Aus Eins mach Vier

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„Lyath? Alles in Ordnung?" fragte John vorsichtig und berührte sanft die Schnauze der Drachendame. Mit einem lauten überraschten Knurren schreckte sie auf, wodurch die Instinkte des Soldaten ansprangen. Mit einem Satz war er auf den Beinen, in Kampfposition und griff gerade nach seinem Messer, als sich sein Verstand wieder vor die Instinkte schob. Langsam nahm er die Hand vom Griff der Waffe und setzte sich tief durchatmend wieder hin. Er spürte die misstrauischen Blicke von Keno, Feyth und Dekri auf sich, ganz im Gegensatz zu Lyath. Die Drachendame sah ihm direkt in die Augen und eine tiefe Traurigkeit schien von ihr auszugehen.

Entschuldigend senkte John das Haupt und sagte: „Tut mir Leid. Es hat den Anschein, dass meine Instinkte wohl immer noch darauf beharren, dass ihr eine Bedrohung seid. Ich hatte nicht die Absicht euch zu verschrecken." *John.* Er horchte überrascht auf. Es war das erste Mal, dass die Drachendame ihn mit seinem richtigen Namen ansprach. Der Soldat blickte auf und zuckte zusammen, als sie ihn mit ihrer rauen Zunge sanft über die Wange schleckte. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand mit grobem Sandpapier das Gesicht abgeschmirgelt, vollkommen anders als ihr "Kuss" vor ein paar Stunden. Ihm wurde bewusst, dass sie beim ersten Mal wohl nur die Unterseite ihrer Zunge benutzt hatte, wahrscheinlich um ihn nicht zu verletzen. Seine Kiefermuskeln verkrampften fast, als er sich zwang ruhig zu bleiben und nicht mit der Hand nach seiner Wange zu greifen. Stattdessen hob er eine Augenbraue und fragte leicht verwirrt: „Lyath? Ist wirklich alles in Ordnung mit euch? Es scheint, das euch meine Erzählung wohl doch etwas mehr mitgenommen hat, als ich erwartet habe." *Ihr habt wirklich viel erlebt John. Ich habe den größten Respekt vor euch. Allerdings scheint mir, das euch der Krieg ziemlich mitgenommen hat.* erklärte sie mit sanfter Stimme und überrumpelte John erneut, indem sie ihren Kopf direkt neben ihm ablegte und zu zwinkerte.

„Habt Dank für eure Anteilnahme. Ich weiß, es kann sehr verstörend sein mit mir zu sprechen, insbesondere wenn die anderen beiden dazwischenfunken." gab der Soldat nüchtern zurück und jeglicher Ausdruck verschwand von seinem Gesicht. Der besorgte Blick war einer gleichgültigen, aber ernsten Miene gewichen. Die Drachendame erschrak. *Ihr –ihr könnt euch daran erinnern? Dann habe ich also wirklich mit zwei unterschiedlichen Personen geredet?* John schüttelte den Kopf. „Nein. Ihr hattet einfach nur das Pech gleich mit zweien meiner vier Persönlichkeiten Bekanntschaft zu machen."

*Aber, wie könnt ihr von ihnen wissen? Die beiden mit denen ich gesprochen habe, wussten rein gar nichts voneinander, hatten jedoch die gleiche Erinnerung! Was seid ihr John?* knurrte Lyath und ein gewisser bedrohlicher Unterton schlich sich in ihre Stimme ein, was den Titanen allerding überhaupt nicht einschüchterte. Stattdessen hob er eine Augenbraue an und antwortete nach ein paar Augenblicken abschätzend: „Ich denke, es gibt in dieser Welt feindliche Wesen, die ebenfalls aus mehreren Persönlichkeiten bestehen. Das würde zumindest eure Nervosität erklären. Ihr wisst jedoch, dass ich nicht aus dieser Welt stamme und deshalb kein solches Wesen sein kann. Nichtsdestotrotz ist mein eigener Geist gespalten, es ist eine Krankheit des Verstands. In meiner Welt nennen wir es eine multiple Persönlichkeitsstörung. Um eure Frage zu beantworten: Ich bin ein kranker Mensch."

John beobachtete Lyaths Reaktion auf seine Offenbarung und schloss aus dem weit aufgerissenem Auge und dem leicht geöffneten Mund, dass er mit seiner Theorie wohl richtig gelegen hatte. Es störte ihn nicht, dass der Drache ihm kurzzeitig misstraut hatte, er kannte dieses Verhalten nur zu gut von seinen eigenen Vorgesetzen. Er hatte gehofft, es so lange wie möglich vor den Leuten dieser Welt verbergen zu können, doch das Lyath diese Erinnerung in ihm erweckt hatte, machte den Plan natürlich zunichte. Jetzt sah er es als seine Pflicht an, sie darüber aufzuklären, um spätere Missverständnisse zu verhindern. Also fuhr er mit ernstem Ton fort:

„Lasst es mich erklären. Meine Persönlichkeit hat sich in vier Teile aufgeteilt, als mein Verstand am Rande des Wahnsinns stand, nachdem ich meine Männer verloren hatte. Um nicht als plappernder Irrer zu Enden, gab es nur einen Ausweg. Es geschah zunächst unbewusst, doch nur so konnte ich meinen klaren Kopf bewahren. Mein Geist erschuf vier verschieden Abbilder meiner selbst und steckte in jeden einen anderen Aspekt meines Seins. In den ersten Teil flossen hauptsächlich gutartige Emotionen ein, zusammen mit einem Großteil meiner Erinnerungen als Anführer und meiner Moral. In den zweiten Teil quetschten sich meine gesamte Wut, Hass und Trauer zusammen, umgeben von einer Mauer aus Loyalität. Für den dritten Teil blieb nicht mehr allzu viel übrig an Emotionen nur noch der Schmerz gepaart mit meinem kühlen logischen Denken und Kampferfahrung, jedoch ohne Moral. Der Dritte weiß als einziger über die drei anderen Bescheid, für sie ist es so, als besäßen sie den Körper für sich alleine und reagieren verwirrt, wenn sie auf eine Handlung des anderen angesprochen werden."

*Das – bedeutet, ich spreche gerade mit dem dritten John?* fragte Lyath langsam und angestrengt. Der Soldat nickte knapp. „Das ist korrekt." *Dann habe ich zuvor mit dem Ersten und dem Zweiten geredet?* „In der Tat. Wir besitzen alle dieselben Erinnerungen, nur in unterschiedlichen Ausführungen, wenn ihr es so ausdrücken wollt. So kann es passieren, dass wir zwischen zwei Sätzen die Plätze tauschen, wenn es zu einem Trigger-Moment kommt. Ich kann das leider nicht verhindern, ansonsten hätte ich euch die ausführliche Schilderung dieses Massakers erspart."

*Ich glaube, ich verstehe. Es ist schwer, euch zu folgen, aber das was ihr sagt ergibt Sinn. Nur hätte ich noch eine Frage an euch.* meinte die Drachendame ernst und John forderte sie mit einer Handgeste freundlich dazu auf die Frage zu stellen. „Nur zu." *Was ist mit dem vierten John? Ihr habt ihn gerade nicht erwähnt.*

Der Soldat schloss für einen kurzen Moment die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er mit gesenkter Stimme antwortete: „Ihr solltet hoffen, ihm nie zu begegnen. Vertraut mir." *Das klingt so als hättet ihr Angst vor ihm.* „Angst? Ich spüre keine Angst. Ich habe nur erlebt, zu was er im Stande ist. Wenn ihr genauer wissen wollt, weswegen er so gefährlich ist: Fragt euch selbst was von meinem Wesen übrig blieb, nachdem sich die ersten drei abgespalten hatten?"

John konnte förmlich die Zahnräder in Lyaths Kopf arbeiten sehen, während sie darüber nachdachte, was der Soldat gemeint haben könnte. Er hatte ihr das Wissen nicht ohne Grund vorenthalten, sondern um herauszufinden ob der Drache fähig war ihn richtig einzuschätzen. So also beobachtete er sie sorgfältig, achtete auf jede noch so kleine Mimik bis sie schließlich nach ein paar Minuten sichtlich erfreut meinte: *Instinkt. Ihr habt zwar erwähnt, wie eure Erfahrungen und Emotionen verteilt wurden, allerdings ging es dabei nie um eine so fundamentale Sache wie den Instinkt.* „Ihr habt gut aufgepasst Lyath. Ja, in der Tat. Der Instinkt ist etwas, das jeder von uns allen besitzt, allerdings gibt es bei meiner vierten Persönlichkeit damit ein Problem. Er besitzt nur seinen Instinkt." entgegnete John kühl und beobachtete interessiert wie sich Lyaths Auge vor Schreck weitete und sich ihre Kiefermuskeln leicht anspannten. Die Drachendame hatte verstanden, was es bedeuten würde, wenn Nummer Vier die Kontrolle übernehmen würde.

*Wenn er die Kontrolle erlangt, wärt ihr nur eine vom Instinkt angetriebene Tötungsmaschine. Nicht auszudenken, was ihr mit eurer Kraft an Unheil anrichten könntet sowohl beim Feind als auch beim Freund.* sagte sie schockiert und der Titan nickte knapp. „Genau."

Seine Augen verengten sich jedoch um ein paar Millimeter. Wie konnte sie seine Stärke einschätzen, wenn sie ihn noch nicht einmal in Aktion gesehen hatte? War sie doch weiter in seinen Geist eingedrungen, als sie zugeben wollte oder war es einfach ihr eigener Instinkt, der ihr zu dieser Einschätzung verhalf? Er kannte die Antwort nicht und genau das machte ihn misstrauisch. Nur eins war sicher, sie hatte Angst vor ihm und versuchte diese so gut es ging zu verstecken, doch hin und wieder verlor sie für einen kurzen Augenblick die Beherrschung. Ihre angespannte Muskulatur bei ihrem ersten Treffen, die Bitte seine Hand von der einzigen Waffe, die er besaß zu nehmen, ihr unsinniger Versuch die Vergiftung und somit ihre Schwäche zu vertuschen, der Schock als ihr Nummer Zwei erzählt hatte wie brutal er die Offiziere ermordete, nachdem sie ihn betrogen hatten. Alles mehr oder minder subtile Anzeichen für ihre Angst vor ihm, doch es ergab nur wenig Sinn. Wieso sollte ein ausgewachsener Drache vor ihm Angst haben? Es gab nichts, womit er es konkret in Verbindung bringen konnte. Also beschloss er nun stärker auf irgendwelche Anzeichen zu achten, worauf auch immer sie in führen würden. Irgendetwas musste hinter ihrem Verhalten stecken und John war entschlossen es herauszufinden. Um Lyath aus dem Konzept zu bringen entschied er sich abrupt das Thema zu wechseln.

„Ich habe vorhin erwähnt, dass es offenbar noch andere Wesen gibt, dessen Körper nur die Hülle mehrerer Geister ist. Eurer Reaktion nach zu urteilen sind diese Wesen äußerst gefährlich und feindselig. Lag ich richtig mit meiner Vermutung?" fragte der Soldat nüchtern und setzte sich wieder seinen Helm auf den Kopf, um die Drachendame noch mehr zu verunsichern. Diese warf ihm einen abschätzenden Blick zu, behielt ihre Meinung über seine Unhöflichkeit jedoch für sich, doch das kurze Zucken ihrer Kiefer verriet John, dass sie leicht verstimmt war. Ihre Stimme hingegen klang gewohnt freundlich als sie antwortete: *Die Wesen, die ihr meint, heißen Schatten, Jäger. Sie sind äußerst mächtig, stark genug um mehrere Drachenreiter gleichzeitig niederzuringen. Es gab bisher nur vier Personen denen es jemals gelungen ist einen Schatten wirklich zu besiegen.* Er bemerkte, dass sie von John wieder auf eine neutralerer Anrede gewechselt war. „Und ihr dachtet für einen kurzen Moment, ich wäre ein solcher Schatten?" *Für einen kurzen Augenblick ja, bis mir mein Verstand mitteilte, dass dies gar nicht möglich sein konnte.* „Ich verstehe. Nun, habt ihr noch eine weitere Frage bezüglich meiner Erkrankung, oder dürfte ich nun erfahren, wie ihr überhaupt erst vergiftet worden seid?"

*Eine Frage hätte ich noch.* „Nun, dann stellt sie." *Hat der Vierte wirklich schon einmal euren Körper kontrolliert?*

John schwieg einige Momente, bevor er in ernstem Tonfall entgegnete: „Einmal, ja. Das Wort Massaker reicht nicht aus, um zu beschreiben was damals geschah. Aber ich habe heute schon genug alte Geschichten gehört." *Entschuldigt, die Neugier hatte mich gepackt. ich wollte nicht noch weiter alte Wunden aufreißen.* meinte Lyath kleinlaut, doch der Soldat hob schon beschwichtigend die Hand. „Ich verstehe, was euch bedrückt. Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen."

Während er die Hand nach oben hielt, fiel sein Blick auf einen kleinen Fetzen schwarzen Stoffs, der ihm von der Machart her äußerst vertraut vorkam. Er steckte zwischen zwei Ästen im Nest der Drachendame, gleich unterhalb ihres Kopfes. Interessiert beugte er sich hinunter und zog den Stoff vorsichtig aus dem hölzernen Wirrwarr. Lyath warf ihm einen überraschten Blick zu, als er sich mit dem schwarzen Stück Leinen wieder aufrichtete und es misstrauisch vor seinem Visor hin und her drehte.

Schließlich hielt er ihr das Stück Stoff entgegen und fragte ernst: „Wer genau hat euch vergiftetet?"



[Eragon Fan-Fiction] Der Titan und die DrachenreiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt