Fahrrad

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Keine zwanzig Minuten später schnallen wir Radtaschen auf die Gepäckträger unserer Fahrräder und schulterten unsere vollbepackten Rucksäcke. Als mein Freund jedoch ein Bein über sein Fahrrad schwang und mich erwartungsvoll ansah, hielt ich überrascht einen Moment inne. „Geht es dir nicht gut, Harry?", erkundigte ich mich, stellte dabei wieder mein Fahrrad ab und näherte mich meinem Freund.

„Ist dir heiß? Hast du Fieber?", hakte ich nach, während ich seine geröteten Wangen begutachtete. „Mir geht's gut, Louis. Ehrlich. Ich bin nur zu warm angezogen, das ist alles", beantwortete er meine Frage und lächelte mich dann schüchtern an. „Wenn es dir aber zu viel wird, gib mir bitte Bescheid. Wir können jederzeit Pause machen", redete ich eindringlich auf ihn ein, dann versuchte auch ich mich an einem zaghaften Lächeln.

Harrys darauffolgendes Nicken reichte mir als Bestätigung, weshalb ich mich ebenfalls in den Sattel schwang und losradelte. Ich gab mir stets Mühe, nicht allzu schnell zu fahren, um Harry nicht zu überlasten und ihm gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, die Gegend zu erkunden. Immer wieder wandte ich meinen Blick von dem hügeligen Gelände zu meinem Freund, der im Moment zwar erschöpft, aber dennoch zufrieden aussah. Da ich ihm jedoch nicht zu viel zumuten wollte, lotste ich ihn schon nach zwanzig Minuten Fahrt zum Rande des Hügels, wo eine ebene Steinplatte den perfekten Platz für ein Picknick bot. Außerdem gewährte diese eine unglaubliche Aussicht über ein nahegelegenes Fischerdörfchen. 

„Wow, es ist traumhaft", meinte Harry, als er sein Fahrrad abstellte. Doch anders als ich es von ihm erwartet hatte, ging er nicht mit ausgestreckten Armen zum Rande der Steinplatte, um den Ausblick zu genießen. Stattdessen vergrub er seine Hände in seinen Hosentaschen und blickte nachdenklich wieder zu mir. Ich runzelte meine Stirn und atmete tief durch, dann versuchte ich nicht zu viel in diese Verhaltensweise hineinzuinterpretieren. Gemeinsam bereiteten wir unser Picknick vor, dann setzten wir uns, in Decken eingekuschelt, auf die Picknickdecke und begannen das von Harry zubereitete Frühstück zu vernaschen. 

Zwischendurch griff Harry immer wieder nach seiner Kamera, um Bilder von der Umgebung zu machen, ansonsten waren wir in eine Stille gehüllt, die unglaublich an meinen Nerven kratzte. „Harry", seufzte ich schließlich, als ich auch den letzten Pfannkuchen verdrückt hatte. Ich sah, wie mein Freund schwer schluckte, bevor er seine Kamera zur Seite legte und ernst meinen Blick erwiderte. „Ich... Louis", erwiderte mein Freund mit krächzender Stimme, als hätte er einen Frosch im Hals. Trotz der Decken wurde mir schlagartig eiskalt und mein Atem stockte immer wieder. „Es tut mir so leid, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich dafür hasse, dich in eine solche Situation gebracht zu haben. Und... und...", brach Harry ab und sah mit flatternden Augenlidern hinauf, wo weiße Streifen aus Wolken den Himmel zierten.

„Wenn du nicht länger mit mir zusammen sein willst, kann ich das verstehen."

Mein Körper erstarrte augenblicklich und mein Kopf versuchte seine Worte zu verstehen. Richtig zu interpretieren. Denn das, was meine Ohren vermeintlich gehört hatten, konnten niemals der Realität entsprechen. „Nein, Harry. Sag so etwas nicht", schrie ich ihm überfordert entgegen, denn genau das war meine größte Angst. Überfordert schob ich die Teller und Dosen auf der Picknickdecke zur Seite, dann legte ich mich erschöpft auf den freigewordenen Platz. Mein Blick war starr auf die Wolken gerichtet, während ich die gesamte Situation zu verarbeiten versuchte.

„Ich hätte nicht so leichtsinnig sein dürfen", murmelte Harry schuldbewusst. Ich schloss für einen Moment meine Augen, dann drehte ich meinen Kopf, um ihn ansehen zu können. „Harry", seufzte ich, dann zögerte ich kurz, während mein Freund sich mir zugewandt neben mich legte. „Ich mag dich, gerade weil du dich für alles begeistern kannst. Du siehst die Welt mit anderen Augen als ich und ich möchte nicht, dass du dich jetzt verstellst, nur weil du Angst um mich hast." Ich nahm einen tiefen Atemzug und sah intensiv in Harrys Augen, deren Grün nicht wie sonst strahlte. Viel mehr schien es, als wären sie mit einer trübenden Schicht überzogen.

„Und ich würde mich niemals von dir trennen wollen, Harry. Du bist das Beste, das mir je passiert ist", erklärte ich ihm leise. Harry bettete seinen Kopf auf seine Hand und sah mich eine Weile lang stumm an. Ich konnte ihn lesen wie ein offenes Buch, doch im Moment wünschte ich, dem wäre nicht so. Die Schuldgefühle, die er zur Schau trug, schienen auf mich überzugehen und sich um mein Herz zu schließen, das augenblicklich unheimlich schwer in meiner Brust pochte. 

„Als du nicht mehr da warst....", flüsterte ich, dann presste ich meine Augenlider zusammen und räusperte mich unangenehm. „Ich hatte Angst, du würdest nie wieder auftauchen. Einen Moment lang hat sich das Bild in mir eingebrannt, wie du... wie ich unfähig bin, dir zu helfen. Wie ich dabei zusehen muss, wie du untergehst. Wärst du gestorben, dann wäre der beste Teil von mir gestorben, Harry."

Eine Gänsehaut breitete sich über meinem Körper aus, als ich an all die Schreckensszenarien dachte. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie abhängig ich von Harry war. Er machte mich zu einem besseren Menschen. Er war der Grund, warum ich jeden Morgen mit einem Lächeln im Gesicht aufwachen und jeden Abend so einschlafen konnte. Er war meine bessere Hälfte. Er machte mich vollkommen. Die Vorstellung, ihn zu verlieren, zermürbte mich seit dem Zeitpunkt, als er im Wasser untergetaucht war.

„Nein, Louis, das stimmt nicht. Du ganz allein bist wundervoll. Und meine Liebe zu dir ist stärker als du dir vorstellen kannst. Deshalb hasse ich mich dafür, dich in eine solche Situation gebracht zu haben", flüsterte Harry, dann verschränkte er ganz langsam zwischen uns unsere Hände. Meinen Blick starr auf die Hände gerichtet schluckte ich schwer, bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte. 

„Ich möchte nicht, dass du Schuldgefühle hast, Harry. Ich hatte keine Angst davor, ins Wasser zu gehen. Ich hatte nur Angst davor, dich zu verlieren. Und jetzt habe ich Angst davor, dass dieser Zwischenfall alles zwischen uns verändern könnte. Ich komme nicht damit klar, zu sehen, wie du an Schuldgefühlen zerbrichst. Und ich komme auch nicht damit klar, dass du plötzlich auf Nummer sicher gehst. Harry, ich liebe dich doch gerade weil du dich selbst im Winter für das Meer begeistern kannst und auch keine Scheu davor hast, durch das kalte Wasser zu waten."

Ich bemerkte, dass Harry schmerzerfüllt seine Augenbrauen zusammenzog, bevor er mir ein gequältes Lächeln schenkte. „Als wir hier her geflogen sind, dachte ich wirklich, unser größte Problem würde sein, dass wir nicht mehr aus dem Bett kommen würden", lachte Harry, bitter und drückte meine Hand dabei etwas fester. „Das klingt eigentlich nach einem ziemlich guten Plan", entgegnete ich und hob einen Mundwinkel zu einem schief Lächeln an. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft auf der Steinplatte konnte ich tief durchatmen und den Sauerstoff förmlich in mich aufsaugen. Auch der Druck auf meinem Herzen schien kleiner zu werden, als ich sah, wie auch Harry sich langsam wieder entspannte.

„Lass uns versuche, stärker als unsere Ängste zu sein", meinte ich und verhakte meinen Blick dabei intensiv mit Harrys. Langsam nickte er, dann hob er seinen Oberkörper an, beugte sich mir entgegen und legte vorsichtig seine Lippen auf meine. Zufrieden schloss ich meine Augen und genoss das Gefühl, das der zärtliche Kuss mit sich brachte. „Also ist unser Urlaub noch nicht vorbei?", wisperte Harry gegen meine Lippen. Lächelnd deutete ich ein Kopfschütteln an, dann drückte ich noch einen kurzen Kuss auf Harrys Mundwinkel.

„Nur die Zweisamkeit ist ab morgen vorbei. Gemma und Michal kommen uns besuchen."

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[1242 Wörter, 01.12.2020]

Meint ihr, Larry kriegt das wieder in den Griff? Was denkt ihr über Harrys Schuldgefühle und Louis' Ängste?

Ich wollte mich noch entschuldigen, dass ihr so lange auf ein Update warten musstet. Ehrlich gesagt, habe ich mich selbst darauf gefreut, wieder Zeit zum Schreiben zu haben und die Geschichte voranzubringen. Ich habe endlich einen Plan, was noch auf uns zukommen wird ;) Eines sei gesagt, diese Geschichte ist noch lange nicht zu Ende:) 

Heute ist der erste Dezember. Habt ihr eigentlich einen Adventskalender? Was war heute drin? Ich habe leider keinen, aber ich durfte ein Kapitel für den von slaylinski schreiben:) *Werbung Ende* Übrigens hat heute in Deutschland und der Schweiz die Erde gebebt. Habt ihr es bemerkt?:)

Only The Brave || Larry AUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt