Blumenstrauß

2.6K 256 32
                                    

Die Kerze war längst erloschen, als Harry und ich uns schließlich dazu entschlossen, den Heimweg anzutreten. Stunden über Stunden hatten wir geredet und uns dabei kennengelernt. Wenn ich vorhin schon fasziniert von diesem Mann war, so wurde nun alles übertroffen. Harry war wirklich einer der Guten, wie Liam es genannt hatte. Meiner Ansicht nach sogar der Beste.

Kaum hatte ich mich von meinem Platz erhoben, wurde ich auch schon in die Arme des Floristen gezogen, der sogleich hungrig seine Lippen auf meine legte. Schnell platzierte ich meine Hände an seinem Hals, stellte mich auf Zehenspitzen und erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Ein genüssliches Seufzen entfuhr mir, als Harry seine Lippen an meinen bewegte und seine Zunge mit meiner spielen ließ. Es fühlte sich an, als würde die Luft in Flammen stehen, während er noch dazu seine Hände auf Wanderschaft schickte und langsam an meinem Körper hinabgleiten ließ. 

„Wollen wir zu Hause weitermachen?", raunte Harry mir ins Ohr, als er seine Hände auf meinem Hintern platzierte und meine Hüfte somit an seine drückte. Ein Keuchen entfloh mir, bevor ich hastig nickte und unsere Lippen erneut zu einem Kuss vereinte. Harry machte aber schnell einen Schritt zurück und eilte mir voraus zum Eingang des Cafés. Mit der Türklinke in der Hand rief er schließlich noch nach Niall, der im Nebenraum darauf wartete, dass unser Date endlich ein Ende fand. „Ich wünsche euch noch viel Spaß, Jungs", lachte der Ire, nachdem er seinen Blick von unseren verschränkten Händen zu unseren zerzausten Haaren wandern lassen hatte. Grinsend murmelten Harry noch eine Abschiedsfloskel, dann traten wir auch schon den Heimweg an.

Als wir wenig später im Bett lagen, gab Harry mir nur noch einen kurzen, unschuldigen Kuss, bevor er mich in seine Arme zog. Auch wenn ich gerne weiter gegangen wäre, war er der Ansicht, dass wir meine Lunge nicht überlasten durften. Noch nicht. Aufgrund dessen verbrachte ich auch den kommenden Morgen damit, stundenlang durch London zu spazieren und meinen Körper langsam wieder an Bewegung zu gewöhnen.

Zur Mittagszeit kehrte ich schließlich zu Harrys Blumenladen zurück. Harry selbst war gerade dabei, alles für seinen Feierabend vorzubereiten, da er samstags nur den halben Tag geöffnet hatte. „Für wen ist der?", erkundigte ich mich, während ich mich neben der Kasse auf die Theke setzte und nach dem Strauß Sonnenblumen griff, der dort lag. Harry hielt sofort inne und sah mich besorgt an. „Für das Grab deiner Schwester", antwortete er leise, als würden die Worte dadurch weniger wehtun. Ich presste meine Lippen zusammen und zog scharf die Luft ein, schließlich hatte ich gehofft, er hätte den Plan, den wir letzte Nacht geschmiedet hatten, längst wieder verworfen.

„Wir gehen also wirklich", stellte ich fest und blickte dabei zurück zu dem Blumenstrauß in meinen Händen. Harry antwortete nichts, sondern stellte sich vor mich und legte seine Hände auf meinen Oberschenkeln ab. „Ich bin bei dir, Louis. Wir gehen da gemeinsam durch", versicherte er mir und griff nach meiner Hand, um mich von der Theke zu ziehen. Als Harry seine Arbeit schließlich beendet hatte und unsere Taschen gepackt waren, gingen wir zurück zu meinem Haus, wo Harry begeistert seinen Blick durch meine Garage wandern ließ. 

„Du interessierst dich für Autos?", erkundigte ich mich neugierig, als ich seine leuchtenden Augen bemerkte. Ich hatte Harry bisher nicht als jemanden eingeschätzt, der etwas für Autos übrig hatte. „Ich bin zwar schwul, aber immer noch ein richtiger Mann", erklärte er mir. Bei der Erinnerung daran, was für ein Mann er war, ließ ich fast schon automatisch meine Zunge über meine trockenen Lippen gleiten. Harrys belustigtes Grinsen holte mich aber sogleich wieder in die Realität zurück. „Magst du fahren?", bot ich ihm schnell an und versuchte mich selbst auf andere Gedanken zu bringen. 

Harry nickte begeistert und stieg sofort in den Wagen. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, während ich ihm folgte und mich auf dem Beifahrersitz niederließ. Harry ließ seine Finger fast schon ehrfürchtig über Lenkrad und Armaturenbrett gleiten, bevor er seinen Blick mir zuwandte. Als ich sein strahlendes Lächeln sah, breiteten sich augenblicklich Glücksgefühle in mir aus. Es war unglaublich, welche Wirkung dieser Mann auf mich hatte.

Drei Stunden lang jagte Harry mein Auto über die Straßen Englands, bevor ich ihn durch meine Heimatstadt navigierte und wir schließlich auf dem Parkplatz des Friedhofs zum Stillstand kamen. Kaum war das Summen des Motors verklungen, waren auch die Glücksgefühle verschwunden, die Harrys Lächeln in mir hervorgerufen hatte. Schuld prasselte auf mich nieder wie ein Platzregen im Sommer. Plötzlich und mit einer solchen Wucht, dass jeder einzelne Regentropfen sich wie ein Messerstich anfühlte. Doch Harry war mein Regenschirm, er beschützte mich vor dem Regen. Als hätte er meinen plötzlichen Stimmungswandel gefühlt, griff er nach meiner Hand und streichelte sanft über meinen Handrücken. 

„Du schaffst das, Louis. Ich bin bei dir", machte er mir Mut. Während unseres Dates hatte ich ihm alles erzählt. Jedes noch so winzige Detail aus meinem Leben, das mich beschäftigte, hatte ich Harry offenbart. Er hatte sich alles geduldig angehört und mir immer wieder aufmunternde Worte zugesprochen. Alleine seine Anwesenheit gab mir die Kraft, mich dem zu stellen, was längst überfällig war. Zweifellos würde dieser Abend einer der schwersten in meinem Leben werden.

Ich stieg aus dem Auto aus und zog mir meine Basecap tief ins Gesicht. Harry schritt zügig neben mir her, während ich das Grab suchte, an dem ich noch nie zuvor gestanden hatte. Mein Stiefvater hatte mir bei einem unserer sporadischen Telefonate erklärt, wo auf dem Friedhof Fizzy begraben war. Doch damals hatte ich nicht wirklich zugehört. Ich hatte geglaubt, dass ich das Grab nie besuchen würde. Ich hatte mich nie stark genug gefühlt, mich dem Tod meiner Schwester zu stellen.

In der leisen Hoffnung, das Grab gar nicht zu finden, lief ich langsam an Harrys Seite die endlos scheinenden Wege des Friedhofs entlang. Jeder Schritt, den ich tat, kostete mehr Überwindung als der vorherige und auch meine Schuldgefühle schienen immer größer und immer mächtiger zu werden. Übelkeit breitete sich in mir aus, bis meine Muskeln schließlich blockierten und mich zum Stehenbleiben zwangen. Ich spürte, wie sich ein leichter Schweißfilm auf meiner Haut ausbreitete, obwohl mir so kalt war, dass sogar meine Knie schlotterten.

„Louis", flüsterte Harry, der sich zu mir umgedreht hatte und mich nun besorgt musterte. Ich schluckte meine aufkommende Panik hinunter und versuchte Harry etwas zu sagen. Irgendetwas, das ihn an meinen Gefühlen teilhaben ließ. Doch ich konnte nicht. Außer einem erstickten Laut kam nichts über meine Lippen.

Wie erstarrt stand ich da, während Harry seinen Blick aufmerksam durch die Umgebung schweifen ließ und anschließend einen Schritt näher trat. Als würde er auf meine Zustimmung warten, verharrte er einen Moment, bis ich ihm ein gequältes Lächeln schenkte. Dann überbrückte er auch den letzten Abstand und zog mich liebevoll an seine Brust. Mit zusammengekniffenen Augenlidern machte ich einen tiefen Atemzug und krallte mich verzweifelt mit beiden Händen an Harrys Oberteil fest. Seinen Duft einatmend spürte ich, wie Tränen aus meinen Augen quollen und meine Wangen benetzten.

----------------------------

[1154 Wörter, 30.07.2020]

Harry hilft Louis, sich seinen Ängsten zu stellen und das Grab seiner Schwester zu besuchen...

Only The Brave || Larry AUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt