94. Nachbeben

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- "Willst du mir ein Loch in meine Schuppen starren?" -
Tailons lebenslustige Stimme schreckte Cale aus seinen Überlegungen. Tatsächlich hatte er mit leerem Blick auf eine von Tailons dunkelroten Halsschuppen gestarrt. Noch immer bemühte er sich zu verarbeiten was seine Lehrmeister Saphira und Eragon ihnen vor wenigen Stunden enthüllt hatten.
Es war vielleicht das größte Geheimnis in Alagaesia. Die Wahrheit über die Eldunari. Die beiden Lehrmeister des Ordens hatten mit großem Ernst Auskunft über die Herzen der Herzen gegeben. Von Saphira war Cale dies bereits gewohnt. Die Drachendame war eine strenge Lehrmeisterin. Sie erwartete Konzentration und Erfolge. Zwar verstand sie es ihre Schüler angemessen zu motivieren und auf ihre jeweiligen Stärken und Schwächen einzugehen aber sie tolerierte es nicht, wenn man den Unterricht auf die leichte Schulter nahm. Solange man sich Mühe gab unterstützte sie ihre Schützlinge aber wenn sie den Eindruck bekam, dass sich Erfolge aufgrund mangelnden Engagements nicht einstellten konnte es unangenehm werden.
Von Saphira war Cale also Strenge und Ernst gewohnt aber ihr Reiter Eragon hatte sich bisher immer zugänglicher gezeigt. Seine Art zu unterrichten war von der Warmherzigkeit durchdrungen die Cale bei einem großen Bruder erwartete. Heute war aber auch der Schattentötern sehr klar in seinen Vorstellungen gewesen.
- "Was erwartest du?" - erkundigte sich Tailon und nahm damit die Unterhaltung wieder auf. -" Ein ernstes Thema sollte auch auf diese Weise besprochen werden. Und das Geheimnis der Seelenhorte ist eine mehr als ernste Angelegenheit." -
- "Natürlich ist es das." - bestätigte Cale. - "Du hast meine Gedankengänge schon eine ganze Zeit verfolgt oder?"-
Tailon stieß ein für Drachen typisches, heiseres Kichern aus.
- "Ich weiß das du immer erst eine Weile vor dich hin brüten musst bevor du wirklich über das reden kannst was dich bewegt. Aber ich denke jetzt ist es genug. Was bedrückt dich kleiner Bruder." -
Cale musste verstohlen lächeln als sein Drache ihn "kleiner Bruder" nannte. Tailon gebrauchte diesen Spitznamen, seit sein Reiter im verraten hatte, dass der Rote für ihn zu einem Mitglied der Familie geworden war.
Tailon war für Cale in der Tat ein Bruder. Zuerst war der junge Drache ein kleiner Bruder gewesen um den man sich kümmern musste doch inzwischen hatten sie längst die Rollen getauscht.
- "Verschiedene Dinge gehen mir im Moment durch den Kopf. Zum einen finde ich es aufregend dass wir bald Umaroth treffen werden." -
- "Da kann ich dir nur zustimmen." - Tailons Aufregung blitzte durch Cales Gedanken. - "Großmutter hat mir viel über ihn erzählt und du hast mir schon Geschichten über den weißen Gefährten des letzten Meisters der Drachenreiter erzählt als ich noch Eihülle auf den Schuppen hatte." -
- "Ich freue mich auch ihn zu treffen." - bestätigte der junge Reiter. - "Was sich aber nicht begreifen kann ist die Galbatorix es über sich bringen konnte die Eldunari zu versklaven. Ich meine, er war doch auch mal ein Drachenreiter. Er hat gespürt wie wundervoll diese Verbindung ist die wir beide teilen. Er hatte Tausende von Seelen gebrochen und versklavt. Wie konnte er es ertragen diese stolzen Geister so verzweifelt um sich zu haben? Ich verstehe das einfach nicht." -
- "Und ich hoffe, dass du das nie verstehen wirst." - brummte der junge rote Drache. - "Aber eins solltest du nicht vergessen: Galbatorix mag klug, vielleicht sogar genial gewesen sein aber er war auch verrückt. Nach allem was ich über ihn weiß würde ich vermuten, dass er den Schmerz über den Verlust seines Drachen nur dadurch verkraftet hat, dass er sich eingeredet hat für eine große Aufgabe ausersehen zu sein. So hat er seine Schandtaten gerechtfertigt. Alles diente einem höheren Ziel! Das Leiden der Eldunari, der Krieg und der Tod! Alles der Preis, der gezahlt werden musste für sein großes Werk." -
- "Da hast du vermutlich recht. Aber auch die Anführer der Varden haben Opfer verlangt von ihren Soldaten für ein großes Werk. Wo ist die Grenze? Ist es nur der Erfolg, der den Unterschied macht zwischen einem Tyrannen und einem Befreier?" -
- "Wir sind heute aber philosophisch kleiner Bruder." -
Kurz mussten beide Seelenbrüder über Tailons scherzhafte Bemerkung lachen, dann wurde der junge Drache jedoch wieder ernst.
- "Du weißt doch, dass die Elfen kein Fleisch essen oder?" -
- "Natürlich. Seit ich die Fähigkeit entwickelt habe zu hören und den Stimmen des Lebens zu lauschen verzichte ich auch lieber auf Fleischgerichte." -
- "Hältst du mich für ein barbarisches Wesen weil ich trotzdem weiter auf die Jagd gehe und mir nicht ein paar nette Kühe suche, mit denen ich grasen kann?" -
- "Natürlich nicht!" - Antwortete Cale entschieden.
- "Warum?" - bohrte Tailon nach.
- "Ihr Drachen sei nun einmal Jäger. Das ist eure Natur. Und du tötest ja nicht um zu vernichten und zu zerstören oder weil es dir Spaß macht! Du nimmst nur was Du brauchst und nicht mehr. Wir Zweibeiner können Feldfrüchte anbauen, Pilze oder Früchte sammeln. Wir haben die Wahl." -
- "Ganz genau! Ich nehme nicht mehr als ich gebe. Kann man von Galbatorix dasselbe behaupten? Hat er irgendjemand anderen etwas gegeben für das was er genommen hat? Stand er wie Nasuada mit seinen Soldaten an vorderster Front? Ist er dieselben Risiken eingegangen die er von seinen Soldaten gefordert hat? Hat er sich die Loyalität seiner Männer durch seinen pflichtschuldigen Dienst erworben oder hat er ihn einfach erzwungen?" -
- "Ich verstehe worauf du hinaus willst. Galbatorix hat genommen aber nichts gegeben. Er hat Abertausende sterben lassen während er sicher in seiner Festung saß. Er wollte sogar zwei Kinder töten um zu verhindern, dass Meister Eragon ihn angreifen konnte. Und den Dienst seiner Gefolgsleute hat er erzwungen durch Schwüre in der alten Sprachen." -
- "Er hat niemandem die Wahl gelassen. Wenn du dich entscheidest kein Fleisch zu essen obwohl du es könntest ist das ein Opfer das du freiwillig bringst. Wenn ich dir verbiete Fleisch zu essen obwohl du es könntest dann zwinge ich dich dazu. Niemand hat die Männer, die Nasuada gefolgt sind gezwungen den Varden beizutreten. Sie haben es getan weil sie es wollten. Die Königin hat dieses Opfer angenommen und die Gefahr mit ihren Männern geteilt. Galbatorix hat alles und jeden um sich herum gezwungen das zu tun was er für richtig hielt. Das ist die Antwort auf deine Frage. Nimm was man dir gibt und versuch das Beste daraus zu machen. Sei dir aber immer bewusst, dass jedes Werk Opfer fordert für seine Errichtung. Nimm nicht einfach was du glaubst zu brauchen und wage ist ja nicht zu denken, dass du weißt was das Beste für alle ist." -
- "Das werde ich nicht großer Bruder, glaub mir das werde ich nicht." - versprach Cale seinen Drachen und begann ihn am Hals zu kraulen. - "Danke das so gut auf mich aufpasst." -
- "Dafür sind große Brüder doch da." -







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Ismira war nicht mehr so aufgeregt gewesen seit der Drachenreiter- Prüfung in Giel'ead. Sie konnte es kaum fassen, dass sie bald die Gelegenheit haben würden mit Umaroth zu sprechen. Sie hatte so viele Geschichten über den Weißen gehört und hatte so viele Fragen über den alten Orden, dass es in ihrem Kopf summte wie in einem Bienenstock.
- "Ich würde nie so leben wollen." -
Anaries Stimme schnitt sich durch das wilde Tohuwabohu im Kopf ihrer Reiterin.
Ismira brauchte einige Sekunden um sich zu sammeln.
- "Was meinst du meine Süße?" -
Anarie brummte etwas unwillig.
- "Komm schon!" - neckte Ismira. - "Du hättest mich nicht angesprochen, wenn wir nicht etwas auf der Seele liegen würde." -
- "Ich möchte nicht, dass du mich für feige hälst Rotschopf." - murmelte das violette Drachenmädchen.
Einen Augenblick war Ismira in der Versuchung wieder mit einer Neckerei oder einem kleinen Scherz zu antworten. Sie kann jedoch davon ab. Zu deutlich spürte sie, dass ihre Seelenschwester das Thema sehr ernst war.
- "Mein Vater sagt immer: Feige ist nur der, der behauptet keine Angst zu kennen. Denn er läuft vor sich selbst davon." -
Anarie stieß ein behagliche Summen aus.
- "Für einen Zweibeiner ist dein Vater sehr gescheit." -
- "Er wird sich freuen das zu hören edler Sculblaka. Und nun sag schon: Was liegt dir auf der Seele." -
- "Die Vorstellung irgendwann einmal selbst in meinem Eldunari gefangen zu sein." - murmelte der junge Drachendame. - "Nie wieder den Wind unter den Flügeln zu spüren oder auf die Jagd zu gehen. Und dann vielleicht noch jemanden wie Galbatorix hilflos ausgeliefert zu sein." -
Anaries Worte ernüchternden Ismira deutlich. Innerlich schimpfte sie mit sich selbst. Sie hatte sich wieder von der Aufregung des Neuen mitreißen lassen und es versäumt die Dinge aus verschiedenen Blickwinkel zu betrachten.
- "Du hast recht, besonders für die Drachen die Galbatorix dienen mussten war es sicherlich furchtbar. Ich kann er das kaum vorstellen." -
- "Du musst dir nichts vorstellen Rotschopf." - erklärte Anarie. - "Du hast gesehen wie sich meine Artgenossen gefühlt haben." -
- "Wann?" - wunderte sich die junge Reiterin.
- "Während deines Spaziergangs durch den verbotenen Wald." -
Die Erkenntnis traf Ismira so schlagartig als hätte man ja einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Natürlich! Der verbotene Wald! So war er entstanden. Dort mussten die Elfen gelebt haben, die die verwirrten Eldunari betreut hatten. Der Schmerz, die Wut und die Angst dieser ehemals versklavt Drachenseelen hatte die Welt dort aus den Fugen gehoben.
"Denk mal an die Dinge die dir dort begegnet sind Rotschopf: Bäume, mit Ästen und Nadeln scharf wie Krallen. Die plötzliche Kälte an dem Flussufer. Und dann dieses merkwürdige Flughörnchen. Eigentlich ein winziges Wesen: Schwach und unterlegen doch in diesem Wald ein tödliches Raubtier. Das alles ist wie ein stummer Schmerzensschrei meiner Artgenossen. Die Bäume sind ein Ausdruck für ihren Wunsch sich zu wehren. Zurück zuschlagen irgendwie! Sie müssen sich vor Galbatorix gefühlt haben wie dieses Flughörnchen: Klein, schwach und unterlegen. Ihre Weigerung das hinzunehmen hat das Tier so verändert!"
"Und die Kälte könnte für die Trauer einiger Drachen stehen. Die, die zum Beispiel ihre Reiter verloren haben und trotzdem weiterleben mussten."
"Und dieses Vieh, das dich angegriffen hat, vielleicht für das Gefühl, dass etwas um sie herum war, dass alles Leben aus ihnen heraussaugte."
Eine Weile schwiegen die beiden Seelenschwestern. Ismira ließ ihrer Erinnerung an den verbotenen Wald noch einmal an sich vorbeiziehen. Die Eindrücke waren einfach erschreckend. Jeod hatte recht gehabt: In diesem Wald lag ein stummer Schmerzensschrei in der Luft. Die Verzweiflung und das Elend von hunderten versklavt er Drachen hatte sich in das Leben selbst eingebrannt. Jede Pflanze, jeder Baum und jedes Tier erschien der junge Frau plötzlich wie eine Verkörperung von Verzweiflung und gleichzeitig auch für den willen irgendwie gegen das eigene Unglück anzukämpfen.
"Mein Seelenhort bleibt jedenfalls genau dort wo er jetzt ist. In mir!" legte Anarie entschieden fest.  "Dort kann ich am besten auf ihn aufpassen."
Ismira schob sich in ihrem Sattel nach vorn und schmiegte sich so eng sie konnte an Anaries Hals.
"Wir passen zusammen darauf auf meine Süße."
Zufrieden stellte Ismira fest, dass eine warme Welle der Dankbarkeit von Anarie zu ihr herüberschwappte.


Eragon Band 6 - Die Wege der ReiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt