90. Variablen

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Es war noch tiefe Nacht als Ismira wieder die Augen aufschlug. Nachdem ihr Onkel seine Ausführungen in der Stadt der Toten beendet hatte war die Gruppe zu ihrem Lager außerhalb der ehemaligen Siedlung zurückgekehrt.
Als sie gestern am frühen Morgen ihr Lager außerhalb der Stadtmauern aufschlugen war es Ismira rätselhaft gewesen warum sie die Nacht nicht im Schutz der Befestigungsanlagen verbringen sollten. Nachdem sie nun die Geschichte von Jnturheim kannte ergab es für sie Sinn. Auch ihr wäre es nun respektlos vorgekommen in der ehemaligen Siedlung Quartier zu beziehen. Dieser Ort war ein Mahnmal und sollte mit entsprechenden Respekt behandelt werden.
Viel war am gestrigen Tag nicht mehr geschehen. Eragon hatte noch einige Fragen seiner Schüler beantwortet und den beiden dann Zeit gegeben ihre Eindrücke zu verarbeiten.
Ismira war ihrem Onkel dankbar dafür gewesen. Es hatte viel gegeben worüber es sich lohnte nachzudenken aber im Grunde hatte nur eine Erkenntnis den Geist der junge Frau erfüllt. Zum ersten Mal spürte Ismira wie viel Verantwortung es mit sich brachte eine Drachenreiterin zu sein. Auch vorher hatte sie ihre Verpflichtungen nicht auf die leichte Schulter genommen. Sie war sich im klaren darüber gewesen was für eine Ehre es war für die Reihen des Ordens ausgewählt worden zu sein aber das zurückliegende Ereigniss hatte dem Schicksal dass ihr auferlegt worden war als Anarie bei ihr schlüpfte eine neue Dimension gegeben. Es fühlte sich realer und greifbarer an.
Leise, darauf bedacht keinen ihrer Kameraden zu wecken nahm Ismira einen Schluck aus ihrem Wasserschlauch. Dann reckte sie vorsichtig ihre geistigen Fühler nach Anarie. Sie wollte ihre Drachendame nicht wecken aber sie hoffte, dass auch die Violette vielleicht nicht schlafen konnte. Sie wollte mit jemandem reden, von dem sie völlig sicher war, dass dieser jemand sie verstand.
Tatsächlich erkannte sie, dass ihre Seelenschwester ebenfalls wach war und bereitwillig senkte die junge Drachendame ihre geistigen Schilde als sie die Gegenwart ihrer Reiterin bemerkte.
- "Kannst Du auch keine Ruhe finden meine Süße?" -
- "Nein Rotschopf ich schlafe immer mit offenen Augen." - gab Anarie sarkastisch zurück.
Ismira konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken.
- "Ich denke der Besuch dieses Ortes ist an keinem von uns spurlos vorbeigegangen oder?" -
- "Nein, das nun wirklich nicht." - räumten die Drachendame ein. - "Großmutter hat die Entdeckung dieses Ortes und seine Geschichte mindestens ebenso eindrucksvoll dargestellt wie dein Onkel. Ich frage mich wie es wohl für sie gewesen sein muss aufzuwachsen. Erst unschuldig und unwissend wie jedes Küken die Welt zu betreten und dann festzustellen, dass man womöglich die letzte der eigenen Art ist. Stell dir das vor: Nie einen anderen Menschen zu treffen. All die Instinkte und Bedürfnisse die mit zunehmendem Alter an die Oberfläche steigen niemals befriedigen zu können." -
- "Das stelle ich mir schrecklich vor." - antwortete Ismira und schwieg dann betreten.
- "Was hast du?" - erkundigte sich Anarie. Offenbar hatte sie gespürt, dass Ismiras Gedanken noch um einiges trübsinniger geworden waren.
- "Ich schäme mich etwas es zuzugeben meine Süße." - die junge Reiterin hoffte inständig, dass ihre Drachendame ihm nicht böse sein würde. - "Aber was Du da gerade angesprochen hast ist ein Aspekt, der bisher noch an mir vorbeigegangen ist. Ich habe erstmal nur an all die vielen toten Menschen in der Stadt gedacht und völlig vergessen, dass das hier fast den Beginn vom Aussterben deiner Art markiert hätte." -
Zu Ismiras Erleichterung reagierte Anarie nicht wütend sondern stubste ihrer Reiterin liebevoll auf geistiger Ebene an.
- "Das ist doch nicht schlimm Rotschopf. Die Erfahrungen die wir hier gemacht haben ist eine große und bedeutungsvolle. Es wird noch eine Weile dauern bis wir sie wirklich vollständig verarbeitet und begriffen haben. Du bist nun mal ein Ohren-rund-zwei-Beine-Mensch. Es ist doch nur natürlich, dass diese Ereignisse zu erst einmal aus dem Blickwinkel deines Volkes betrachtest. Wie du gerade beweist bedeutet dies ja nicht, dass du unfähig bist über diesen Blickwinkel hinauszugehen." -
- "Ich hab dich auch lieb meine Süße." - antwortete Ismira und genoss für einige Augenblicke einfach nur Anaries Nähe.
- "Weist du," - setzte die Violette Drachendame schließlich wieder an. - "Du solltest vielleicht einmal mit deinem Onkel reden." -
Anarie, die einige Meter entfernt von Ismira lag, schickte ihrer Reiterin ein Bild. Diese erkannte ihren Onkel, der in einiger Entfernung zu Saphira und dem Lager, am Rande des Hochplateaus saß auf dem Jnthurheim erbaut war. Der Anführer der Reiter saß mit dem Rücken an einen großen Felsbrocken gelehnt und starrte über die dunkle Ebene.
- "Ich beobachte ihn schon ein Weilchen." - verriet Anarie mit einem verschwörerischen Unterton in der Stimme. - "Auch er scheint heute Nacht keine Ruhe zu finden und das, obwohl er diesen Ort doch schon länger kennt." -
Ismira stimmte er Drachendame stumm zu und erhob sich leise von ihrem Lager. Sie orientierte sich und ging dann auf den Punkt zu wo ihr Onkel saß. Auf dem Weg fiel ihr auf, dass Tailon und Cale offenbar die einzigen waren, die tief schliefen.
- "Kunststück!" - stichelte Anarie. - "Mein Bruderherz hat praktisch den ganzen vergangenen Tag am Himmel verbracht und Flugmanöver geübt. Und dein Nistpartner hat sich stundenlang mit seinem Schwert beschäftigt." -
- "Das ist eben ihre Art mit dem umzugehen, was wir hier erfahren und gelernt haben." - murmelte Ismira nachdenklich.
- "Bei den Männchen jeder Spezies scheint das Gehirn besser zu funktionieren wenn auch die Muskeln arbeiten. Warum ist das eigentlich so Rotschopf?" -
Ismira lachte leise und schickte ihrer Drachendame ein - "Männer eben! -" als Antwort.
Inzwischen hatte die junge Frau die Stelle erreicht an der ihr Onkel saß und Eragons feinen Sinnen waren auch die leisen Schritte seiner Nichte nicht entgangen.
"Es war ein langer Tag nicht war?"
Eragons Frage wurde von einem freundlichen Lächeln begleitet welches aber, nach Ismiras Einschätzung, nicht wirklich die Augen des Anführers der Drachenreiter erreichte.
"Für uns alle." antwortete die junge Frau schlicht und setzte sich neben ihren Verwandten ins Gras. Sie zog die Beine an den Körper, schlagen die Arme darum und bettete ihr Kinn auf die Knie. Dann blickte sie ihren Onkel einfach nur an. Einige Sekunden erwiderte der andere Drachenreiter ihren fragenden Blick, dann ließ er seine Augen wieder über die Ebene schweifen, die in der tiefen Nacht im Grunde nur eine dunkle Leere darstellte.
Nach einigen Minuten zweifelte Ismira ob er Onkel ihr stummes Angebot ihm zuzuhören verstanden hatte. Gerade als sie darüber nachdachte und die etwas deutlicher werden sollte ergriff ihr Verwandter das Wort: "Ich weiß, dass du mir anbietest dir meine Sorgen anzuhören aber ich bin nicht sicher ob ich dieses Angebot guten Gewissens annehmen kann."
"Warum nicht?"
"Ich bin dein Lehrer." erwiderte Eragon.
Ismira musste leise kichern.
"Und als solcher muss du natürlich die Fassade von Stärke und Allwissenheit aufrechterhalten. Ich verrate dir jetzt etwas Onkel: Für allwissend habe ich noch nie gehalten. Du bist vielleicht mein Lehrer aber auch mein Onkel und ich deine Nichte und wenn du nicht mit der Familie über deine Sorgen reden kannst mit wem denn dann?"
Nun stimmte Eragon in Ismiras leises Lachen ein und warf seiner jungen Verwandten einen dankbaren Blick zu.
"Dieser Ort geht auch an mir nicht spurlos vorbei Ismira." erklärte er schließlich. "Jedes Mal wenn ich ihn aufsuchen spüre ich die Last der Verantwortung die auf meinen Schultern ruht um einiges deutlicher. Ich habe viel über die Geschichte des alten Ordens gelernt und glaube mir Ismira, wir stehen immer noch am Anfang des Wiederaufbaus trotz aller Fortschritte. Es ist beängstigend mit welcher Geschwindigkeit etwas zusammengestürzt ist was so mächtig war, dass es in den Grundfesten der Welt verankert schien. Du erinnerst dich doch, dass ich euch auf dem Weg hierher etwas über die Wyrdfel erzählt habe. Ich habe mich auch sehr intensiv mit ihrer Geschichte beschäftigt. Weißt du wieso?"
Ismira schüttelte stumm den Kopf.
"Um zu verstehen was damals falsch gelaufen ist. Ich habe versucht herauszufinden wo der Fehler war." erklärte Eragon. "Unglücklicherweise musste ich erkennen, dass es keinen einzelnen Fehler gibt den man vermeiden kann. Es ist mir unmöglich eine Stelle einzukreisen und zu sagen wenn die Reiter damals hier links gegangen wären und nicht rechts, dann wäre alles anders gekommen."
"Du meinst, es gibt nicht eine große Gemeinsamkeit bei Galbatorix und denen die ihm gefolgt sind, die man einfach nur vermeiden muss und so etwas passiert nie wieder."
Ismira fasste das, was ihr Onkel auszudrücken versuchte möglichst präzise zusammen. Ihr gegenüber nickte nur.
"Es sind viele Kleinigkeiten, die ungünstig zusammengetroffen sind und schließlich diese Katastrophe ausgelöst haben. Zum Beispiel hätte Galbatorix nie eine Armee ausheben können wenn es den alten Reitern gelungen wäre die Notwendigkeit der Abschaffung der Sklaverei den Adligen und Großgrundbesitzern besser begreiflich zu machen. Doch es hat umfassende Versuche gegeben den betroffenen Fürsten und Händlern die Vorteile der Abschaffung klarzumachen. Einige wollten einfach nicht verstehen. Oder ich frage mich manchmal, was gewesen wäre, wenn Galbatorix nicht auf Morzan getroffen wäre sondern beispielsweise auf meinen Vater Brom. Hätte mein Vater ihn dem Ältestenrat ausgeliefert anstatt zum Gefolgsmann des späteren Königs zu werden und ihm zu helfen einen Drachen zu stehlen? Oder wäre es Galbatorix gelungen auch ihn mit Lügen und Honigworten gefügig zu machen? So viele Variablen. Es ist fast wie der Blick über diese Ebene da draußen. Keine Einzelheiten sind mehr erkennbar in der Dunkelheit. Alles ist ein großes, schwarzes Nichts. Ich frage mich, wie soll ich all die Einzelheiten und Variablen im Blick behalten und verhindern, dass es wieder zu so einer Tragödie kommt? Ich finde keine Antwort darauf. Es scheint einfach unmöglich."
Eine Weile schwiegen Onkel und Nichte. Ismira war sich zunächst nicht sicher, was sie ihrem Verwandten antworten sollte.
- "Denkt an unser Gespräch vorhin."- flüsterte Anarie plötzlich in die Gedanken ihrer Reiterin. - "Versuch einmal alles aus ein etwas anderen Blickwinkel zu betrachten." -
Einige Minuten musste Ismira nachdenken, dann viel ihr etwas passendes ein.
"Aber ist es denn nicht gut, dass so viele Faktoren zusammenkommen müssen damit eine solche Tragödie sich anspinnt?"
Eragon bedachte seine Nichte mit einem fragenden Blick.
"Du hast natürlich recht Onkel. Niemand kann alle Variablen aus denen sich das Schicksal zusammensetzt im Blick behalten aber sag mir, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dass all die unglücklichen Faktoren, die den Aufstieg der Wyrdfel begünstigt haben weder zusammentreffen? Ich meine ist es nicht etwas unwahrscheinlich, dass ein Drachenreiter mit begnadeter Redekünsten und überragenden Fähigkeiten erneut seinen Drachen verliert, wahnsinnig wird und beschließt Rache zu nehmen. Daraufhin trifft er passenderweise auf einen mächtigen Drachenreiter, dem es ein wenig an Hirnschmalz fehlt und dieser wird sein treuester Diener. Obendrein hilft ihm dieser Drachenreiter dann noch unbemerkt einen Jungdrachen zu stehlen und er kennt auch noch andere Reiter die ebenfalls unzufrieden sind und bereit sind ebenfalls den Orden zu verraten. Des weiteren muss besagter verrückter Reiter auch noch Spione in den Reihen der Drachenreiter platzieren um seine ersten Siege zu erringen und dann........".
"Schon gut! Schon gut!"
Mit erhobenen Händen unterbrach Eragon den Redeschwall seiner Nichte. Diesmal erreichte das Lächeln auf dem Gesicht auch die Augen des Anführers der Reiter.
"So habe ich das noch nie betrachtet."
Ismira erkannte, dass sich eine tiefe Erleichterung auf Eragons Gesicht ausbreitete. Offenbar hatte sie wirklich etwas gesagt, das ihrem Onkel etwas half.
"Du hast recht." räumte Saphiras Reiter schließlich ein. "Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass alle diese Faktoren noch einmal in derselben ungünstigen Konstellation zusammentreffen."
"So oder so ähnlich müssen sie aber zusammentreffen damit eine solche Tragödie entsteht." beharrte Ismira. "Du auf der anderen Seite muss nur einen dieser Faktoren aus der Gleichung ausklammern und das Ergebnis ist ein völlig anderes."
Schmunzelnd legte Eragon einen Arm um die Schultern seiner Nichte.
"Den starken Willen und den Mut deines Vaters, sowie die Klugheit und das gute Herz deiner Mutter. Was liebe Nichte habe ich eigentlich zu dieser beeindruckenden Kombination hinzugefügt?"
- "Kleiner, ist das nicht offensichtlich?" -
Saphiras Stimme mischte sich plötzlich in die Unterhaltung. Die beiden Reiter sahen sich zu der blauen Drachendame um. Ihr großes Auge schien in der Dunkelheit zu ihm herüber zu leuchten und besonders Ismira funkelte es liebevoll an.
"Meinst du meine Fähigkeit an den Herausforderungen des Lebens zu wachsen meine Schöne?" mutmaßte Eragon mit einem verspielten Tonfall in der Stimme.
"Oder die Fähigkeit meines Onkels Weisheit zu erlangen die weit über seine Jahre hinausgeht Schimmerschuppe?" erkundigte sich Ismira.
Saphira stieß mal belustigtes Schnauben aus und gähnte ausgiebig.
"Nein. Du Küken hast von meinem Reiter seine unnachahmliche Fähigkeit der er seine Nase an Orte zu stecken wusste eigentlich nichts zu suchen hat. Vor diesem Hintergrund ist es sehr großzügig von dir das du so nett zu ihm bist."

Eragon Band 6 - Die Wege der ReiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt