Die Fenster zur Seele

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Ein Tag vor dem Aufbruch der Titanen zum Drachenberg:

„Ah, ihr habt euren Hort also am Übergang zwischen Wald und Gebirge eingerichtet. Wirklich sehr vorrausschauend von euch Tymdek. So habt ihr gleichzeitig einen Unterschlupf in den Höhlen und ein Jagdgebiet direkt vor der Haustüre." meinte Mathew freundlich, während er gemeinsam mit Shixin auf dem Rücken des gigantischen Drachens saß und hinunter auf den riesigen Wald sah, den sie gerade überflogen. *Das ist wohl wahr, Mathew. Es gibt einige meiner Art, die mich bereits wegen meines Reviers herausgefordert haben, doch bis jetzt ging ich noch immer als Sieger hervor.* erwiderte Dunkelschwinge amüsiert brummend. „Das glaube ich gern." bemerkte der graubärtige Titan lächelnd und warf seinem Bruder neben ihm einen aufmerksamen Blick zu.

Sie beide hatten jeweils ihren Atlas abgelegt und auf dem Schiff gelassen, womit sie Micheals Bitte nachkamen. Dieser hatte sie gebeten ihre Rüstung abzulegen, um den frisch geschlüpften Drachenjungen nicht ausversehen weh zu tun und natürlich um nicht so bedrohlich zu wirken.

Bei Mathew funktionierte diese Idee einwandfrei.

Seine Mutationen bezogen sich hauptsächlich nur auf das Gebiss, die Augen, die Ohren und die Körperbehaarung. Er besaß größtenteils das Gebiss eines Wolfes, angepasst an seinen menschlichen Kiefer, wobei jedoch immer noch ein paar Mahlzähne existierten. Seine hatte eine kräftige bernsteinartige Färbung wohingegen seine Haare und auch sein Bart silbergrau erschienen. Er war der einzige Titan, der einen knapp handlangen Vollbart besaß, den er fast täglich trimmte und mit Ölen pflegte, während seine Haare zwar schulterlang waren, er sie jedoch meist mit Hilfe eines Haargummis in eine Art Zopf zusammenhielt. Dadurch wurden seine spitzzulaufenden Ohren freigelegt die im Vergleich zu menschlichen Ohren stark nach oben versetzt lagen und einen leichten fellartigen Flaum besaßen, der zu einem ganzen Fellbewuchs heranwachsen konnte, wenn er ihn nicht regelmäßig rasieren würde. Zusätzlich war seine Nase etwas größer von den Proportionen seines Gesichts her, als bei einem normalen Menschen, was wohl damit zu tun hatte, dass er neben Shenmi und Robert den wohl besten Geruchssinn aller Titanen besaß, ganz zu schweigen von seinem grandiosem Gehör.

Allerdings wirkte er im Vergleich mit anderen Titanen noch relativ normal, davon abgesehen, dass er im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern durch seinen Bart und die Haarfarbe recht alt wirkte. Passend dazu trug er seine typische Zivilkleidung, ein Paar dunkelbraune stabile Stiefel mit einer tiefblauen Jeans und einem blaurotem Karohemd, über dem er eine dunkelbraune Lederjacke trug.

Shixin hatte es dagegen weitaus schwerer normal zu wirken, da seine Mutationen doch recht markant waren. Im Gegensatz zu Mathew besaß er pechschwarze Haare, die Tymdeks Schuppen Konkurrenz machten und sein Gesicht war komplett glattrasiert. Ansonsten wirkte sein Kopf ganz gewöhnlich, bis auf die Tatsache, dass er eine verspiegelte Sonnenbrille mit hellblauen fast schon türkisenen Gläsern trug.

Und das bei bewölktem Wetter im Spätherbst.

Allerdings machte Gilston seinem Bruder deswegen keinen Vorwurf oder sprach ihn mit einem dummen Kommentar darauf an, was Steven immer wieder gerne tat. Er wusste, weshalb Zhou es vorzog seine Augen vor anderen zu verbergen.
Sie konnten auf Fremde doch recht – befremdlich wirken.

Seine Hände hingegen ließen sich da nicht so einfach verstecken. Sie waren von einem dicken weinroten Panzer umhüllt, der vor allem an den Knöcheln zusätzliche Ausbeulungen bildete, was seine gesamte Hand extrem klobig wirken ließ. Dadurch musste er sie auch fast ständig zu einer schwachen Faust geballt hallten, wo erst richtig zur Geltung kam, dass der Panzer eine fast nahtlose Keule aus seinen Fingern machte, wenn er sie hielt. Der Panzer selbst hatte leichten schimmernden Effekt, ähnlich wie den Schuppen von Dunkelschwinge, wobei er jedoch deutlich farbenfroher ausfiel als bei dem schwarzen Drachen. Was Mathew jedoch durch den fehlenden direkten Sonnenschein kaum sehen konnte, waren die schwachen netzartigen Muster auf dem roten Panzer, welche im Sonnenlicht schön gelblich und teilweise sogar tiefblau hervorstachen. Alles ein Teil seiner Mutation die er dem Fangschreckenkrebs zu verdanken hatte.

Durch den enorm dicken Panzer der sich nicht nur an seinen Händen befand, sondern sich bis hinauf zu seinen Schultern zog, war er in diesen Bereichen komplett immun gegenüber Krafteinwirkungen, wie Schlägen und sogar herkömmlichen Handfeuerwaffen! Er konnte seine bloßen Hände als Schutzschilde einsetzten, um sein Gesicht oder sonst irgendetwas vor Kugeln zu schützen. Lediglich ein Gaußgewehr oder aber eine Railgun konnten diese Rüstung durchschlagen, wobei er natürlich auch keine Panzergranaten oder Maschinenkanonen über 20 Millimeter abwehren konnte.

Allerdings schränkte ihn der Panzer stark in seiner Motorik ein. So benötigte er zum Beispiel ein spezielles Besteck, um überhaupt normal Essen zu können und auch seine ganzen Waffen waren persönlich auf seine Bedürfnisse hin angepasst worden. Und es war prinzipiell unmöglich für ihn andere Handschuhe anzuziehen, als die seines Unteranzugs und die des Atlas selbst. Sonst müsste er wohl jeden morgen drei Stunden nur damit verbringen seine gepanzerten Finger in einen hinein zu zwängen. Daher trug er gerade auch einen weinroten Pullover, dessen Ärmel besonders weit geschnitten waren, um nach außen hin nicht zu verraten, was darunterlag, zusammen mit einer blauen Jeans und schwarzen Stiefeln, die mit einem einzigen großen Klettverschluss versehen waren, damit er sie überhaupt alleine anziehen konnte. Eine Jacke trug er nicht, da Reißverschlüsse oder gar Knöpfe für ihn so etwas wie eine Art Erzfeind darstellten.

Fragend hob Gilston eine seiner Augenbrauen, als er bemerkte, dass sein Bruder nicht hinunter auf den Wald, sondern vielmehr hinter sie auf Tymdeks Rücken blickte, wo nichts außer den sich bewegenden Muskelbergen und schwarzen Schuppen zu sehen war. Allerdings konnte er es sich bereits denken, was Sache war, schließlich hatte er und Shixin schon viel Zeit miteinander verbracht. „Es sind welche da hinter uns, oder?" fragte er daher leise, woraufhin Zhou knapp nickte und murmelnd erwiderte: „Es sind weniger als ich dachte, aber mehr als ich gehofft habe." „Du kannst ihn ja später darauf ansprechen. Tymdek scheint sehr freundlich zu sein, ich bin sicher, dass er dir alles erklären kann." schlug Mathew daraufhin vor, was seinem Bruder ein halbgares Lächeln entlockte. „Das werde ich wohl tun müssen." meinte er und drehte sich wieder nach vorn.

Der Wolfstitan tat es ihm gleich und bemerkte dann, dass sie sich in einem starken Sinkflug befanden, der sie immer näher an die Grenze zwischen Gebirge und Wald brachte. Scheinbar hatten sie das Ziel ihrer Reise bereits erreicht. *Wir haben meinen Hort gleich erreicht, meine Freunde! Meine Brutgefährtin freut sich schon sehr darauf, euch kennenzulernen.* raunte ihnen Tymdek zufrieden zu, wobei er kurz seinen massigen Kopf nach hinten schwenkte, um wohl sicherzugehen, dass ihnen nichts fehlte. „Wir freuen uns ebenfalls schon sehr darauf, eure Familie kennenzulernen, Dunkelschwinge. Ich bin mir sicher, sie werden froh sein, dass ihr endlich wohlbehalten zurückkehrt." entgegnete Shixin gutmütig und erntete dafür ein belustigtes Schnauben.

*Sie hat gesagt, hätte ich mich auch nur einen Tag später blicken lassen, hätte sie mir die Flügel ausgerissen, damit ich vorläufig nicht mehr wegkäme und etwas Zeit mit ihre verbringen müsste.* erklärte er glucksend, was Mathew ein amüsiertes Lächeln entlockte, als er erwiderte: „Äußerst charmant. Sie muss euch wirklich lieben, Tymdek." *Das schlimmste ist, dass sie es wohl wirklich getan hätte. Oder zumindest versucht.* bemerkte der schwarze Gigant grollend lachend. „Es wurden schon viel absurdere Dinge aus liebe getan, glaubt mir das Tymdek." erwähnte Zhou daraufhin schmunzelnd und legte seinen rechten Arm um seinen Bruder, als der Drache zu einer Ladung auf einem großen Felsplateau ansetzte und er keinen Rückenstachel wie Gilston vor sich hatte, um sich festzuhalten.

Keine Minute später landete Dunkelschwinge mit einem lauten Rumms auf dem blanken Fels, wobei die Titanen ordentlich durchgeschüttelt wurden. Für sie war es jedoch ein Kinderspiel diese Abzuschütteln, schließlich waren sie von ihren Einsätzen im Albatross deutlich schlimmeres gewohnt. Behutsam ging Tymdek anschließend in die Hocke, um die beiden absteigen zu lassen, was diese auch sofort taten und einige Sekunden später standen sie neben dem schwarzen Riesen auf dem Felsplateau. *Willkommen bei meinem Heim, meine Freunde.* sagte der Drache stolz, während er sich wieder erhob und einen Schritt auf die große Höhle zumachte, die sich vor ihnen eröffnete.

„Einen Moment Tymdek, wir sollten zunächst den Kull Bescheid geben, dass sie zur Küste hin aufbrechen sollen mit den Gefangenen. Darum hat uns Angela gebeten." erinnerte Zhou Dunkelschwinge jedoch, bevor er hineingehen konnte, woraufhin der Drache noch einmal stehen blieb und sich zu ihnen umdrehte. Er zwinkerte ihnen wohlwollend zu. *Natürlich, ich vergaß. Geht nur, ich warte hier solange auf euch.* „Es wird nicht lange dauern." versprach Mathew und überprüfte noch einmal den Halt des großen Rucksacks auf seinem Rücken, in dem allerhand Zeug steckte, bevor die beiden zügig an den Rand des Plateaus traten und kurz hinuntersahen.

„Dort links." meinte Shixin wie aus der Pistole geschossen, bevor Gilston sich überhaupt umsehen konnte und zeigte hinüber auf einen freien Platz, ein paar dutzend Meter vom Hort des schwarzen Drachens entfernt. Und tatsächlich saßen dort einige der grauhäutigen Urgals um eine Feuerstelle versammelt und blickten zu ihnen herüber. „Na dann auf. Wir wollen Tymdek schließlich nicht warten lassen." merkte der grauhaarige Titan daraufhin auffordernd an und zügig kletterten die beiden die Steile Felswand hinab zum Boden, wobei Zhou eher hinuntersprang, als zu klettern, da es für ihn schlichtergreifend einfacher war. Anschließend gingen sie gemeinsam hinüber zu den grauen Hünen von denen ein paar vereinzelte aufstanden, um sie zu begrüßen. Allen voran ein wahrer Gigant, der ohne Zweifel ihr Anführer und gut über 2,80 Meter groß war.

Es war eine ungewohnte Situation sowohl für Mathew als auch Shixin, während eines Gesprächs zu ihrem Partner aufschauen zu müssen, von Robert, Steven und Alex einmal abgesehen. Sie beide waren ungefähr gleich groß, Gilston mit seinen 2,81 Metern etwas größer, als Zhou mit seinen 2,75 Metern, doch der Kull vor ihnen überragte sie beide um ein gutes Stück. Er riss seinen Kopf in die Höhe und zeigte ihnen kurz seinen verwundbaren Hals, eine Geste, die die beiden Soldaten respektvoll erwiderten, bevor er mit seiner rauen mit starkem Akzent versetzten Stimme meinte: „Willkommen Krieger! Ich bin Nar Khartog, Häuptling des mächtigen Wartok-Stammes. Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr zum gleichen Krieger-Stamm gehört, wie Eisenfaust? Wir konnten sehen, wie ihr gemeinsam mit Dunkelschwinge angekommen seid. Ist alles in Ordnung? Geht es Angela Mondesserin gut?" Mathew, der sich daran erinnerte, dass die Kräuterhexe ihnen berichtet hatte, welchen Titel die Urgals ihrem Vater zugewiesen hatten und antwortete höflich: „Seid gegrüßt Nar Khartog! Mein Name ist Mathew Gilston und das ist mein Bruder Shixin Zhou. Und ja, wir sind aus dem gleichen 'Stamm' wie Eisenfaust. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, der Kräuterheilerin geht es gut und auch sonst haben wir die Situation soweit unter Kontrolle. Wir konnten den Angriff auf Lendol abwehren und einige Dorfbewohner retten."

„Ah, das ist gut zu hören Krieger. Allein hätten die Menschen wohl kaum einen solchen Angriff abwehren können, wobei ich zugeben muss, dass es wohl selbst für meinen Stamm sehr schwer gewesen wäre. Aber was führt euch zu uns, meine Freunde? Hat die Mondesserin euch mit einer Nachricht geschickt?" erwiderte Khartog grimmig nickend, worauf Shixin zustimmend entgegnete: „In der Tat, Häuptling. Wir sollen euch von ihr bitten, mit den drei Gefangenen zum Strand hinter Lendol zu kommen. Dort werden euch unsere Kameraden abholen und auf unser Schiff bringen, wo Angela bereits auf euch wartet." Ein grollendes Murmeln und Raunen kam ihn daraufhin von den anderen Kull hinter dem Häuptling entgegen, der skeptisch eine Augenbraue emporzog und dann scheinbar eine Art Seufzer ausstieß.

„Ein Schiff also. Nun gut, wenn die Götter es so wollen, dann sei es so. Habt Dank für diese Kunde, Krieger. Wir werden noch zur Stunde aufbrechen und diese Drajls mit uns nehmen!" knurrte der Kull bestimmt und nickte hinüber auf drei mit Seilen und Tüchern gefesselt und geknebelte Gestalten, die etwas abseits der Gehörnten saßen. Sofort fiel Mathew auf, dass einem der drei der gesamte rechte Arm samt Schulter fehlte und die Wunde nur äußerst notdürftig verbunden war. Micheal hatte ihnen jedoch erklärt, was vor der Gefangennahme der drei jeweils vorgefallen war, weswegen sich sein Mitleid für den jungen Mann in Grenzen hielt. Der Verletzte und sein schwarzhaariger Kamerad besaßen spitzzulaufende Ohren, woraus er schloss, dass die beiden Elfen sein mussten. Der dritte im Bunde, ein Mann mittleren Alters mit robustem Körperbau, war hingegen eindeutig ein Mensch. Soweit Gilston wusste, gehörten sie allesamt der Schwarzen Rose an, der Terrorgruppe, die den Angriff auf Lendol befohlen hatte. Ihr Verhör würde vielleicht neues Licht ins Dunkel dieser Angelegenheit bringen. Er und Zhou horchten jedoch auf, als hinter ihnen deutlich ein ungeduldiges Brummen zu vernehmen war.

Tymdek schien wohl endlich seine Familie wiedersehen zu wollen, was der Titan ihm nicht verübeln konnte.

Also verabschiedeten sie sich rasch von Khartog und seinen Stammeskriegern, die ihn immer noch neugierige Blicke zuwarfen. Der Häuptling stimmte ihnen zu, den Drachen nicht länger warten zu lassen und so eilten sie wenige Augenblicke später zurück zum Plateau, wobei Mathew sich so vor die Felswand stellte und seine Hände faltete, dass er eine Art Räuberleiter für seinen Bruder bildete. Dieser nutzte diese Hilfe dankbar und sprang damit in einem Satz hinauf zum schwarzen Drachen, während der Wolfstitan rasch hinterher kletterte. Oben angekommen, klopfte er sich etwas die schmutzigen Hände ab und warf dann Dunkelschwinge einen kurzen Blick zu, der zufrieden brummte.

*Die Grauhäute haben ihre Nachricht bekommen?* fragte er höflich, wobei Gilston ihm deutlich die Ungeduld anhören konnte. „Ja, Dunkelschwinge. Sie werden noch zur selben Stunde aufbrechen, versicherte uns ihr Häuptling. Aber wir sollten eure Familie nun nicht noch länger warten lassen." antwortete Zhou freundlich, während sein Bruder sich neben ihn stellte und erneut den Sitz des Rucksacks überprüfte. *Dem kann ich nur zustimmen, dann folgt mir bitte!* brummte Tymdek und schritt dann erwartungsvoll vor in die Höhle. Mit respektvollem Abstand trabten Mathew und Shixin hinterher, wobei der Wolfstitan sich noch einmal versicherte, dass die Pistole im Holster an seinem Gürtel gesichert war.

Sein Bruder neben ihm, tat es ihm gleich, wobei er zusätzlich nach seinem Schwert an der linken Hüfte griff. Er führte es praktisch immer bei sich, mit einigen wenigen Ausnahmen. Jetzt hatte er es momentan mit seiner Scheide an seinem Gürtel so festgemacht, dass das Ende des knapp über 1,80 Meter langen Schwerts eine gute handbreit über dem Boden schwebte. Die Scheide war recht simpel gehalten und besaß eine dunkelrote Färbung. Auf diese hatte Zhou lediglich mehrere Kreuze und andere Glaubenzeichen anderer Religionen in goldenem Lack gezeichnet, gemeinsam mit dem Spruch:

‚A sword is drawn easily, blood is drawn easily, but to sheathe the blade after your sins, takes more strength than to move a mountain. May he who judges me, at the end of times, remember my name.' , der quasi über die gesamte Länge der Schneide in kunstvoller Schrift eingraviert war.

‚Ein Schwert zu ziehen ist einfach, jemanden bluten zu lassen ist einfach, doch es nach deinen Sünden wieder in die Scheide zu stecken braucht mehr Kraft, als einen Berg zu versetzen. Möge derjenige, der mich am Ende der Zeit richtet, sich an meinen Namen erinnern.'

Gilston wusste nur zu gut, was dieser Spruch zu bedeuten hatte. Jetzt jedoch galt es erst mal sich weitaus freundlicheren Dingen zu widmen.

Denn schon nach einem kurzen Gang durch den dunklen Tunnel, betraten sie plötzlich einen Art riesigen Raum, der offensichtlich als Hauptraum von Dunkelschwinges Hort diente. Auf der rechten Seite der Höhle prasselte ein loderndes, hellblaues Feuer in einer Feuerstelle, die von grauen Felsbrocken eingezäunt war und dessen Flammen sich von mehreren Raummetern Holz ernährten. Es erfüllte den Raum mit einem hellen Licht und einer wohligen Wärme, wobei sich der Titan instinktiv fragte, wieso es keinen Rauch erzeugte.

Doch das Hauptaugenmerk lag zweifelsohne in der Mitte der Höhlenkammer.

Dort lag ein gigantisches Nest aus allerhand Zweigen, Ästen, Laub und Moos und darauf thronte eine große rote Drachendame, die ihnen einen freudigen Blick zuwarf. Sie war nicht ganz so groß wie Tymdek und auch nicht so bullig, doch ihre leuchtend roten Schuppen verliehen ihr ein graziles und gleichzeitig gefährliches Aussehen. Auffällig war vor allem der große Verband, der sich an ihrem Hinter-, beziehungsweise Unterleib befand. Vor ihr, an ihrem massigen Bauch lag ein noch recht kleiner, silbernen Drache, der vielleicht gerade einmal so groß wie die Titanen selbst war und sie mit großen Augen ansah. Dann jedoch musste Gilston herzerwärmt lächeln, als vor, hinter und neben dem silbernen Jungdrachen sechs kleine Küken auftauchten, die laut gurrten, fiepten und schnatterten, während sie ihren Vater und auch die Soldaten bemerkten.

Ein purpurnes, ein waldgrünes, ein dunkelblaues, ein mattgraues, ein türkisenes und ein tiefrotes Junges.

Dunkelschwinge stimmte ein liebvolles Schnurren an, als er näher an seine Familie herantrat und sich dann so neben das Nest legte, dass er im Grunde direkt gegenüber seiner Brutgefährtin dalag. Innig rieben die beiden mit geschlossenen Augen ihre Hälse aneinander und liebkosten sich mit ihrer Zunge, was ein metallisches Klirren durch ihre Schuppen erzeugte. Auch die Jungen sprangen wie von der Tarantel gestochen auf und begannen freudig fiepend auf ihrem Vater herumzuturnen, wobei das türkisene Junge sich eher damit begnügte seinen Kopf an der gigantischen Vorderpranke Tymdeks zu reiben, die dieser gefaltet vor sich hingelegt hatte. Das tiefrote hingegen war bis hinauf auf den Kopf des schwarzen Drachens geklettert, was Mathew sehr beachtlich fand, wenn man die Größe des Giganten mit einberechnete und tanzte nun fröhlich springend auf seiner Schnauze umher.

Dunkelschwinge brummte liebevoll und achtete fürsorglich darauf, dass keines seiner Kinder zu Schaden kam, während sie auf ihm herumturnten. Allerdings schnappte die rote Drachendame ihr Junges von der Schnauze seines Vaters und setzte es mit einem bestimmten Schnurren neben sein türkisfarbenes Geschwisterchen, wo es ganz kleinlaut sitzen blieb, es sich aber nicht verkneifen konnte spielerisch an einer Zehe des schwarzen Giganten zu knabber, was dieser vermutlich nicht einmal wirklich wahrnahm. Auch der silberne hatte sich kurz erhoben und zwischen die Vorderläufe seiner Mutter gesetzt, von wo aus er den Soldaten immer noch einen neugierigen Blick zuwarf.

Die Titanen hingegen blieben die gesamte Zeit über in respektvollem Abstand zum Nest stehen, um das Wiedersehen der Familie nicht zu stören. Stattdessen warf Gilston seinem Bruder einen kurzen Blick zu und hob skeptisch eine Augenbraue. Zhous Blick war nicht direkt auf das Wiedersehen der kleinen Drachenfamilie gerichtet, zumindest soweit er erkennen konnte, was nicht viel heißen musste bei Shixins Augen, sondern auf etwas, dass recht neben der Drachendame zu sein schien.

Nur konnte Mathew dort beim besten Willen nichts erkennen.

Allerdings deutete der leicht missmutig verzogene Mundwinkel seines Bruders darauf hin, dass er dort etwas sah, was ihm nicht gefiel. Einem umstehenden wäre die Gestik kaum aufgefallen, doch Gilston, der jahrelang auf Einsätzen mit ihm gewesen war, wusste, wie er Shixin zu lesen hatte. „Sind es so viele?" fragte er deshalb flüsternd und bekam prompt die Antwort zugeraunt: „Es sind mehr als bei ihm, aber es geht vielmehr darum, wer, beziehungsweise was es ist."
Dabei blieb Zhous Stimme jedoch vollkommen ruhig.

Etwas missmutig verzog der Wolfstitan leicht das Gesicht. „Du weißt, ich würde dir gerne helfen, aber bei dem Thema bist du auf dich allein gestellt." raunte er zurück, worauf sein Bruder nur knapp nickte. Dann horchten die beiden auf, als sich die Aufmerksamkeit der Drachen auf sie richtete.

Mit aufgeregtem Fiepen stürzten sich die kleinen Drachenküken auf sie, noch bevor Tymdek oder seine Brutgefährtin sie stoppen konnten. Steven oder Alex hätten einem solchen 'Angriff' nicht mehr ausweichen können, doch sie waren Shixin und Mathew, zwei der schnellsten und beweglichsten Titanen überhaupt. Ohne Problem traten die Soldaten so rasch beiseite, dass die Kleinen völlig verdutzt durch die Luft segelten und schließlich auf dem blanken Höhlenboden landeten.

Zhou und Gilston stand jeweils links und rechts von ihnen und sahen sie schmunzelnd an.

*Ich muss sagen, ich bin überrascht. Steven hat es nicht einmal geschafft ihnen auszuweichen.* meinte Dunkelschwinge polternd lachend, während der Wolfstitan in die Hocke ging und den Drachenküken, die allesamt nur ihn mit großen Augen ansahen, freundlich die Hand entgegenstreckte, damit sie daran schnuppern konnten, was diese auch sofort taten. „Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Er ist etwas behäbig unser lieber Bruder." erwiderte Shixin lächelnd und beobachtete, wie die Jungen seinen Bruder neugierig beschnuppert und näher zu ihm traten. Jedoch bei weitem nicht so sprunghaft wie zuvor.

*Das stimmt wohl. Aber ich vergesse noch meine Manieren. Darf ich euch meine Brutgefährtin vorstellen, Lyath Feuerschuppe. Und der kleine silberne ist ihr Sohn Dekri. Die Kleinen bei euch sind noch zu jung, um sich einen Namen auszusuchen.* erklärte der schwarze Drache dann hastig, als ihm seine Gefährtin einen abschätzigen Blick zuwarf. Allerdings wandte sie sich nun ihnen zu und beugte ihr Haupt zu ihnen herunter, sodass ihr großes rotes Auge nur wenige Meter vor dem Soldaten mit seinem roten Pulli schwebte. *Es freut mich euch kennenzulernen, Söhne von John. Shixin und Mathew, wenn ich mein Gemahl richtig verstanden habe, ja?* entgegnete sie freundlich, worauf sie beide einstimmig nickten. „So ist es. Auch uns ist es eine Ehre euch endlich persönlich kennenzulernen Feuerschuppe." antwortete Gilston, während er behutsam das türkisene Junge auf den Arm hob, woraufhin die anderen lautstark protestierten.

Das mattgraue kletterte schnell auf seine linke Schulter und legte sich hinter seinen Hals, sodass ihr Bauch in seinem Nacken lag und ließ den Schwanz sich um seinen linken Arm winden wohingegen sie ihren Kopf von rechts zärtlich an seinem Kinn rieb. Dabei beschnupperte sie gleichzeitig neugierig seinen Bart, der immer noch nach dem Öl roch, dass er heute Morgen erst eingekämmt hatte. Das türkisene Junge in seinem Arm hingegen schnurrte nur genießerisch, während er sachte den Hals des Jungtiers streichelte.

*Ihr müsst sie entschuldigen, sie sind noch sehr jung und extrem verspielt.* setzte Tymdek zu einer Entschuldigung an, doch ehe er vollends aussprechen konnte, was er eigentlich wollte, hatte Mathew sich ganz hingesetzt, vorsichtig den Rucksack und die Jacke abgelegt, wobei sich das als etwas knifflig mit einem kleinen Drachen auf der Schulter entpuppte, und ließ die kleinen nun alle zwischen seinen Beinen und auf seinem Schoß sitzen.

„Oh, keine Sorge Tymdek. Rudel aus kleinen Jungtieren sind meine Spezialität." merkte er schmunzelnd an den großen Drachen hin gewandt an, der offensichtlich nicht zu fassen schien, wie der Titan es schaffe alle sechs Jungdrachen beisammen und vor allem relativ friedlich zu halten. Nicht eines der Kleinen machte Anstalten etwas gewitztes anzustellen. Sie lagen alle nur da, teilweise auf seine Beine gelehnt und starrten den Wolfstitanen mit großen Augen und einem leisen Schnurren wie gebannt an.

*Das ist wirklich zu goldig. Wie schafft ihr das nur Mathew? Ich kann sie nicht einmal ein paar Minuten davon abhalten sich gegenseitig zu zoffen, doch bei euch sind ihre Gemüter so ruhig, wie ich sie noch nie gesehen habe.* stellte Feuerschuppe staunend fest und musterte den bärtigen Soldaten von Kopf bis Fuß. Dieser war inzwischen dazu übergegangen die Kleinen alle nacheinander zu streicheln, was diese laut hörbar genossen.

„Es ist seine Ausstrahlung, verehrte Lyath. Seit seiner Veränderung hat er etwas an sich, dass Tiere und auch Menschen um ihn herum vollkommen entspannen lässt. Außerdem kann er sie instinktiv verstehen, wobei er selbst nicht weiß, wie genau es funktioniert. Aber es hat wohl mit seinen Veränderungen durch das Wolfsblut zu tun. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, er ist ein geborener Anführer. Vielleicht hören sie deswegen so gut auf ihn." erklärte Zhou schmunzelnd und sein Bruder stimmte ihm nickend zu. „Im Grunde hat er es bereits vollkommen erklärt. Ich kann es euch auch nicht erklären, wie es funktioniert. Für gewöhnlich zeigt sich dieses Talent in dem Ausmaße nur, wenn ich mit Wölfen arbeite, aber scheinbar sprechen Drachenjungen wohl genauso darauf an. Ah, ich sehe. Vier Mädchen und zwei Jungen. Meine größten Glückwünsche noch einmal nachträglich. Und ihr habt vermutlich Hunger, ihr kleinen Racker." erwiderte Mathew und langte nach hinten zum Rucksack, aus dem er eine große, viereckige Plastikbox zog und den Deckel entfernte.

Sofort stieg ihm der Geruch seines selbstgeräucherten Fleisches in die Nase.

*Ein Wolf? Ein Wolfstitan? Jetzt da ihr es sagt, eure Augen und Ohren haben wirklich etwas mit diesen pelzigen Vierbeinern zu tun und auch euer Haar hat dieselbe Farbe wie ihr Fell. Verzeiht, dass ich euch so anstarre, doch ich habe bis jetzt noch keinen Titanen ohne seine Rüstung gesehen. Bis auf euch beide nun.* meinte Lyath überrascht und rückte mit ihrem Kopf ein Stück näher zu Gilston, der inzwischen damit begonnen hatte die kleinen geräucherten Fleischstreifen an die Drachenküken zu verteilen, die sie gierig mit ihren kleinen Zähnchen zerrissen. *Ihr habt auch den typischen Geruch eines Wolfes an euch. Es fällt mir jetzt erst wirklich auf, da zuvor euer Geruch die ganze Zeit mit dem Gegenwind davongetragen wurde.* fügte Tymdek hinzu und kostete demonstrativ die Luft. „Das kann ich nur schlecht bestreiten, Tymdek." entgegnete der Titan lachend und tätschelte den Kopf des türkisenen Kükens, welches sich mittlerweile richtig in seine Armbeuge hinein gekuschelt hatte.



Shixin warf Mathew einen schmunzelnden Blick zu. Es freute ihn seinen Bruder derart glücklich zu sehen, schließlich war es eine ganze Weile her gewesen, seit er ihn das letzte Mal derart fröhlich erlebt hatte. Durch seine Augen nahm er jedes noch so kleine Detail in gestochen scharfer Auflösung wahr und die Schuppenfarbe der kleinen leuchteten für ihn in allen möglichen Farben auf.

Gleichzeitig sah er Tymdek, wie ihn die Situation sichtlich amüsierte und Dekri, der immer noch zwischen den Vorderläufen seiner Mutter saß und Gilston einen neugierigen Blick zuwarf. Und direkt vor sich hatte er Lyath, deren Schuppen in allen möglichen Rotnuancen strahlten.

Ein normales menschliches Auge hätte sich bloß auf eines der Dinge vor ihm konzentrieren können, allein das Sichtfeld hätte nicht ausgereicht, um alles in der Höhle abzudecken.
Nicht so mit seinen Augen.
Er nahm alles gleichzeitig wahr und dass mit einer Reaktionsgeschwindigkeit und Schärfegrad, das man glaube könnte, er würde in Zeitlupe sehen. Es hatte einige Jahre gedauert, bis sein Gehirn nach den Mutationen mit dieser neuen Sicht zurechtgekommen war, schließlich strömten derart viele Informationen gleichzeitig auf ihn ein, dass er für die ersten paar Monate nach der OP mit einer speziellen Brille umhergelaufen war, die sein Sichtfeld auf einen kleinen Grad eingegrenzt hatte. Erst nach und nach hatte er das gesamte Spektrum seines Sehapparats nutzen können, insbesondere das Bewegen der Augen in unterschiedliche Richtungen gleichzeitig hatte ihm große Probleme bereitet. Aber nun gab es niemanden unter den Titanen, der besser sehen konnte als er.

Joseph und Julia kamen vielleicht mehr oder minder nah an ihn heran, doch im Grunde war der Unterschied zwischen ihnen immer noch so groß, wie der einer ultrahochauflösenden Digitalkamera im Vergleich mit einer analogen Kamera.

Er sah einfach alles.
Das hatte allerdings nicht nur positive Seiten.

Denn dort zwischen Lyath und ihren Jungen standen eine Handvoll grauweißer Gestalten.

Ein junger Mann mit feinen Kleidern, dessen linker Arm in einem blutigen Stumpf endete und dessen gesamte Haut samt Kleidung komplett verkohlt wirkten. Zusätzlich hatte ihm jemand die Kehle durchbissen.
Ein älterer Mann mit zerlumpten Klamotten, langem Bart und großer blutiger Wunde über die gesamte Brust und den Bauch hinweg.
Ein junges Mädchen, das ihren eigenen Kopf in der rechten Armbeuge hielt und deren Kleid vollkommen zerfetzt war.
Ein erwachsener Mann mit Axt in der rechten Hand und blutiger, zerfetzter Kehle mitsamt abgerissenen Beinen.
Und schließlich noch eine junge Frau mit stark gewölbtem Bauch, die ihren rechten Arm verloren hatte und der die linke Hälfte des Gesichts fehlte, wohingegen ihr Brustkorb von einer stumpfen Kraft komplett eingedrückt war.

Er kannte sie nicht und doch wusste er, was sie waren.

Die beiden jungen Männer starrten die rote Drachendame hasserfüllt an und diskutierten scheinbar lautlos mit dem alten Greis, der vor Lyath stand und ihr den Rücken zugewandt hatte. Das Mädchen saß stattdessen in der Hocke neben Mathew und streichelte mit ihrer durchsichtigen linken Hand eines der Küken, während die junge Frau mit einem freundlichen Lächeln hinter ihr stand und ihr fürsorglich die Hand auf die Schulter legte. Gleichzeitig sagte sie etwas zu ihr, was er erneut nicht hören konnte, doch das Mädchen schien amüsiert zu kichern.

Shixin hatte solche Gestalten schon tausende Male gesehen, wenn nicht gar hunderttausende Male und ein straffes Seil schien sich um seinen Hals zu legen, als die Frau zu ihm aufsah, ihm direkt in die Augen sah und einfach nur glücklich lächelte, während grauweißes Blut aus ihrem Mundwinkel auf die weiße Bluse tropfte.

Er war fast schon froh, als Lyath ihn wenige Momente später ansprach. *Shixin? Was tragt ihr eigentlich da in eurem Gesicht? Ist das eine dieser Sehhilfen, die die Menschen seit einigen Jahren nutzen, wenn ihre Augen schwach werden?* Er sammelte sich kurz, bevor er freundlich antwortete: „Nein, nicht wirklich, Feuerschuppe. Ich verberge lediglich meine Augen vor Außenstehenden, da sie doch recht verstörend anzusehen sind, wie mir bereits oft gesagt wurde." *Ah ich verstehe. Würdet ihr dieses Ding dann vielleicht für mich abnehmen? Für uns Drachen ist es so schwer, die Gesichtsausdrücke von euch Zweibeinern zu deuten, ohne eure Augen zu sehen. Und ich bin mittlerweile einiges von euch Titanen gewöhnt, als keine Sorge.* fragte sie höflich, hob ihren Kopf zu ihm herüber und ließ Mathew mit den Kleinen vorerst allein.

Zhou seufzte aufgebend und erwiderte nickend: „Wenn ihr wollt, werde ich eurer Bitte nachkommen. Aber ich warne euch, ihr werdet erschrecken, egal was ihr zuvor gesehen habt." Dann langte er mit der rechten Hand nach oben zur Brille, wobei er sorgsam darauf achtete, seinen Arm nicht vollständig anzuwinkeln und packte das Gestänge eher schlecht als recht mit seinem gepanzerten Daumen und Zeigefinger, was ihm schwerer fiel, als manch einem das Klavierspielen. Anschließend zog er sich die verspiegelte Brille herunter und zuckte doch leicht zusammen, als Tymdek und Lyath neben und vor ihm jeweils eine erschrockenes Knurren ausstießen.

Geschwind huschten seine Augen her. Mit dem linken betrachtete er sorgfältig jede einzelne von Dunkelschwinges Reaktionen, während er gleichzeitig mit dem rechten Auge Feuerschuppe abtastete. Er machte ihnen keine Vorwürfe, schließlich wusste er selbst nur zu gut, wie er von außen aussah. Schließlich besaß er den Sehapparat eines Fangschreckenkrebses, auch wenn sie nicht wirklich auf langen Stielen saßen.

Seine Augen waren im Grunde Komplexaugen mit Abermillionen Einzelaugen die wiederum in unterschiedliche Abschnitte unterteilt waren, sodass jedes Auge für sich mehrere abgetrennte Linien besaß auf denen spezielle Rezeptoren anzutreffen waren. Ob normales Licht, UV- oder sogar polarisiertes Licht er konnte in allen Bereichen perfekt sehen. Ein menschliches Auge besaß gerade einmal drei unterschiedliche Farbrezeptoren, blau, grün und rot. Shixin hingegen besaß 16 verschiedene Farbrezeptoren, wodurch er spezielle Farben wahrnehmen konnte, die andere sich nicht einmal vorzustellen vermochten! Am unheimlichsten waren den meisten jedoch seine insgesamt sechs 'Pupillen' , je drei pro Auge, die ständig in einer Linie umher huschten, genauso wie seine Augen selbst, die praktisch immer in Bewegung waren. Jede dieser 'Pupillen' war für bestimmte Abschnitte auf seinen Augen vorgesehen, wodurch er selbst mit einem einzelnen eine räumliche Sicht hatte, wofür fast jedes andere Lebewesen mindestens zwei Augen benötigte. Die Türkise ins Smaragdgrün übergehende Farbe ebenjener rundete seine unheimliche Erscheinung vollkommen ab.

„Ich hatte euch gewarnt, Feuerschuppe. Wenn es euch zu stark irritiert setzte ich meine Brille wieder auf." bat Zhou deswegen an, doch Lyath flüsterte in seinem Kopf: *Nein! Bitte, das braucht ihr nicht. Eure Augen! So etwas habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen!*

Er sah, wie sie versuchte sein Auge mit dem ihren zu verfolgen, was jedoch nicht ganz einfach war, wenn dieses nie stillhielt.

*Wahrhaftig! Selbst unter den Elfen habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Gegen eure Augen wirkt selbst noch euer Bruder Alex gewöhnlich!* bemerkte Dunkelschwinge völlig baff und schüttelte irritiert den Kopf, als sich einfach nur Shixins linkes Auge bewegte, anstatt dass sich der Titan ihm zuwandte. Es musste seltsam sein, sich mit jemanden zu unterhalten, der einem nicht das gesamte Gesicht zuwenden musste, um seinen Gesprächspartner anzusehen. So viel wusste der Soldat immerhin von den Erzählungen der anderen.

*Von welchem Tier habt ihr euch solch faszinierende Augen angeeignet, Shixin?* wollte schließlich die rote Drachendame neugierig wissen, nachdem die beiden Drachen in mehrere Minuten betrachtet hatten und immer noch nicht den Blick von seinem Sehapparat ablassen konnten.
Scheinbar hatten seine Augen eine hypnotisierende Wirkung auf die beiden Echsen.

„Es ist ein kleiner Meeresbewohner namens Fangschreckenkrebs. Ihr habt vermutlich noch nie von ihm gehört." erklärte er ruhig und sah von Tymdek hinüber zu Dekri, der noch schockierter als seine Mutter am Anfang dreinblickte. *Ein Krebs? Ich habe schon etliche Krebse in den Netzten der Zweibeiner gesehen doch keiner von ihnen hatte solche Augen wie die euren!* grollte Dunkelschwinge.

„Nun, sie leben oft in eher warmen Gewässern. Das Meer hier dürfte viel zu kalt für sie sein." erläuterte der Titan näher und fixierte dann mit einem Mal die junge, grauweiße Frau, als diese von Mathew zu ihm herüberkam und nun direkt neben Feuerschuppes Kopf stand, immer noch mit einem freundlichen Schmunzeln auf den blutigen Lippen.

*Das wird es wohl sein, das Wasser ist hier wirklich sehr kalt.* stimmte Lyath zu und setzte dann fragend hinterher: *Aber was genau könnt ihr mit euren Augen eigentlich sehen? Ich habe bereits bemerkt, dass ihr sie frei voneinander bewegen könnt und verschiedene Dinge gleichzeitig anseht, obwohl diese unmöglich weit auseinanderliegen. Aber seht ihr auch Farben so gut wie wir?*

Shixin antwortete nicht sofort sondern betrachtete noch für einen Moment die Frau neben ihr, welche der Drachendame nun sanft die Hand auf die Schnauze legte und merkwürdig traurig von Zhou hin zu Lyath und wieder zurück blickte, bevor sie schließlich sachte mit dem Kopf schüttelte und traurig lächelte, wobei sie die Hand auf ihren gewölbten Bauch legte.

Erst jetzt entschloss der Titan ernst zu erwidern: „Ich sehe alles, Feuerschuppe. Alle Farben die es gibt und vermutlich noch mehr, als ihr überhaupt kennt. Allerdings sehe ich auch andere, weitaus ernstere und traurige Dinge. Sagt, wisst ihr, was mit den Seelen der Leute geschieht, die sterben?" Dabei sah er sie nun mit beiden Augen an, die jeden einzelnen Mikrometer ihres Hauptes untersuchten. Feuerschuppe stutzte etwas über die Frage und schnaubte leise, antwortete aber: *Nun, ich denke, sie gehen an den Ort an den die Zweibeiner glauben.*

Zhou nickte bekräftigend und wollte dann jedoch von ihr wissen: „Das ist wohl für die meisten Toten wahr, ja. Wisst ihr aber, was mit jenen passiert, die zu früh und vollkommen unschuldig aus dem Leben gerissen wurden? Mit den unschuldig getöteten? Wenn nicht, solltet ihr euch eventuell Gedanken darüber machen, weshalb euch die Seelen eines Mädchens, dreier Männer und einer schwangeren Frau Gesellschaft leisten."

[Eragon Fan-Fiction] Der Titan und die DrachenreiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt