Kapitel 4: Zitronenlimonade & Zuckerguss (4)

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Es war längst Mittag, als Dorothea ihren Kopf in mein Zimmer streckte. Sie warf einen schwer zu deutenden Blick auf den schlafenden Felix neben mir und auf mich, rang sich dann aber zu einem aufmunternden Lächeln durch. „Ich habe mit Kim einen Kuchen gebacken. Mögt ihr runterkommen und probieren?"

„Geht schlecht.", murmelte ich als Entschuldigung und deutete auf Felix. „Gibt es Neuigkeiten?"

Ihr Lächeln verrutschte und sie schüttelte den Kopf. „Nein, Lukas. Leider nicht. Ich kann Julian nicht erreichen und er hat sich hier auch noch nicht gemeldet."

„Kannst du im Krankenhaus anrufen?", fragte ich leise und widerstand dem Drang, mich an Felix kleiner Hand festzuhalten.

„Die dürfen mir nichts sagen, Lukas."

„Schweigepflicht, ich weiß.", erwiderte ich und verschränkte meine Arme vor der Brust, um meine nervösen Finger unter meinen Oberarmen einklemmen zu können. „Weißt du, was passiert ist?", fragte ich in der Hoffnung, mir daraus ableiten zu können, wie es schlimmstenfalls aussehen könnte.

Julians Mutter machte ein paar Schritte aufs mich zu, ging vor der Bettkante in die Hocke und streckte ihre Hand aus, um sanft über Felix' Haar zu streichen. „Sie ist vom Pferd gefallen. Mehr weiß ich auch nicht, Lukas. Ich verspreche es dir."

Ich ließ meinen Blick auf der Suche nach Unaufrichtigkeit forschend über ihr Gesicht gleiten und gab auf, als sie mir direkt in die Augen sah. Dorothea Feldmann mochte nicht überschwänglich warmherzig auftreten und zumindest mir gegenüber war sie auch nicht besonders gesprächig, aber sie log mich nicht an. Da war ich mir ziemlich sicher. Sie seufzte, als sie meinen prüfenden Blick auf sich ruhen spürte. „Ich nehme Felix mit nach unten, ja? Wenn du Streuselkuchen essen möchtest, komme einfach. Dann können wir zusammen warten."

Ich nickte stumm und sah, wie sie schon im Begriff war, ihre Hand nach Felix auszustrecken, als sie für einen kurzen Augenblick fast belustigt wirkte und innehielt. „Kim hat sich übrigens beruhigt. Falls das deinem Appetit hilft."


Ich probierte gerade skeptisch einen Schluck Kaffee, Kim suchte die letzten Kuchenkrümel auf ihrem Teller zusammen und Felix' wischte seine schokoladigen Finger an der weißen Tischdecke ab, als das Festnetztelefon klingelte. Mir wäre vor Schreck fast der Kaffeebecher durch die Finger gerutscht und Kim hielt in ihrer Bewegung inne, als ihre Großmutter das Telefon abnahm. Einige quälende Augenblicke sagte sie nichts, bevor sie sichtlich erleichtert durchatmete und „Na immerhin" und „zum Glück" murmelte. Doch ein gebrochener Fuß? Ich brauchte nur Dorotheas Gesicht aufmerksam zu betrachten, um zu erkennen, dass es ganz so einfach dann doch nicht sein würde. Nach der anfänglichen Erleichterung lauschte sie stumm und mit zusammengezogenen Augenbrauen und nickte ab und zu, während Kim ungeduldig auf ihrem Stuhl hin- und her rutschte.

„Ich gebe dir mal die Kinder, ja?", sagte Dorothea nach einer Weile, wisperte uns ein „alles ist gut" zu und reichte mir das Telefon an Kims auffordernd ausgestreckter Hand vorbei.

Überrascht griff ich danach und fragte ein angespanntes „Ja?" in den Hörer.

„Hey Lukas." Julian seufzte, als er meine Stimme hörte. „Alles gut, ja? Sina schläft gerade, aber vielleicht ruft sie später noch an. Sie hat sich ihr Schlüsselbein gebrochen, das ist schmerzhaft, aber nicht wild. Das wird wieder."

„Ist das alles?", fragte ich ungläubig, weil ich mir kaum vorstellen konnte, dass die Auswertung eines Röntgenbilds Stunden in Anspruch genommen hatte.

„Ja...", sagte er gedehnt und die Lüge war so offensichtlich, dass ich keine Sekunde brauchte, um sie zu bemerken.

„Nein, oder?", hakte ich nach und wusste nicht, worauf ich mich vorbereiten sollte.

„Doch, Lukas. Sie muss nicht unters Messer, sie kann laut fluchen und sie kann alles bewegen- auch wenn es wehtut. Macht euch keine Sorgen." Er erzählte mir nicht alles, das hörte ich heraus, aber gleichzeitig fragte ich mich, was er verheimlichen könnte und wie bedeutend das für mich war.

„Es wird wieder?", fragte ich unsicher nach und Julian versicherte mir, dass Sina bestimmt schon in ein paar Tagen wieder zuhause wäre.

Mit gemischten Gefühlen reichte ich das Telefon an Kim weiter, die so lange ins Telefon wütete und Julian bedrängte, bis er ernsthaft Sina weckte und die mit Kim sprach. „Was ist ein Schlüsselbein?", fragte Kim zwischendurch und schob direkt die Frage hinterher, ob das denn nun hieße, dass Sina nicht zur WM fahren konnte. An diese Frage hatte ich keinen Gedanken verschwendet. „Mama?!", fragte Kim nach einem Moment des Schweigens und wartete offensichtlich ungeduldig auf eine Antwort. „Wie blöd.", sagte sie nach einer weiteren kurzen Pause. Sie brauchte ein paar Augenblicke, dann fiel ihr immerhin ein tröstender Kommentar ein. „Nächstes Mal wieder, Mama. Dann hast du noch vier Jahre mehr Zeit, um zu üben."

Ich lachte trocken, weil ich an Sinas Stelle Kim für diesen Kommentar garantiert hätte schütteln mögen. Wobei- vielleicht war Schütteln mit gebrochenem Schlüsselbein nicht das Mittel der Wahl. Während Kim das Telefon an Felix weiterreichte, der mit ungläubig geweiteten Augen den Telefonhörer festhielt und stumm zuhörte, nahm ich noch ein Stück Kuchen, der sich vor dem Anruf ziemlich trocken angefühlt hatte in meinem Mund. Jetzt, überzogen mit dem Zuckerguss der Erleichterung, schmeckte er so viel besser.



Nachts wurde ich davon wach, dass es an meiner Tür seltsam rumpelte und kratzte. Was war das? Erschrocken richtete ich mich auf und starrte auf die geschlossene Holztür, deren Klinke sich immer wieder etwas bewegte, aber nie komplett heruntergedrückt wurde. Dann wieder ein Rumpeln. Wer auch immer gerade versuchte, meine Tür aufzumachen, war darin ziemlich schlecht und immerhin kein Einbrecher. Müde und mit schweren Beinen stand ich auf, lauschte noch einmal und vernahm dieses Mal deutlich und unverkennbar ein frustriertes Wimmern. Felix. Ich gab meine Lauerstellung auf, drückte die Türklinke herunter und machte die Tür langsam auf, damit Felix, der sich gegen das Holz stemmte, nicht gleich umfiel.

„Was machst du da, Zwerg?", flüsterte ich, als er unkoordiniert in seinem Schlafanzug in mein Zimmer stolperte. Statt zu antworten schlang er seine Arme um mein Bein und hielt meinen Oberschenkel fest.

„Felix?", flüsterte ich, warf einen Blick auf den leeren, dunklen Flur und versuchte in die Hocke zu gehen, ohne ihn umzuwerfen. „Was ist?"

Er brauchte eine Weile, bis er herausbrachte, dass er bei mir schlafen wollte. Nicht bei Kim, weil die gemein war und ich sah ziemlich hilflos auf den Zwerg herunter. Julian war noch nicht zurück, sonst hätte ich ihn bei dem abgeladen. Als er meinen zweifelnden Blick auffing, schniefte Felix leise und ich knickte ein. Oh fein. Kim war wirklich ein Biest. An seiner Stelle hätte ich auch nicht bei ihr schlafen wollen.

„Ausnahmsweise.", murmelte ich, hob den Zwerg auf mein Bett, überließ ihm meine Bettdecke und nahm mir eine der alten Wolldecken aus dem Schrank. „Du schläfst an der Wand und wenn du schnarchst, klemme ich dir mit einer Wäscheklammer die Nase zu." Und wehe, er würde auf mein Kopfkissen sabbern. Ich brachte es in Sicherheit, bevor ich mich an den äußersten Rand von meinem Bett legte und mich sicherheitshalber davon überzeugte, dass ich mir beim Rausfallen wohl nichts brechen würde. „Schlaf gut.", sagte ich leise und Felix streckte als Reaktion im Dunkeln seine Hand nach meinem Gesicht aus.

„Habe dich lieb, Lukas.", sagte er und stach mir zielsicher mit dem kleinen Finger ins Auge.

Ich unterdrückte ein schmerzhaftes Aufstöhnen und presste meine Augen fester zu. „Danke auch. Bis morgen."

In dem Moment raffte ich es nicht. Ich war zu müde, mein Auge brannte und mein Kopf drehte sich noch immer um die Frage, ob der Unfall wirklich so harmlos ausgegangen war, wie Julian uns hatte glauben lassen wollen. Trotzdem hatte der Zwerg mich in dem Moment zu seinem Bruder gemacht. Zumindest er und ich waren Familie von da an. Das war einfach so und daran sollte sich auch nie wieder etwas ändern.


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Ihr seht, der Zwerg war nicht ganz unwichtig für Lukas ;)

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