons Behausung angekommen und mit einem Lächeln als könnte sie kein Wässerchen trüben verabschiedete sich Ismira von ihrem Onkel. Der Anführer der Reiter beobachtete schmunzelnd wie sie zu ihrer Drachendame eilte die bereits auf der ehemaligen Schlüpflingswiese niedergegangen war und auf sie wartete.
- "Besonders an deiner Enkelin sieht man wie weit unsere jüngsten Schützlinge schon gekommen sind." -
- "Da hast du recht Kleiner." - der Stolz in Saphiras Stimme als sie Eragon antwortete war nicht zu über höhern. - "Tailon und Anarie haben sich hervorragend entwickelt. Es würde mich nicht überraschen wenn sie auch bald ihr Feuer entdecken." -
Eragon konnte sich der Einschätzung seiner Drachendame nur anschließen als er Anarie mit prüfenden Blicken bedachte. Von der Haustür aus beobachtete er wie seine Nichte sich in den Sattel ihrer Drachendame zog. Die junge Violette hatte seit ihrer Ankunft in der Ostmark einiges an Größe zugelegt. Dafür war allerdings nicht allein Wachstum verantwortlich. Auch das harte Training durch das Aroc die Jungdrachen führte zeigte seine Wirkung. Breite Muskelpakete spannten sich unter der Haut der jungen Drachendame. Ohne Zweifel hatten sich Kondition und Kraft deutlich verbessert.
- "Bevor du übrigens fragst Kleiner," - fügte Saphira noch an. - "Fírnen und ich sind der Meinung, dass unsere Enkel bereit sind für dein Vorhaben. In jeder Beziehung. Du solltest also mit Arya reden." -
Eragon signalisierte seiner Drachendame dass er verstanden hatte und machte sich auf den Weg in Richtung Küche wo er gemeinsam mit seiner kleinen Familie das Abendessen einnehmen wollte. Es war keine leichte Entscheidung die er noch heute zu fällen hatte. Sowohl Cale als auch Ismira hatten beeindruckende Fortschritte in ihrer Ausbildung zu verzeichnen. Dies war auf die Tatsache zurückzuführen, dass beide bereits umfassende Vorkenntnisse mitbrachten die man sonst höchstens bei den Elfen fand. Cale war bereits sehr wersiert in der Magie gewesen als er zum Reiter erwählt wurde und auch Ismira verfügt bereits über einen ansehnlichen Wortschatz in der alten Sprache. Worte und Begriffe die so mancher junge Schüler erst lernen musste waren bei den beiden bereits vorhanden. Man hatte sie also in erster Linie an die Grammatik der alten Sprache heranführen müssen und die jungen Reiter hatten sie förmlich aufgesogen. Zwar hatte Ismira ihrer magischen Fähigkeiten erst nach dem schlüpfen ihrer Drachendame entwickelt doch hatte sie Cales Vorsprung in diesem Punkt schnell ausgeglichen.
Eragon vermutete, dass es daran lag das sich seine Nichte nicht selbst blockierte. Viele junge Schüler die vor ihrer Berufung zum Drachenreiter nicht über Magie verfügten, hatten Probleme diese nun als einen Teil von sich anzunehmen. Etwas in ihnen sagte, dass es unmöglich war beispielsweise einen Stein zum Schweben zu bringen ohne ihn zu berühren. Dieser Zweifel hemmte ihre Fähigkeiten und musste überwunden werden bevor man zu komplexeren Anwendungen der Magie kommen konnte.
Durch ihre Verwandtschaft mit Eragon und Arya und ihr angeborenes Interesse hatte Ismira sehr offen auf ihrer magischen Fähigkeiten reagiert und deshalb beeindruckende Fortschritte gemacht. Auch stachelten sich Cale und Ismira durch ihre enge Beziehung zueinander stets zu neuen Höchstleistungen an.
Laut Tar machten beide gute Fortschritte mit dem Schwert. Von der Meisterschaft waren sie zwar noch entfernt aber man musste nicht mehr befürchten dass sie sich gegenseitig versehentlich Körperteile abtrennten. Außerdem führten ihre Fortschritte in der Technik dazu, dass die Duelle die sie zu Übung mit wechselnden Partnern austrugen inzwischen kein wildes Herumgefuchtel mehr waren sondern wirkliche Kämpfe die die jüngeren Reiter allerdings noch nicht für sich entscheiden konnten.
Cale hatte insbesondere auch mit dem Bogen Sicherheit gewonnen. Inzwischen traf er die Zielscheibe aus annähernd jeder Entfernung. Seine Geschosse waren zwar noch immer über die ganze Zielscheibe verteilt aber der Fortschritt war deutlich erkennbar.
Eragon konnte es nicht ab leugnen: Seine beiden jüngsten Schüler hatten die Grundlagen gemeistert. Wenn es nun etwas zu Schulen galt, dann war es ihr Charakter. Und dieser Teil ihrer Ausbildung machte eine schwierige Entscheidung erforderlich.
Als Eragon die Küche betrat verscheuchte das warme Gefühl, welches er bei Aryas und Marlenas Anblick verspürte, für einen Augenblick seine ernsten Gedanken.
Die kleine Tochter der beiden Drachenreiter hockte auf dem Schoß ihrer Mutter und ließ sich einmal mehr mit einem Gemüsebrei füttern. Offenbar war das kleine Mädchen heute hungrig, denn nur wenig der verkochten Paste war auf dem Lätzchen gelandet das Marlena trug.
Arya schenkte ihrem Gefährten ein kurzes Lächeln und wies darauf hin, dass ein Topf mit Gemüsesuppe noch auf dem warmen Herd stand.
Eragon füllte sich einen Teller davon ab, schnitt sich zwei Scheiben Brot von einem der Leiber ab den sie auf Vorort hatten und setzte sich dann zu seinen Damen an den Küchentisch.
Marlena quietschte freudig und streckte ihre kleinen Finger nach ihrem Vater aus. Dieser ließ sie nicht lange bitten und hielt ihr den kleinen Finger hin den das Kind sofort umklammerte.
"Nun? Wie hat sich Cale heute geschlagen?"
Der Anführer der Drachenreiter nutzte die kurze Pause die Arya beim füttern ihrer Tochter einlegen musste für seine Frage.
"Ich bin angenehm von ihm überrascht." erklärte die Elfe indem für ihr Volk typischen, leicht singenden Tonfall. "Er hat eine gute Mischung aus Geduld und dem Antrieb fertigzuwerden entwickelt. Zufriedenstellend, würde ich sagen."
Da Marlena ihre Aufmerksamkeit inzwischen wieder dem mit Brei gefüllten Löffel widmete, konnte nun auch Eragon einige Bissen essen.
"Ismira macht sich ähnlich gut." mit diesen Worten nahm er kurze Zeit später die Unterhaltung wieder auf. "Saphira und Fírnen sind übrigens der Meinung, dass Tailon und Anarie bereit sind."
"Ich weiß." gab Arya zurück und ihre Augen funkelten schelmisch. "Fírnen hat mich bereits informiert und ich stimme ihm und Saphira zu. Cale und Ismira haben sich die Grundkenntnisse erworben. Wir können nicht mit anspruchsvolleren Formen der Magie fortfahren bevor wir nicht ihren Charakter noch besser geschult haben. Wenn überhaupt liegt dort die Schwäche der beiden."
Eragon nickte.
"Du hast recht. Cale muss lernen etwas selbstbewusster seinen Standpunkt zu vertreten und Ismira muss die Fähigkeit entwickeln sich in entscheidenden Situationen zu zügeln und nicht den ersten Impuls zu folgen was ihre Handlungen betrifft."
"Du hast noch Bedenken?" erkundigte sich Arya.
"Nicht so sehr was Cale oder Tailon betrifft. Zwar ist der Drache unseres Buchbindersohns ein etwas stürmischer Geselle aber ich halte ihn für verantwortungsbewusst genug. Das gleiche gilt natürlich auch für Anarie sie ist sowieso ein kühler und überlegter Charakter. Ich hoffe nur, dass Ismira mit dem Wissen umgehen kann was wir ihnen anvertrauen wollen. Ich erinnere mich noch gut an ihren Abstecher in den verbotenen Wald."
Arya langte über den Tisch und ergriff die Hand ihres Gefährten.
"Ich denke jetzt bist du etwas zu sehr der besorgte Onkel, Liebster." vermutete die Elfe mit sanfter Stimme. "Ja, sie hat damals einen Fehler begangen aber ich bin der Meinung, dass sie daraus gelernt hat. Seitdem hat sie nicht mehr versucht sich über eines unserer Ver- oder Gebote hinwegzusetzen. Wir können ihr diesen einen Fehler nicht ewig vorwerfen. Und letztendlich soll ja gerade ihr Charakter in dieser neuen Phase ihrer Ausbildung geschult werden. Ich weiß, dass es noch sehr früh ist aber wir beide wussten, dass wir auch Schüler mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten treffen würden. Es ist nicht das erste Mal, dass wir einen Lehrplan anpassen müssen."
Eragon strich seine Gefährtin dankbar mit dem Daumen über den Handrücken.
"Wie üblich ist es dein Licht das mir den Weg weist mein Stern. Also gut."
"Dann ist beschlossen?"
"Ja, ich werde mit den beiden zunächst die Reise zur Stadt der Toten machen. Die Lehre dieses Ortes möchte ich Cale und Ismira sowie ihren Drachen noch mit auf den Weg geben bevor wir sie in das Geheimnis der Eldunari einweihen und sie dem Rat vorstellen."
Die Entscheidungsschüler in dieses Wissen einzuführen war Eragon und Arya noch nie leicht gefallen. Zu viel Unheil konnte beschworen werden wenn dieses Geheimnis leichtfertig geteilt wurde. Doch die Lebenserfahrung der Seelenhorten hatte sich als die beste Möglichkeit erwiesen junger Reiter mit realistischen Beispielen zu versorgen die sie auf ihre Zeit als Drachenreiter vorbereiten würde. Nichts schulte den Charakter eines Schülers besser! Und gerade der Charakter von Cale und Ismira musste noch gefestigt werden bevor man sie in die höheren Anwendungen der Magie einführen konnte.
"Wann wirst du nach Jnturheim aufbrechen?" wollte Arya wissen.
"In einigen Tagen." legte Eragon fest. "Ich möchte noch die Ankunft der beiden Gelehrten der Elfen in der Grenzfestung abwarten und erfahren wie sie die Lage beurteilen. Bevor ich mich auf Reisen begeben möchte ich sicher sein, dass zumindest kurzfristig keine Krise droht."


Eragon Band 6 - Die Wege der ReiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt