Eragon verließ das Badezimmer des Quartiers, welches er gemeinsam mit Arya in Ilirea bewohnte. Er hatte einen anstrengenden Tag hinter sich und auch wenn seine Arbeit nicht gerade schweißtreibend gewesen war, hatte er dringend der entspannenden Wirkung eines Bades bedurft. Nun wählte er sich aus dem Kleiderschrank einige Stücke, die weniger repräsentativ aber dafür bequem waren.
Während er sich ein einfaches braunes Leinenhemd und eine weiche Stoffhose überzog dachte er an die zurückliegenden Stunden die er mit der Übersetzung von Durzas Tagebuch verbracht hatte. Es war eine entnervende und Zeit aufwändige Arbeit gewesen. Zwar gab es einige Passagen, die er ohne Probleme direkt lesen konnte doch diese enthielten nur sehr allgemeine Informationen die im wesentlichen keine neuen Erkenntnisse brachten. Die wirklich komplexen Abschnitte des Tagebuchs waren in der kompliziertesten Form der Sprache der Poesie verfasst. Nur zu gut erinnerte sich Saphiras Reiter daran wie Oromis ihm auf dem Höhepunkt seiner Ausbildung einige ähnlich komplexe Texte zum übersetzen gegeben hatte. Er hatte eine Woche gebraucht für den ersten Abschnitt der aus drei Sätzen bestand! Die elfischen Glyphen bildeten in diesen Texten ein komplexes Muster und um den gesamten Text zu verstehen musste man, wie als wenn man eine Zwiebel schält, Schicht für Schicht abtragen. Nur langsam entfaltete sich die eigentliche Bedeutung des Textes. Interpretierte man Schriftzeichen falsch konnte es sein, dass die Arbeit von Stunden vergeblich gewesen war. Diese Art der geschriebenen Form der alten Sprache war im Grunde eine Möglichkeit Botschaften zu verschlüsseln. Auch Glaedr und Umaroth hatten dem jungen Anführer der Reiter nicht in dem Maße helfen können wie es wünschenswert gewesen wäre. So weise die beiden auch sein mochten, so waren sie dennoch Drachen. Für das geschriebene Wort hatten sie in ihrem Leben nie wirklich Verwendung gehabt und daher war selbst ihr Wissen lückenhaft.
Doch Glaedr hatte herausgestellt, dass es zweifellos etwas besonderes war, dass Durza diese hohe Form der elfischen Schriftzeichen überhaupt kannte. Eigentlich stellte auch das ein Wissen da, das hohen Würdenträgern des schönen Volkes oder Mitgliedern des Ältestenrates der Drachenreiter vorbehalten war.
Dieser Umstand beunruhigte die beiden Eldunari tief. Eragon hatte die Seelenhorten in einem kleinen Schränkchen deponiert und das Möbelstück mit etlichen Schutzzaubern versehen. Trotzdem konnte er spüren, dass die beiden alten Drachen noch immer in eine Diskussion vertieft waren die sich offenbar genau mit diesem Punkt beschäftigte.
Die wenigen Erkenntnisse die Eragon gewonnen hatte, waren von ihm auf einer Schriftrolle zu Papier gebracht worden und er hatte vor, sie mit Arya zu diskutieren sobald sie von Tjurins Verhör zurückkehrte.
Gerade als er seine elfische Gefährtin dachte flog die Tür zu seinem Quartier auf und Arya stürmte in den Raum. Sie beachtet Eragon gar nicht, schritt energisch zum Fenster, stämmte ihre Arme auf das Fensterbrett und starrte eisern hinaus.
Eragon erinnerte sich daran, dass sein Vater Brom ihm einmal gesagt hatte, dass es eines feinsinnigen Geistes bedurfte um mit dem schönen Volk umzugehen. Die Beziehung, die Saphiras Reiter schon seit Jahren mit der ehemaligen Elfenprinzessin pflegte, hatten den jungen Mann mehr als einmal gezeigt was sein Vater gemeint hatte.
Jemandem der Arya nicht kannte hätte ihre Körperhaltung nicht viel verraten. Eragon jedoch verstand es die Elfe zu lesen als wäre sie ein offenes Buch. Ihre Muskeln waren angespannt, ihr Blick starr und durchdringend und der Atem ging stoßweise. Ganz offensichtlich bemühte sich Arya mit all ihrer Kraft ihre Beherrschung aufrecht zu erhalten.
Der Bauernjunge aus Carvahall hätte Arya nun direkt angesprochen und sie nach dem Grund für ihre Aufregung gefragt. Der Drachenreiter wusste allerdings, so sehr es ihm auch widerstrebte, dass er sich nun in Geduld üben musste.
Kontrolle war für die Elfen sehr wichtig. Besonders wenn es um ihre Gefühle ging. Da sie nicht besonders fruchtbar waren konnten sie es sich nicht leisten jedem Impuls einfach nachzugeben. Eragon wusste aber wie kraftvoll ihre Gefühle waren. Arya jetzt anzusprechen wäre als würde man einen Finger in eine offene Wunde legen. Es würde nur dazu führen, dass sich die Elfe noch weiter von ihm zurückzog.
Daher ging er lieber leise zu einer kleinen Anrichte, wo alle Zutaten platziert waren um etwas Tee aufzubrühen.
Stille hatte sich im Raum ausgebreitet als er an die Zubereitung einer Kräutermischung ging und schließlich eine Kanne mit den dampfenden Gebräu und zwei Tassen auf dem runden Tisch in der Mitte des Raums abstellte.
"Menschen!" flüsterte Arya schließlich. Ihre Stimme klang kalt und tiefe Wut und Enttäuschung schwang ihn ihr mit. "Impulsiv, arrogant und kurzsichtig! Die Natur hat schon gewusst was sie tat als sie diesen Volk die Magie weitestgehend vor enthielt."
Eragon war sich nicht sicher ob die Elfe wirklich mit ihm gesprochen hatte, doch da inzwischen einige Zeit vergangen war und er die Beleidigung seines Volkes nicht vollständig auf sich sitzen lassen wollte wagte er einen Vorstoß: "Ja, wir Menschen sind schon furchtbar."
Ruckartig drehte sich Arya zu ihm um. Eragon erkannte, dass Überraschung über ihr Gesicht flackerte. War sie so in Gedanken gewesen, dass sie ihn überhaupt nicht bemerkt hatte? Oder hatte sie einen so harten Kampf gegen ihre Gefühle ausfechten müssen, dass sie unwissentlich etwas laut ausgesprochen hatte was eigentlich nicht für seine Ohren bestimmt war? Genau konnte Eragon das nicht sagen doch nach einigen Momenten des Blickkontaktes schlug Arya beschämt die Augen nieder.
"Es tut mir leid. So habe ich das nicht gemeint. Verzeih mir bitte."
Eragon musste nicht lange überlegen. Mit zwei Schritten überbrückte er die Distanz zu seiner Gefährtin und zog sie in seine Arme. Er spürte die sich Aryas warmer Körper an seinen schmiegte und auch sie die Arme hinter seinem Rücken schloss. Ihr Kopf ruht auf seiner Schulter und zärtlich strich er ihr über den Rücken. Einige Minuten standen die beiden so da bis sich Aryas Atmung fast gänzlich entspannt hatte.
Als sie voneinander lösten erkannte Eragon, das Arya viel von ihrer innere Ruhe zurückgewonnen hatte.
"Danke." sagte sie schlicht und küsste ihn zärtlich.
"Wir hatten wohl beide einen schweren Tag." vermutete Eragon im Anschluss und wies auf die bereitgestellte Kanne Tee. "Komm, er wird uns beiden gut tun."
Die beiden Gefährten nahmen an dem runden Tischplatz und Eragon reichte Arya eine Tasse des heißen Tees. Noch einen Augenblick schwiegen die beiden und nippten an ihren Tassen. Schließlich weiß Eragon, der wieder eine Unterhaltung in Gang brachte.
"Ich gehe davon aus, dass es die Untersuchung von Tjurins Geist war die dich so aus der Fassung gebracht hat, oder?"
Arya nickte und begann zu erzählen:
"Ich habe grade zu allgemein über dein Volk gesprochen Eragon und das tut mir leid aber ich habe die letzten Stunden damit verbracht in einen Abgrund zu blicken indem ich die düstersten Charakterzüge zu den Menschen fähig sind versammelt gefunden habe. Eine Geisteskrankheit liegt bei Tjurin ganz eindeutig nicht vor. So sehr ich seinen Vater, Herzog Aurast auch schätze muss ich leider sagen, dass er die Verantwortung dafür trägt was sein Sohn heute ist. In Ermangelung eines besseren Begriffes muss ich sagen, dass Tjurin schlicht und ergreifend verwahrlost ist. Nicht körperlich. Der Wohlstand seiner Familie beschert ihm Gesundheit und ordentliche Kleidung. Es ist aber auch möglich seelisch zu verwahrlosen Eragon. Tjurin hat einer absoluten Menschen verachtende Einstellung zu seiner Umwelt. Er neigt dazu sich in den Mittelpunkt zu rücken und alle anderen als Untergebene anzusehen. Zwar fühlen sich einige Adlige dem einfachen Volk überlegen aber das ist bei Tjurin nur ein Teil des Ganzen. Er hat eine tiefe Abneigung dagegen, dass irgendjemand über ihm stehen könnte. Wenn es eine solche Person gibt, beginnt er fast augenblicklich mit der Suche nach einer Möglichkeit auf irgend eine Weise Überlegenheit zu erreichen. Sei es durch Titel, Fähigkeiten oder Geschlecht. Sein gegenüber muss seine Überlegenheit noch nicht einmal anerkennen. Es genügt ihm wenn er sich einreden kann überlegen zu sein. Er ist verantwortlich für die Vorgänge in Bullridge und er hat ganz bewusst versucht die Mutter seines Kindes und das ungeborene Leben zu vernichten. Des weiteren hat er noch einen weiteren Mord begangen um in Besitz von Durzas Tagebuch zu kommen. Genauer gesagt wollte er dem alten Mann, der es verkauft hat, nicht den vereinbarten Preis zahlen obwohl er es gekonnt hätten. Er hat also ein Leben ausgelöscht um Geld zu sparen. Positiv kann ich ihn nur anrechnen, dass die Schöpfung des Schatten-Ra zacs in der Tat ein Unfall war. Er wollte das Wesen mit einem herbeigerufenen Geist angreifen und die veränderten Fähigkeiten des Ra zacs haben die Energie des Geistes aufgesogen. Er empfindet jedoch keinerlei Reue"
Eragon schüttelte entgeisterd den Kopf.
"Dann haben sich unsere Befürchtungen was ihn betrifft also bewahrheitet. Aber was meinst du damit, wenn du sagst das Tjurin verwahrlost ist und dass Herzog Aurast Verantwortung dafür trägt?"
Arya überlegt einen Moment bevor sie zu neuen Erklärungen anhob:
"Mit verwahrlost meine ich, dass manche Teile seines Bewusstseins, auch wenn man es nicht als eine Geisteskrankheit bezeichnen kann, regelrecht unterentwickelt sind. Oder sagen wir besser missgebildet. Man kann nicht sagen, dass er keine Moral hätte. Seine Vorstellungen sind nur denkbar abwegig. Er ist der Meinung, dass gut ist was ihm nützt und schlecht das was ihm schadet."
"Das erinnert mich ein wenig an die Geisteshaltung eines verzogenen Kindes. Man kann hundertmal sagen, dass beispielsweise zu viel Süßspeisen ungesund sind, es besteht trotzdem darauf." murmelte Eragon.
"Das entspricht exakt meinem Gedankengang Eragon." erwiderte Arya mit Anerkennung in der Stimme ob der Einsicht ihres Gefährten. "Im Grunde ist Tjurin ein Produkt seiner Kindheit. So wie wir alle. Sein Vater hat ihn niemals mißhandelt er hatte nur einfach keine Zeit für ihn. Er hat sich ständig mit politischen Dingen auseinandersetzen müssen und Verwaltungsaufgaben für die ihm unterstellten Ländereien wahrnehmen müssen. Das hat bei dem jungen Tjurin zu einer gewissen Wut auf das Volk geführt. Eine Form von Verachtung."
"Er hat das Gefühl entwickelt, das die Bürger ihm seinen Vater wegnehmen durch ihre ständigen Sorgen und Bedürfnisse."
Arya nickte und fuhr fort:
"Sehr richtig. Dazu kommt, dass er ständig von Dienern betreut wurde die sich ihm gegenüber sehr unterwürfig verhalten haben. Daher stammt seine Einstellung etwas Besseres zu sein. Diese beiden Punkte sind im Grunde das Fundament von Tjurins Wesen. Darauf hat sich sein Charakter aufgebaut und so ist er durchdrungen vom Kummer eines vernachlässigten Kindes. Das hat alles was er ist vergiftet. Vor diesem Hintergrund war es auch keine gute Idee von Herzog Aurast ihn fortzuschicken zu den Nachtfalken."
"Nun, all das macht sein Handeln zwar nachvollziehbar aber eine Entschuldigung ist es in der Tat nicht. Nimm beispielsweise Murtagh. Auch er ist ohne Eltern aufgewachsen und sein Vater... nun ja, wenn man sich ein Bild über Morzans Qualitäten als Vater machen will muss man sich nur den Rücken meines Bruders ansehen. Trotzdem ist es Murtagh gelungen ein ehrbarer Mensch und selbst liebender Vater zu werden."
"Da hast du recht Eragon. Es gab auch durchaus Menschen, die Tjurin während seiner Kindheit Liebe und Freundschaft angeboten haben. Er hat sie nur einfach trotzig zurückgewiesen. Wenn es wahr ist, dass wir alle mit den gleichen Talenten zum guten wie zum Bösen geboren werden, muss man einfach sagen, dass er sich für die falschen Talente entschieden hat."
"Dann ist es nun an den Gerichten ein Urteil über ihn zu fällen." brummte Eragon. "Man darf nicht außer Acht lassen, was du erfahren hast aber es genügt nicht um sein Verhalten wahrhaft zu entschuldigen."
"Wir werden bei Marlena nicht dieselben Fehler machen oder?"
Aryas Frage traf Eragon unvorbereitet.
"Wie kommst du darauf?"
Als die Elfe den Anführer der Reiter anblickte, sah er etwas was man bei Arya wirklich nur selten sah. Unsicherheit.
"Auch wir haben ernste Pflichten in unserem Leben. Pflichten die uns oft vereinnahmen und verhindern, dass wir Zeit mit unserer Tochter verbringen."
Eragon langte über den Tisch und ergriff Aryas Hand.
"Nein! Wir werden nicht dieselben Fehler machen. Wir werden uns nämlich die Zeit nehmen Marlena zu erklären was wir tun und sie so weit es geht an unserem Leben und den Pflichten die es mit sich bringt teilhaben lassen."
"Du hast Recht." erwiderte die Elfe und überlegt einen Moment. "Du hast wirklich recht. Das hat Herzog Aurast nie getan. Er hat versucht sein schlechtes Gewissen durch teure Geschenke zu beruhigen. Sicherlich war es gut gemeint aber leider nicht das was sein Sohn gebraucht hätte."
Eragon nickte und wieder breitete sich ein Moment der Stille aus. Schließlich war es Arya die fragte: "Was hat deine Untersuchung von Durzas Tagebuch ergeben?"
Eragon seufzte und begann seine Gefährtin die Probleme zu erklären auf die er gestoßen war.
"Ungewöhnlich." flüsterte Arya und wer die Elfe kannte, hörte deutlich an ihrer Stimme, dass sie besorgt war. "Auch ich kann mir nicht erklären woher Durza dieses Wissen um die geschriebene Form der alten Sprache haben soll."
"Einen interessanten Punkt konnte ich jedoch hervor arbeiten." erklärte Eragon. "Durza hat gewusst, dass in Belatona ein Dauthdaert aufbewahrt wurde. Er hat sogar beträchtliche Anstrengungen unternommen die Waffe in seinen Besitz zu bringen. Aber Galbatorix hat ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Immer wieder hatte er plötzlich einen Auftrag für Durza. Wusstest du, dass der König ursprünglich vorhatte die warten im Beor-Gebirge mit seiner regulären Armee anzugreifen und nicht mit den Urgals?"
Arya schüttelte den Kopf.
"So war es aber. Es hatten sogar schon geheimer Rekrutierungsmaßnahmen eingesetzt und die Armee von 16.000 Mann zu verstärken. Es hat uns damals überrascht wie schnell Galbatorix eine Streitmacht von über 100.000 Mann aufstellen konnte und zu den brennenden Steppen marschieren konnte. Ein Teil dieser Streitmacht existiert einfach bereits ohne dass die Varden es bemerkt hatten. Plötzlich jedoch hat der König seine Pläne geändert und Durza ausgeschickt um die Urgals für den Angriff auf Tronjheim zu gewinnen. Meiner Meinung nach wollte er den Schatten beschäftigt halten. Wir wissen heute, dass Galbatorix zu diesem Zeitpunkt bereits nach dem wahren Namen der alten Sprache forschte. Ich denke, er versuchte Zeit zu gewinnen weiter der Ansicht war, dass welche Macht Durza auch immer von dem Dauthdaert zu erhalten hoffte, er ihr mit dem Wort der Wörter gewachsen wäre."
"Eine logische Überlegung." räumte Arya ein. "Vielleicht erhoffte sich Durza aber gar nicht eine besondere Kraft zu erhalten. Vielleicht wollte er nur eine wirksame Waffe für den Fall, dass er gegen Shruikan antreten müsse. Wir wissen, dass er gegen Galbatorix integriert hat."
"Das wäre denkbar." sagte Eragon. "Das erklärt aber noch nicht woher Durza so explizite Kenntnisse der geschriebenen Form der alten Sprache hat oder warum Schatten und Geister ganz besonders Elfen zu hassen scheinen. Es ist nur ein Gefühl und ich kann es noch nicht belegen aber mein Instinkt sagt mir, dass mehr dahinter steckt."
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Eragon Band 6 - Die Wege der Reiter
FanfictionDas ist die Fortsetzung zu Eragon Band 5 - Jedes Ende ist ein Anfang. Wer Band 5 nicht kennt, sollte es erst lesen, um Band 6 zu verstehen. Ich sage es hier nochmal, dass mir die Geschichte nicht gehört. Ich habe sie nur auf...