Geschwister

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„Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, Lou", sagte Harry leise und griff nach meiner Hand. „Wir können gleich Morgen früh zu deiner Familie fahren, wenn du dich wieder etwas erholt hast. Ich will nicht, dass es dir zu viel wird. Und für heute hast du schon einen großen Schritt getan." Ich schloss meine Augen, denn der besorgte Unterton in Harrys Stimme ließ mich meinen Wunsch einen Moment lang überdenken. 

Dann sah ich wieder nach draußen zu dem Baum, der allmählich in der Dämmerung verschwand. Mit jedem Atemzug den ich tat, wuchs meine Angst davor, meine Geschwister zu sehen. Und doch hatte ich das dringende Bedürfnis, genau das zu tun. „Ich möchte jetzt gehen", flüsterte ich und malte mir schon die Reaktionen meiner Geschwister aus. Die verachtenden Blicke von Daisy und Phoebe. Oder die Enttäuschung in den Gesichtern meiner jüngsten Geschwister. 

„Okay", meinte Harry schließlich und startete das Auto. Seine Hand wanderte gleich wieder zurück zu meiner, dann lotste ich ihn durch die vertrauten Straßen meiner Heimatstadt. Als wir kurze Zeit später vor dem Haus standen, in dem meine Familie wohnte, war ich mir schon nicht mehr so sicher, ob ich bereit war, meiner Familie gegenüberzutreten. Die Angst vor ihrer Reaktion lähmte all meine Glieder, sodass ich minutenlang einfach nur das Haus anstarren konnte.

„Wollen wir?", ertönte Harrys fragende Stimme, die mich sogleich aus meiner Schockstarre riss. Langsam drehte ich meinen Kopf, damit ich ihm in die Augen sehen konnte. Alles in mir sträubte sich dagegen, dennoch nickte ich, während sein Blick mich gefangen hielt. Trotzdem schaffte ich es nicht, mich zu bewegen. Ich spürte nur, wie sich meine Hand um Harrys verkrampfte und ihn nie wieder loslassen wollte. „Du zitterst ja", keuchte Harry und sah mich besorgt an. Ich versuchte erst gar nicht, etwas zu erwidern, da ich mir sicher war, meine Stimme hätte dabei versagt. Stattdessen sprang ich ins kalte Wasser und stieg aus dem Auto aus. 

Harry folgte mir schnell und lief neben mir her zur Haustür, wo ich ohne weiter darüber nachzudenken einfach auf die Klingel drückte. Ich musste mich dem endlich stellen. Ich musste mich endlich dem Hass meiner Familie stellen. Ich musste es von ihnen hören. 

Kalter Schweiß benetzte meine Haut, während ich schweratmend die Tür anstarrte, darauf hoffend, dass sie sich nicht öffnen würde. Doch als ich mich gerade abwenden und Harry dazu auffordern wollte, ein Hotel zu suchen, wurde die Haustüre aufgerissen und mein Stiefvater erschien in meinem Sichtfeld. „Louis", hauchte er, die Augen ungläubig aufgerissen. Ich presste meine Zähne zusammen, unfähig etwas zu sagen. Schmerz breitete sich in mir aus, als ich das Emotionenspiel in Dans Gesicht bemerkte. Doch ehe ich mich versah, war er aus seiner Starre erwacht und hatte mich in seine Arme gezogen. 

Ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Ich wusste nicht einmal, ob mein Körper überhaupt reagiert hätte, hätte ich es gewollt. So konnte ich nur ausharren und Dans Umarmung über mich ergehen lassen. „Endlich", flüsterte er mir ins Ohr, dann presste er mich kurz noch enger an sich, bevor er wie benommen einige Schritte zurücktaumelte. Er machte eine einladende Geste, der ich aber nicht gleich folgen konnte. „Die Mädchen...?", ließ ich den Anfang meiner Frage in der Luft hängen.

„Die Zwillinge sind noch bei Freundinnen und Doris und Ernest sind oben und machen sich bereit, schlafen zu gehen", antwortete er schnell, woraufhin ich es schaffte, auf wackeligen Beinen das Haus zu betreten. „Das ist Harry. Ein Freund", stellte ich ihn meinem Stiefvater vor, obwohl sich diese Formulierung falsch anhörte. Wir hielten Händchen, küssten uns ständig und hatten auch schon Sex. Harry war definitiv mehr als nur ein Freund. „Freut mich, Harry." 

Dan führte Harry und mich in die Küche, wo wir uns an dem großen Esstisch niederließen. Es verstrichen ein paar Minuten in Stille, in denen wir alle unseren eigenen Gedanken nachhingen. Ich wollte so vieles sagen und doch wusste ich nicht, wie ich meine Gedanken in Worte fassen konnte. Schließlich räusperte ich mich und blickte kurz zu Harry, der mich aufmunternd ansah. Mit gekräuselter Stirn rutschte ich ihm unauffällig näher, denn seine Nähe gab mir die Kraft, die folgenden Worte auszusprechen. „Wir waren bei Fizzys Grab." Kaum waren meine Worte verklungen, breitete sich in dem Raum wieder eine Stille aus, die beinahe ohrenbetäubend war. 

Angespannt beobachtete ich, wie Dans Augenbrauen in die Höhe wanderten und sein Mund aufklappte. „Ich bin so stolz auf dich, Louis", erklärte er schließlich mit einem ehrlichen Lächeln im Gesicht. Ich schluckte schwer, denn seine Worte verursachten, dass ich geradezu von Schuldgefühlen erschlagen wurde. Ich hatte es nicht verdient, dass jemand stolz auf mich war. Als hätte Harry meinen inneren Ausbruch gespürt, griff er unter dem Tisch nach meiner Hand und drückte sie leicht. 

„Ich hoffe, du hast auch endlich eingesehen, dass du nicht die Schuld an ihrem Tod trägst", redete er weiter, woraufhin sich jeder Muskel in mir anspannte. Ich ganz allein war Schuld an Fizzys Tod und ich konnte noch immer nicht verstehen, warum Dan mir in unseren gelegentlichen Telefonaten immer das Gegenteil einbläuen wollte. Ich spürte, wie mein Atmung sich beschleunigte und all die Gefühle mein Denken beherrschten, die ich auf dem Friedhof gefühlt hatte.

Bevor ich allerdings von meinen Gefühlen vollkommen überrollt werden konnte, klangen kleine, tapsige Schritte durch den Raum. Automatisch wanderte mein Blick zur Tür, wo Ernest und Doris standen und mich fassungslos ansahen. Schnell sprang ich vom Stuhl auf und schlug meine Hände auf meinen Mund, denn ihre plötzliche Anwesenheit überforderte mich. Ich konnte nicht glauben, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Doch auch wenn die Sehnsucht nach meinen Geschwistern überwog, versuchte ich mich innerlich schon auf ihren Hass und ihre Abscheu mir gegenüber vorzubereiten. 

Doch anders als erwartet, ließen sie mich nicht ihre Abneigung spüren. Stattdessen funkelte in ihren Augen ehrliche Freude, bevor sie plötzlich losrannten und sich in meine Arme schmissen. Glücksgefühle breiteten sich in mir aus und überforderten mich vollends, als ich auf meine Knie hinabsank und meine sechsjährigen Geschwister fest in meine Arme zog. Nie hätte ich erwartet, dass sie mich so empfangen würden. 

Ich spürte, wie mir Tränen aus den Augen quollen, während ich ihren vertrauten Duft einatmet und ihrem freudigen Quasseln lauschte. „Ich sagte dir doch, dass sie dich nicht hassen, Louis", beteuerte Dan. „Sie waren nur enttäuscht, dass du sie schon lange nicht mehr besucht hast. Und Daisy und Phoebe sind vielleicht ein wenig sauer, weil du nicht bei der Beerdigung warst, aber die kriegen sich auch wieder ein."

Ich drückte meine Geschwister noch einmal fest an mich dann blickte ich über meine Schulter zu Harry, der mich aufmerksam musterte und seine Lippen zu einem glücklichen Lächeln verzogen hatte. „Bleibt ihr über Nacht? Ich möchte nicht, dass ihr im Dunkeln zurück nach London fahrt", zog Dan unsere Aufmerksamkeit wieder auf sich. Ich räusperte mich, dann ging ich mit meinen Geschwistern zurück zu Harry. Kaum hatte ich mich auf meinem Stuhl niedergelassen, umfasste Harry meine Hand mit seiner und verschränkte unsere Finger.

Als ich ihm wieder in die Augen sah, nickte er leicht und beantwortete damit meine unausgesprochene Frage. „Wenn es dir keine Umstände macht", antwortete ich meinem Stiefvater, der mir gleich ein erleichtertes Lächeln schenkte. „Soll ich dann das Gästezimmer für Harry herrichten?", fragte er voller Tatendrang. Schnell schüttelte ich meinen Kopf. „Nicht nötig." Ich sah, wie Dan kurz stutzte, bevor er erneut zu einer Frage ausholte. „Soll ich dann ein Gästebett in dein Zimmer stellen, Louis?"

Wieder schüttelte ich meinen Kopf. „Auch das wird nicht nötig sein."

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[1240 Wörter, 03.08.2020]

Louis hat also Dan, Doris und Ernest wiedergetroffen. Wie es wohl mit den anderen Geschwistern ablaufen wird?

Und was sagt Dan wohl dazu, dass Harry und Louis sich ein Bett teilen?

Only The Brave || Larry AUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt