103. Eine besondere Art von Kälte

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Seite an Seite schritten Cale und Ismira die Hauptstraße des Dorfs Isencroft entlang. Nach dem sie das ehemalige Heimatdorf des jungen Drachenreiters erreicht hatten, hatten sich die beiden jüngsten Mitglieder des Ordens zunächst, wie es die Tradition verlangte, beim Dorfältesten der Siedlung vorgestellt und den Grund ihres Hierseins erklärt.
Die Unterhaltung hatte nicht lange gedauert. Mit Erleichterung hatte der Vorsteher des Ortes, er war ebenfalls Hufschmied, auf die Ankündigung reagiert, dass die beiden Drachenreiter nur über Nacht zu bleiben gedachten. Natürlich hatte er seine Erleichterung nicht offen eingestanden. Mit vielen Verbeugungen und ewigen Beteuerungen, dass die beiden edlen Gäste sehr willkommen wären hatte er seine Besucher schließlich hinauskomplimentiert.
Nach dieser etwas unterkühlten Begrüßung hatten sich Tailon und Anarie von ihren Reitern verabschiedet um sich nach der langen Reise etwas zu fressen zu besorgen. Cale hatte den beiden Jungdrachen erklärt wie sie den Hof seines Onkels Hanbar finden konnten und sich anschließend mit Ismira auf dem Weg gemacht.
Es kann dem jungen Buchbindersohn so vor, als würde er auf ein anderes Leben zurückblicken als er die vertraute Hauptstraße des Dorfes entlangschritt. Nichts hatte sich verändert. Die Bevölkerung von Isencroft bestand hauptsächlich aus Fischern die ihren Lebensunterhalt aus den Gewässern des Isenstar schöpften. Wie eh und je hingen die Netze der einzelnen Fischer vor ihren Häusern zum Trocknen und hier und da wurde ein Loch in den modrig richenden Maschen gestopft.
Aufmerksamkeit erregten die beiden jungen Leute, die in edlen Gewändern durch das Dorf schritten kaum. Niemand begrüßte sie oder suchte Blickkontakt mit den beiden.
"Das ist aber kein besonders gastlicher Ort." ließ sich Ismira plötzlich vernehmen.
Cale sah sich zu seiner Gefährtin um und entdeckte tiefe Verunsicherung in ihren Gesichtszügen. Der junge Reiter lächelte bitter und legte den Arm um seine Gefährtin.
"Das hier ist nicht Carvahall Ismira."
"Allerdings nicht." murmelte die junge Frau. "Die Leute scheinen regelrecht Angst vor uns zu haben. Ich dachte die Stimmung hätte sich zu Gunsten der Reiter gebessert."
"Das hat sie auch." sagte Cale. "Wenn wir vor ein paar Jahren hier aufgetaucht wären hätten sich die Leute regelrecht in ihre Häuser geflüchtet. Jetzt ignorieren Sie uns einfach nur."
"Und das nennst du eine Verbesserung?" trotzig verschränkte Ismira die Arme vor der Brust und Blicke ihren Gefährten ungläubig an.
"Um das zu verstehen musste die Geschichte dieses Dorfes kennen Ismira. Der fundamentale Unterschied zu Carvahall ist, dass hier nie eine wirkliche Dorfgemeinschaft entstanden ist. Isencroft war ursprünglich eine kleine Ansiedlung von Fischerfamilien. Die Familien hatten sich hier niedergelassen, weil meist morgens ein günstiger Wind vorherrscht der ihre Boote weit auf den See trägt und abends, wenn die vollen Boote den Rückweg antreten wechselt der Wind fast mit mathematischer Präzision die Richtung und trägt die Boote ans Land zurück. Einige der alten Fischer sagen, dass das etwas mit der Sonne zu tun hat die auf die Wasseroberfläche scheint, sie erwärmt und dadurch irgendwie den Wind beeinflusst. In jedem Fall ist das sehr günstig für die Fischer. Außerdem liegen nicht weit von hier einige Sumpfwiesen, die der Lebensraum einer Form von Süßwasserkrebsen sind. Diese Krebse sind eine Spezialität dieser Gegend und auch beim Adel sehr beliebt. Sie gelten als Delikatesse. Weil dem aber so ist kamen oft Dienstboten aus Gil' ead um für ihre Herrschaft diese Köstlichkeit einzukaufen. Wo es hübsche Mägde gibt da sind auch meist Soldaten nicht fern die diesen jungen Frauen den Hof machen. Die Mägde waren noch willkommen denn sie brachten Geld aber mit den Soldaten kam das Laster. Schließlich haben dann einige Wirtshausbesitzer festgestellt, dass sich hier so mancher Taler machen lässt. So entstanden die Gasthöfe, die den Soldaten Alkohol boten und eine Möglichkeit sich mit ihren "Eroberungen" in ein stilles Kämmerlein zurückzuziehen. Wo es solche Gaststätten gibt sind auch meist Huren nicht weit und so kommt eins zum andern. Die Fischer gaben den Wirten die Schuld daran, dass ihr ehrbarer Ort nun eine Lasterhöhle war. Die Wirtshausbesitzer auf der anderen Seite argumentierten, dass sie so die betrunkenen Soldaten wenigstens davon ab hielten die ehrbaren Frauen des Dorfes zu belästigen. Es gibt also seit Jahr und Tag zwei Gruppen in diesem Dorf, die sich im Grunde nicht ausstehen können. Die Nähe des Schatten Durzas und die Schauergeschichten die Galbatorix über die Elfen in Umlauf gebracht hat haben dann ihr übriges getan. Die wenigen Bauern die im Umland leben kommen nur selten in den Ort und bleiben lieber für sich. Wie gesagt: Eine echte Gemeinschaft hat es sie nie gegeben."
"Aber gerade mit der Bedrohung durch Durza, die Soldaten und die angeblich so schrecklichen Elfen müssten die Leute doch eigentlich zusammenhalten." widersprach Ismira.
"Du meinst so wie die Leute von Carvahall gegen die Ra zac und die Soldaten des Königs?"
Ismira nickte.
"Im Grunde hast Du recht aber es gibt zwei Punkte die dagegen sprechen. Zum einen: Carvahall liegt sehr weit entfernt vom nächsten Stützpunkt der Armee. Dein Vater und die Dorfbewohner konnten sich deshalb gegen die anrückenden Soldaten solange behaupten weil sie keine Verstärkung in unmittelbarer Nähe hatten. Gil' ead war der Hauptstützpunkt von Galbatorix Armee. Wenn hier ein Ladenbesitzer oder Gastwirt es gewagt hätte auf zu begehren, dann wäre innerhalb von Stunden ein ganzes Bataillon in das Dorf eingefallen und hätte keinen Stein auf dem anderen gelassen. Deswegen zog man lieber den Kopf ein und kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten. Wenn es dann doch mal Streit mit Soldaten gab wollten Unbeteiligte nichts damit zu tun haben. Unter keinen Umständen wollten sie ebenfalls Ziel von Repressalien werden. Der zweite Umstand liegt in der Feindschaft, wie es zwischen den Fischern und den Gastwirten gibt. Sie weitet sich im Grunde auf das ganze Dorf aus. Mancher Handwerker sind für den Fischfang wichtig. Bootsbauer, Zimmerleute oder Handwerksmeister die Segel und Netze herstellen. Diese Leute profitieren von der Anwesenheit der Fischer und halten damit zu ihnen."
"Und Händler und Handwerker die von den Herbergen profitieren unterstützen die Gastwirte." vollendete Ismira und zu Cales Bedauern schwang bereits Resignation in der Stimme der jungen Frau mit.
"Vertieft wird diese Feindschaft noch dadurch, dass die Gastwirte es durch die zahlreichen Soldaten, die bei ihnen ihren Sold durchbrachten, schnell zu bescheidenem Wohlstand kamen. Für einen Fischer ist ein Wirt nichts weiter als ein Faulpelz, der von den Lastern anderer profitiert. Ein Wirt tut nichts anderes als Wein ausschenken und kassieren. So stellte es sich zumindest für die Fischer da. Sie müssen am frühen Morgen ausfahren, sich den ganzen Tag über auf dem See von der Sonne braten lassen und können am Abend wenn sie Glück haben genug Fisch mit nachhause bringen um ihr auskommen zu haben."
"Ich dachte die Süßwasserkrebse wären so beliebt. Spühlte das nicht auch erfreuliche Summen in die Geldbeutel der Fischer?"
Ismiras Frage sorgte dafür, dass Cale kurz und bitter auf lachte.
"Das was diese Krebse zu Delikatesse macht ist, dass sie so selten sind. Man darf nur einmal im Jahr, während einiger weniger Tage, versuchen sie zu fangen. Und zwar kurz nachdem sie ihren Leich abgesetzt haben. Fängt man sie bevor sie für Nachwuchs gesorgt haben, dann gibt es im nächsten Jahr keine Krebse und wartet man zu lange sterben die Elterntiere. Ihr Lebenszyklus endet nämlich kurz nachdem sie sich fortgepflanzt haben. Sicher kann man dann hohe Preise für die gefangenen Krebse erzielen aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein."
Inzwischen hatten die beiden jungen Leute den Großteil des Dorfes durchschritten und bogen nun auf eine Landstraße ein die auf einem kleinen Hügel hinauf führte. Der sandige Weg wurde gesäumt von Obstbäumen und auf dem Hügel konnte man bereits ein Bauernhaus ausmachen.
"Da oben lebt meine Familie." erklärte Cale. Eine leichte Unruhe beschlich den jungen Mann. Sie würden seine Angehörigen ihn wohl empfangen? War er nicht inzwischen ein völlig anderer? Ein Fremder?
Er kam sicher selbst wie ein Fremder vor.
"Gab es bei euch nie Anlässe wo sich das ganze Dorf versammelt hat? Irgendwelche Feste oder Wettbewerbe? Wenn bei uns in Carvahall ein junges Paar heiratet kommt immer das ganze Dorf zusammen! Wie ist es hier?!"
"Anders." erwiderte Cale trocken. "Zumindest früher war alles anders. Heute, nachdem Galbatorix Herrschaft beendet ist, bemühen die Leute sich zumindest etwas aufeinander zuzugehen. Es sind nicht mehr so viele Soldaten in Gil'ead stationiert und die Wirtsleute müssen sich jetzt mit den Dorfbewohnern gut stellen wenn sie noch ihr Auskommen haben wollen. Aber die Abneigung ist tief verwurzelt und das verschwindet nicht so einfach. Gemeinsame Feste hat es im Grunde nie gegeben. Das hätte unter Umständen nur die falschen Gäste aus der Garnisonsstadt angelockt. Und Hochzeiten? Was soll ich sagen? Die Fischer blieben unter sich und die Wirtsleute blieben unter sich. Gemeinsam hat das Dorf nie gefeiert."
"Was ist mit den fahrenden Händlern?" erkundigte sich Ismira mit letzter Hoffnung in der Stimme. "In Carvahall war ihre Ankunft immer ein Anlass für ausgelassene Freude. Mit ihnen reisten doch auch Gaukler und Geschichtenerzähler."
Cale hasste es aber er musste seine Geliebte wieder enttäuschen.
"Die fahrenden Händler haben bald bemerkt, dass hier in Isencroft nicht viel zu holen ist. Sie haben meistens einen Repräsentanten zum Dorfältesten geschickt und der hat ihn eine Liste gegeben von Gütern die die einzelnen Dorfbewohner gern erwerben würden und was sie bereit wären dafür zu bezahlen. Das konnten sich die Dorfbewohner dann beim Ältesten abholen und dort das Geld hinterlegen. Gaukler, Geschichtenerzähler oder sonstige Darsteller haben sich gar nicht erst die Mühe gemacht ins Dorf zu kommen. In den Schankstuben hätten sie nichts verdienen können, die Soldaten waren nicht an Geschichten interessiert sondern an Schnaps und auf der Straße hätten sich wohl keine fünf Leute versammelt um ihnen zuzuhören."
Cale konnte beobachten wie Ismira sich schüttelte als würde sie frieren.
"Ich möchte deine Heimat nicht beleidigen Cale aber dieser Ort ist einfach kalt. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Es erklärt aber einiges."
"Und was erklärt das hier?"
"Dich. Dich erkläre es."
Cale blieb abrupt stehen und blickte Ismira an.
"Was meinst du damit?"
Ismira trat ein Stück näher zu Cale und blickte ihn aus großen Augen an. Der Wind spielte mit einigen Strähnen ihres roten Haars.
"Warum du immer so still bist Cale und in dich gekehrt. Deine Schüchternheit hat nichts mit deinen Fähigkeiten zu tun. Du schlägst dich mindestens so gut wie ich als Drachenreiter in einigen Punkten sogar besser trotzdem hältst du dich immer so zurück."
Cale überlegte einen Moment, dann konnte er Ismiras Blick nicht mehr standhalten und starrt auf seine Füße.
"Ich glaube du hast recht. Wenn ich so an mein Leben zurück denke hier..... Ich bin nie so wie Du durch die Wälder gestreift und wollte alles entdecken und erfahren. Wenn ich nicht arbeiten musste saß ich in meinem Zimmer und habe Figuren von Helden der Vergangenheit geschnitzt. Wie sie aussahen habe ich aus den Texten entnommen wie meine Familie gesammelt hat. Ich habe immer nur von einem Leben geträumt, das so aufregend ist wie das dieser Helden."
Ismira trat noch näher und legte eine Hand ein Cales Wange so dass er sie erneut anblickte.
"Du hast jetzt die Chance auf ein solches Leben! Aber du musst es eben auch leben und nicht nur einfach an dir vorbeiziehen lassen. Verspricht mir, dass du versuchst jeden Moment zu genießen. Er wird nicht wiederkommen."
Cale musste sich eingestehen, dass Ismiras Worte ihn im innersten berührten. Im Grunde hatte sie doch recht. All das wovon er geträumt hatte war zum greifen nah. Abenteuer, neue, fremde Orte und sogar das wunderschöne Mädchen, das hier direkt vor ihm stand und dass er in Gil'ead, bevor Tailon schlüpfte, nur aus der Ferne hatte bewundern können. Jetzt stand sie hier direkt vor ihm. Sie liebte ihn und er liebte sie. Alles was er tun musste, war sie in die Arme zu nehmen und nie wieder loszulassen.
Cale beschloss genau das zu tun. Er schlang die Arme um Ismiras Hüften und zog sie zu sich bis, sich ihr wohl geformter Körper sanft an seinen schmiegte. Er versiegelte ihre Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss und genoss von ganzem Herzen das Gefühl, dass in dem Aufstieg, als seine zärtliche Geste erwidert wurde.
Als sich ihre Lippen schließlich wiedertrennten legte Ismira ihre Stirn an die von Cale.
"Verspricht mir, dass du versuchst etwas mehr aus der heraus zu gehen."
"Das werde ich." erwiderte der junge Drachenreiter. "Ich verspreche es dir."

Eragon Band 6 - Die Wege der ReiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt